Das siebenundsiebzigste Kapitel
in dem der Sebi Überraschungen erlebt
A
ve Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus.
Der Geni ist nicht tot. Es geht ihm nicht gut, aber er ist am Leben. Der Poli meint, dafür müsse ich ihm dankbar sein, aber ich bin ihm nicht dankbar, sondern wenn ich könnte, würde ich ihn mit blutten Knien auf einem Haufen Dornen knien lassen oder ihm sonst eine Buße auferlegen. Das Allerschlimmste hat er zwar verhindert, aber alles andere hat er zugelassen und ist auch noch stolz darauf. Er hält sich für einen großen Kommandierer, und dabei wird er nur benutzt, wie man einen abgerichteten Jagdhund auf einen Hasen hetzt, wenn er ihn erwischt, bekommt er den Kopf getätschelt oder wird hinter den Ohren gekrault, aber den Hasenbraten frisst der Jäger, und der Hund kann froh sein, wenn er einen abgenagten Knochen davon abbekommt.
Wenn es nach dem Poli gegangen wäre, würde ich den Geni immer noch suchen, und in ein paar Tagen würde er mir dann gnädig verraten, sein Bruder sei die ganze Zeit bei ihm gewesen. Dass ich aus Sorge fast gestorben bin, ist ihm egal; ich glaube, er hat nicht einmal darüber nachgedacht,
so wie er in einer Prügelei nicht darüber nachdenkt, ob er dem anderen alle Knochen bricht oder ihm ein Auge ausschlägt, und wenn es ihm hinterher leidtut, hat keiner etwas davon. Ich werde ihm nie verzeihen können, nie, nie, nie, was er dem Geni angetan hat, seinem eigenen Bruder, der sich noch nicht einmal hat wehren können. Wenn unsere Mutter vom Himmel aus gesehen hat, was passiert ist, dann weint sie jetzt bestimmt.
Aber der Geni ist am Leben. Alles andere ist nicht wichtig.
Überall hatte ich nach ihm gesucht, in jeder Ecke, wo er hätte hingekrochen sein können, bin ich gewesen, aber nirgends habe ich eine Spur von ihm gefunden. In meiner Verzweiflung habe ich ein zweites Mal beim Eichenberger angeklopft, und diesmal hat mir der große Balz die Türe aufgemacht. Er geht nie mit den anderen Knechten auf den Markt, er will nichts kramen, das weiß man im Dorf, nicht einmal an Martini, wenn er den Lohn für das ganze Jahr bekommen hat. Man sagt, er spare jeden Batzen, um später einmal einen eigenen Haushalt zu gründen, aber alle sind sich einig, dass das ein hoffnungsloser Traum von ihm ist, weil er trotz all seinen Muskeln nie eine Frau finden wird, die ihn heiratet, Geld hin oder her, dazu müsste er auch etwas im Kopf haben und nicht nur im Beutel.
Er war die ganze Zeit zu Hause gewesen und hatte mich nur nicht gehört, weil er den Stall ausgemistet hatte. Bei der Suche nach dem Poli konnte er mir nicht helfen oder hat das doch behauptet, es war aber nicht die Wahrheit. Er wisse nicht, wo mein Bruder sei, hat er gesagt, der wohne ja nicht die ganze Zeit bei ihnen, sondern schlafe oft jede Nacht an
einem anderen Ort wie ein Zingari. Und jetzt müsse ich ihn entschuldigen, man habe ihm noch eine Menge Arbeit aufgetragen, die müsse fertig sein, wenn die anderen vom Markt zurückkämen. Während er das gesagt hat, hat er die ganze Zeit so verlegen an mir vorbeigeschaut, dass ich sicher war: Er hätte mir schon Auskunft geben können, aber man hatte es ihm verboten. Es stimmt halt schon, was der Halbbart einmal gemeint hat: Der Balz könnte, wenn er wollte, eine Kuh hochheben, aber stark ist er trotzdem nicht, weil er machen muss, was man ihm befiehlt, und bei jedem Fehler bekommt er eine Strafe, das war schon beim alten Eichenberger so und wird beim jungen nicht anders sein. Dabei ist er ein freundlicher Mensch und hätte mir bestimmt gern geholfen, aber er hat solche Angst, etwas falsch zu machen, dass ihm das wichtiger war als alles andere. Nicht einmal, als ich ihm erzählt habe, dass der Geni verschwunden ist und dass man ihm sein Bein weggenommen hat, hat er mir etwas verraten wollen, sondern hat nur immer wiederholt, ich müsse halt auf den Eichenberger warten, nur der könne mir Auskunft geben. Der Eichenberger ist aber nicht aus Ägeri zurückgekommen.
Ich war so lang unterwegs gewesen, dass es schon dunkel war, als ich wieder zum Hungerhof hinaufgegangen bin. Gegen Abend waren Wolken aufgezogen, und die Nacht war so schwarz, dass man meinen konnte, rings um einen herum sei die Welt verschwunden, der Herrgott habe endgültig genug von ihr gehabt und sie einfach abgeschafft, wie auch immer, ich habe den Weg fast nicht gefunden. Es gab nichts mehr, was ich an diesem Tag noch hätte für den Geni tun können, also habe ich versucht zu schlafen, es ist mir
aber nicht wirklich gelungen, weil er mir in meinen Träumen immer wieder vorgekommen ist, manchmal mit zwei Beinen und manchmal mit nur einem, und jedes Mal hat er mich angefleht, ich müsse ihm helfen und ihn retten. Auch noch im Traum habe ich nach ihm gesucht, an lauter Orten, die es gar nicht gibt, einmal in einem Wald, wo man an den Bäumen nicht vorbeigehen konnte, sondern sie haben sich bewegt und einem immer neu den Weg versperrt, und einmal in einer Kirche, wo die Heiligenbilder mich ausgelacht haben, wenn ich in die falsche Richtung gegangen bin; es gab aber keine richtige Richtung.
Sobald es hell geworden ist, bin ich wieder hinunter ins Dorf. Unterdessen waren fast alle vom Markt zurück, es hatte nur keiner etwas Nützliches gehört oder gesehen, und der Geni war immer noch verschwunden. Ich habe nicht nach einem vernünftigen Plan nach ihm gesucht, sondern bin hin und her gerannt wie ein blindes Huhn. Wenn man Angst hat, jagen einem immer wieder dieselben Gedanken durch den Kopf, und man meint jedes Mal, man finde diesmal dort eine Antwort, wo schon dreimal keine gewesen war. Der Poli ist die ganze Zeit nicht aufgetaucht, und auch der Eichenberger und die anderen aus dem Fähnlein sind nicht zurückgekommen, dabei war schon Mittag, und es war gar nicht möglich, dass sie so lang in Ägeri geblieben waren. Wieder und wieder habe ich den großen Balz nach ihnen gefragt, habe ihm sogar meinen Denarius angeboten, wenn er mir nur endlich Auskunft gebe. Er hat immer weiter behauptet, er wisse nichts und könne mir nicht helfen, man hat aber deutlich gemerkt, dass ihm die Ausreden immer schwerer gefallen sind. Irgendwann ist in mir drin
etwas gerissen, ich kann es nicht besser erklären, aus lauter Verzweiflung habe ich rotgesehen wie der Poli und bin auf den Balz losgegangen. Er war so überrascht, dass er sich überhaupt nicht gewehrt hat; ich habe auf ihn eingeprügelt, und er hat es geschehen lassen, als ob das auch etwas wäre, das der Eichenberger ihm befohlen hatte. Schließlich hat er mich dann doch weggeschoben, ganz vorsichtig; wegen seiner überschüssigen Kraft hat er sich angewöhnt, andere Menschen nie allzu fest anzufassen, damit er sie nicht kaputtmacht. »Ich darf nicht«, hat er gesagt. »Ich darf nicht, ich darf nicht, ich darf nicht.«
»Und wenn ich dem Eichenberger erzähle, dass ich es nicht von dir gehört habe, sondern von jemand anderem?«
Man hat richtig sehen können, wie sich diese Idee ganz langsam durch seinen Kopf bewegt hat, ich stelle mir vor, dass ihm die Muskeln auch dort hineingewachsen sind, und deshalb ist für den Verstand zu wenig Platz geblieben.
»Von wem erfahren?«, hat er schließlich gefragt.
Ich fand diese Frage so blöd, dass ich gesagt habe: »Vom Heiligen Geist!« Das war natürlich die falscheste Antwort, die ich geben konnte, aber wie sich dann gezeigt hat, war es gleichzeitig genau die richtige, denn der große Balz ist nicht etwa wütend geworden, sondern hat überlegt und dann genickt und gesagt: »Das ist gut. Dem Heiligen Geist kann er nichts machen.« So habe ich endlich erfahren, wo der Poli und alle anderen hingegangen sind. Der große Balz hat es geflüstert und sich dabei ängstlich umgesehen, als könne der Eichenberger jeden Moment um die Ecke kommen. »Sie treffen sich in Hauptsee«, hat er gesagt.
Hauptsee kenne ich gut, oder doch so gut, dass ich weiß,
dass es dort eigentlich nichts zu kennen gibt, außer einem einzigen zerfallenen Haus direkt am See. Die Leute, die einmal darin gewohnt haben, sind krank geworden und gestorben, das kommt von der giftigen Luft, sagt man, weil dort das Ufer so sumpfig ist. Für mehr als ein Haus wäre gar kein Platz, sogar der Weg wird dort schmaler, und dahinter fängt schon der Hang vom Morgartenberg an. Erst gestern bin ich dort vorbeigekommen, sogar zweimal, das erste Mal, als ich nach Ägeri gegangen bin, und dann wieder auf dem Heimweg. Ich konnte mir nicht vorstellen, für was man sich ausgerechnet in Hauptsee verabreden sollte, aber natürlich bin ich sofort los, das Rennen ist mir nicht schwergefallen, weil es dorthin fast immer bergab geht. Außerdem hatte ich wieder ein bisschen Hoffnung, und das hat mir zusätzliche Kraft gegeben. Wenn der Poli hört, was passiert ist, habe ich gedacht, dann hilft er mir, und gemeinsam finden wir den Geni.
In Hauptsee war niemand, »leer wie ein Glatzenkopf« hat unsere Mutter das genannt, und auf mein Rufen hat niemand geantwortet. Mein erster Gedanke war: Der große Balz hat mich angelogen oder eher, er hat etwas falsch verstanden, denn um sich eine Lüge auszudenken, ist er nicht gescheit genug. Ich wollte schon wieder umkehren, aber dann habe ich oben am Abhang Geräusche gehört. Zuerst habe ich gedacht, dass es Holzfäller sein könnten, vielleicht ist dort oben auch ein Klosterwald, habe ich überlegt, und sie haben heute Frondienst. Dann ist mir aber eingefallen, was der Züger einmal gesagt hat, dass man an einem Abhang nie Bäume fällt, erstens, weil es gefährlich ist, zweitens, weil sie dort krumm wachsen und man kann sie für
nichts brauchen, und drittens, weil sie einen vor Lawinen schützen. Vielleicht gibt es weiter oben eine Lichtung, die man vom Weg aus nicht sehen kann, habe ich überlegt, und der Poli trifft sich dort mit seinen Leuten. Für ihre Chriegerlis-Spiele suchen sie gern versteckte Orte; alle Sachen werden wichtiger, wenn es ein Geheimnis dabeihat. Es hat ausgesehen, als ob es keine Möglichkeit gebe, den Hang hinaufzukommen, der Fels ist ein Stück weit fast senkrecht, aber dann habe ich doch noch einen schmalen Pfad entdeckt, der in den Wald hinein nach oben führte. Man musste kein erfahrener Jäger sein, um an den Spuren zu merken, dass ich nicht der Erste war, der in der letzten Zeit diesen Weg genommen hatte. Er hat sich steil den Hang hinaufgeschlängelt und ist immer schmaler geworden. Ich war froh, dass die Brennnesseln schon von anderen Leuten niedergetrampelt waren, meine blutten Waden würden sonst ganz schön gebrannt haben.
Plötzlich ist ein junger Mann mit einer gespannten Armbrust hinter einem Baum hervorgekommen, hat die Waffe auf mich gerichtet und gesagt: »Halt! Keinen Schritt weiter!« Man sagt, dass einem von einem Schreck die Luft wegbleiben kann, und genau so ist es bei mir gewesen, es ist mir vorgekommen, als ob mir jemand den Hals abdrückte. Der Mann ist mir bekannt vorgekommen, aber ich hätte nicht sagen können, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Erst hinterher ist mir eingefallen, woher ich ihn kannte: Er war auch bei dem Überfall auf das Kloster dabei. Ich habe ihm erklären wollen, dass ich nur auf der Suche nach dem Poli sei, aber er hat mir befohlen, das Maul zu halten und die Arme zu heben. Dabei hat er die ganze Zeit weiter auf
mich gezielt. Ein zweiter Mann ist zwischen den Bäumen hervorgekommen und hat mir das Messer aus dem Gürtel gezogen; erst dann durfte ich etwas sagen.
Als die Männer gehört haben, dass ich dem Poli sein Bruder bin, hat der mit der Armbrust gesagt: »Schon wieder einer!«, und sie haben beide gelacht, als wäre das ein besonders guter Witz. Es wollte mir aber keiner erklären, was sie daran so lustig fanden. Der erste Mann ist dann wieder im Wald verschwunden, er war wohl als Wache eingeteilt und durfte seinen Posten nicht verlassen. Der andere hat mich vor sich her den Pfad entlang geschoben, eine eigene Waffe hat er nicht gehabt, aber mein Messer in der Hand.
In meinem Kopf haben sich die Gedanken gedreht, weil das alles so überraschend gekommen war, aber was hinterher kam, war noch viel überraschender.