Das zweiundachtzigste Kapitel
in dem viele Menschen sterben
Wenn das Anneli vom Teufel erzählt, hören ihre Geschichten fast immer so auf: Es ist ihm wieder einmal gelungen, einen Menschen ins Unglück zu stürzen, er lacht, wie nur der Teufel lachen kann, und damit ist auch schon alles zu Ende erzählt. Das Anneli hängt zwar noch schnell einen Schluss an: »Die große Fledermaus packte den Mann mit ihren Krallen« oder »Der Boden öffnete sich, und er stürzte direkt in die Hölle«, aber dabei hört sie sich selber schon gar nicht mehr richtig zu, sondern will eigentlich nur noch wissen, was es als Nächstes zu essen gibt. Wie es dem Menschen geht, der auf den Teufel hereingefallen ist, das erzählt sie nicht. Ich könnte es ihr sagen, ich habe es heute erlebt. Es reißt einem das Herz aus der Brust.
Der Onkel Alisi, das hatte ich so wenig gemerkt wie der Geni, hat dem Herzog nie nur einfach den Weg versperren wollen, von Anfang an hat er etwas anderes vorgehabt, etwas viel Schlimmeres, und wenn er ein ganzer Teufel wäre und nicht nur ein halber, wäre sein Plan auch aufgegangen. Ein ganzer Teufel hätte der eigenen Eitelkeit nicht nachgegeben und dem Herzog damit das Leben gerettet, aber so ist es gewesen. Es war dem Alisi sein »Hoppla«, das den Unterschied ausgemacht hat, dieser kurze Augenblick des Triumphs, den er sich vor seinem »Assalto!« gegönnt hat. Wenn er den gleichen Befehl sofort nach dem Signal vom Poli gegeben hätte, in dem exakten Moment, dann hätte die Lawine, die er vorbereitet hatte, auch den Herzog getroffen, und der wäre jetzt tot wie alle anderen. Aber der Alisi hat einen Moment lang gezögert, gerade so lang, wie man braucht, um ein Auge zuzukneifen und den Geni höhnisch anzugrinsen, und dieser eine Moment hat gereicht, um alles zu verändern. Als der Angriff begonnen hat, waren der Herzog und seine beiden Vorreiter schon an der engen Stelle vorbei, und die Bäume und die Felsen sind hinter ihnen niedergegangen. Sein Schimmel hat sich vor Schreck aufgebäumt, hat man mir erzählt, aber der Herzog ist ein guter Reiter und ist im Sattel geblieben. Nur einen Moment lang hat er sich nach seinen Leuten umgesehen, dann hat er einen Befehl gegeben, und die drei sind im Galopp weggeritten. Der Alisi sagt, diese Flucht sei typisch habsburgische Feigheit gewesen, aber ich bin froh, dass wenigstens die drei überlebt haben, es sind auch so genügend Menschen erschlagen worden.
Die anderen Leute im Trupp hatten nicht so viel Glück. Als es über ihnen zu donnern anfing, werden sie geglaubt haben, sie seien in ein Erdbeben oder in einen Bergsturz geraten, wenn sie überhaupt noch Zeit hatten, über irgendetwas nachzudenken; viele werden schon im ersten Moment erschlagen worden sein. Die anderen, mit gebrochenen Knochen oder unter ihren umgerissenen Pferden eingeklemmt, haben Leute gesehen, die auf sie zu gerannt sind, und sie werden gedacht haben, da komme ihnen jemand zu Hilfe. Es waren aber keine guten Samariter, sondern die Kameraden vom Onkel Alisi. Auch in diesem Punkt hatte er nicht gelogen, sie waren tatsächlich gekommen, nur nicht zu den anderen oben auf der Lichtung. Sie hatten sich im Wald versteckt und in dem zerfallenen Haus und sind nicht zum Helfen gekommen, sondern zum Töten. Die wenigen Habsburgischen, die noch im Sattel saßen, haben sie mit ihren Halbbarten von den Pferden gerissen, den Verwundeten haben sie ihre Spieße in den Bauch gestoßen, und wenn einer immer noch gewimmert hat, haben sie ihm mit ihren Streitkolben den Schädel eingeschlagen, auch denen, die doch eigentlich ihre Freunde waren und ihnen den Plan verraten hatten. Als der Onkel Alisi bei ihnen angekommen ist, lebte aus dem Trupp kein Einziger mehr, und er soll sich laut darüber beschwert haben; auf das Totschlagen hatte er sich wohl noch mehr gefreut als auf alles andere. Dafür hat er dann beim Plündern umso eifriger mitgemacht.
Wenn es steil nach unten geht, kommt der Geni mit seinem falschen Bein nicht gut voran, und so haben wir für den Weg länger gebraucht als alle anderen. Es hätte aber auch nichts geändert, wenn wir hätten rennen können oder fliegen; was nicht hätte geschehen dürfen, war geschehen, und Tote wieder zum Leben erwecken, das können nur die heiligsten Heiligen. »Ich habe versagt«, hat der Geni ständig wiederholt, obwohl das, was passiert war, ja wirklich nicht seine Schuld war, sondern die vom Onkel Alisi. Ich habe es ihm nicht ausreden können.
Bei wirklich schlimmen Sachen dauert es immer eine Weile, bis sie in einem drin sind, es ist, als ob das Erlebte immer lauter an die Türe klopfen würde, und man will es nicht hereinlassen. Es ist aber stärker als jede Türe, irgendwann kann man es nicht mehr aussperren, und dann trifft einen der Schreck umso stärker. »Er fiel seinem Bruder um den Hals und weinte«, hat der Herr Kaplan einmal vorgelesen, aber das ist erst später gekommen. Zuerst habe ich ganz lang nicht weinen können, obwohl es doch wirklich zum Weinen war. Ich habe heute Dinge gesehen, die dürf‌te es überhaupt nicht geben.
Dass wir viele Tote antreffen würden, darauf war ich vorbereitet. Tote können mir nicht viel ausmachen, habe ich gedacht, schließlich habe ich lang genug für den alten Laurenz gearbeitet. Was mir nicht in den Sinn gekommen war und was mich getroffen hat wie ein Tritt in den Bauch, war, dass sie fast alle nackt waren. Eine nackte Leiche, ich kann nicht erklären, warum mir das so erscheint, ist viel toter als eine bekleidete. Nicht nur ich scheine das so zu empfinden, sondern es scheint allen Menschen so zu gehen, sonst würde man Verstorbene für ihre Beerdigung nicht in Tücher wickeln oder sogar teure Särge für sie schreinern lassen. Hier hat niemand an so etwas gedacht. Altgediente Krieger, hat der Onkel Alisi einmal gesagt, machen keine halben Sachen; sie tun es auch nicht, weiß ich jetzt, wenn sie eine Leiche ausrauben. Dass sie es auf wertvolle Kleider oder auf Schuhe abgesehen hatten, könnte man noch verstehen, aber sie haben auch dem einfachsten Soldaten den letzten Fetzen vom Leib gerissen, man kann ja nie wissen, ob sich darunter nicht ein Beutel mit seinem letzten Sold verbirgt. Und die Kleider waren nicht alles, was sie ihren Opfern weggenommen haben. Das war noch lang nicht alles. Im Tod sind alle Menschen gleich, sagt man, aber das stimmt nicht, auch da gibt es noch Unterschiede, das habe ich heute gelernt. Ich habe gelernt, dass man an den Leichen sehen konnte, wer im Leben reich gewesen war und wer arm. Wenn einem ein Finger abgehackt war oder mehrere, dann hat man gewusst: Der hat einmal goldene Ringe getragen, und die Plünderer haben sich nicht die Zeit genommen, sie ihm von der Hand zu ziehen.
Ich habe versucht, für alle ein Totengebet zu sprechen, prof‌iciscere anima christiana de hoc mundo, aber es war, als ob mir jemand den Mund zuhalten würde, und die Worte wollten nicht aus mir herauskommen. Wenn der Himmel solche Sachen zulässt, zu wem soll man dann noch beten? Ich habe Dinge gesehen, wenn man die auf ein Bild malen wollte, die Menschen würden sich davor bekreuzigen.
So ist unter einem Pferd, das im Fallen seinen Reiter erdrückt hatte, ein Arm mit einem Lederhandschuh herausgeragt, nach oben gestreckt, als ob er sich immer noch wehren wollte, obwohl doch längst alles verloren war. Auf dem Handschuh saß der Falke und hat den Kopf hin und her gedreht. Ich habe ihm dann die Haube über seinen Augen weggenommen, und der Vogel ist weggeflogen. So lang ich konnte, habe ich ihm nachgesehen. Er ist ein paar Mal über uns gekreist, dann hat er sich vom Wind wegtragen lassen. Die kleine Haube habe ich eingesteckt, damit sie mich mein Leben lang an das erinnert, was ich heute gesehen habe. Obwohl ich es auch so nicht vergessen werde.
Zum zweiten Mal in meinem Leben ist es mir so ergangen wie damals in der Klosterkirche von Einsiedeln: Immer, wenn ich gedacht habe, das ist jetzt das Schlimmste, ist etwas noch Schlimmeres gekommen. So meine ich, den Soldaten gesehen zu haben, der mir damals die Flöte geschenkt hat, ich konnte aber nicht sicher sein, weil sein Gesicht voller Blut war. Ich konnte auch mein Versprechen nicht halten und ihm etwas vorspielen.
Das Allerschlimmste war dieses:
Einem Toten, er lag auf der Seite, war der Schädel eingeschlagen, so dass man das Gesicht nicht erkennen konnte. Trotzdem ist er mir bekannt vorgekommen, und ich habe den Körper vorsichtig umgedreht. Die andere Hälfte war von oben bis unten mit schwarzen Narben bedeckt; als ich das gesehen habe, sind mir endlich die Tränen gekommen. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Halbbart unter die Opfer geraten war, aber der Poli hat es mir später erklärt. Er hat alles, was passiert ist, aus der Nähe gesehen, weil sein Platz oben in einem Baum war, damit er den Zug von weitem sehen und das Signal geben konnte. Der Halbbart, hat er gesagt, habe nicht lang genug gewartet, sondern sei, sobald er den Käuzchenschrei gehört habe, hinter einem Gebüsch aufgetaucht, noch vor allen anderen. Mit geschwungener Halbbarte sei er losgerannt und in seiner Ungeduld zu früh bei dem Reitertrupp angekommen, genau in dem Augenblick, als die Lawine über die Kante stürzte, und so habe ihm ein Baumstamm den Kopf zerschmettert.
Dass einer aus Ungeduld zu früh loslaufe, könne er verstehen, hat der Poli gesagt, aber beim Halbbart müsse es noch etwas anderes gewesen sei, ihm, dem Poli, sei es vorgekommen, er müsse endgültig den Verstand verloren haben, kurlig sei er ja schon immer gewesen. Beim Rennen habe der Halbbart nämlich immer wieder ein Wort gerufen, das überhaupt keinen Sinn ergeben habe, ganz genau habe man es in dem Lärm nicht verstehen können, aber es habe geklungen, als ob er nach einem Bäcker gerufen habe, immer wieder »Bäcker! Bäcker!«. Ob ich eine Erklärung dafür wisse, ich habe den Halbbart doch gut gekannt.
Ich habe es dem Poli nicht gesagt, aber ich bin sicher, was der Halbbart gerufen hat, war etwas anderes. »Rebekka! Rebekka!«, hat er gerufen.
Der Halbbart ist mein Freund gewesen, auch wenn er sich vorgenommen hatte, nie mehr einen Freund zu haben, weil man sie ja doch nur wieder verliert. Ich hätte ihn gern begraben und hätte mir dabei mehr Mühe gegeben als bei jedem anderen Grab, schnurgerade Ränder und eine Einfassung aus Steinen, es lagen weiß Gott genügend da. Aber ich durf‌te ihm diesen letzten Dienst nicht erweisen, weil der Alisi befohlen hat, alle Leichen müssten im Sumpf am Seeufer versenkt werden. Als er den Befehl gegeben hat, hat er schon wieder gegrinst und hat noch dazu gesagt, wir seien schließlich ordentliche Menschen, und es solle uns niemand vorwerfen können, wir hätten harmlosen Reisenden den Weg mit Leichen versperrt. Die jungen Leute aus dem Lager haben gelacht, als ob noch nie jemand in der Geschichte der Welt etwas Lustigeres gesagt hätte, und es schien sie auch gar nicht zu stören, dass sie die Arbeit allein machen mussten, während von den alten Soldaten keiner eine Hand gerührt hat, die waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Beute aufzuteilen. So haben sie dann, immer zu zweit, die Toten an Händen und Füßen gefasst und zum See getragen. Gesungen haben sie dabei, das fand ich fast das Schrecklichste an diesem schrecklichen Tag, ein Lied, das man sonst nur singt, wenn ein zu schwerer Wagen im Schlamm feststeckt, und man muss sich gemeinsam anstrengen, um ihn wieder ins Rollen zu bringen. »Eis und zwei und drei und los« , haben sie gesungen, haben die toten Körper geschwungen und sie auf »Los!« in den Sumpf plumpsen lassen, wo sie dann langsam versunken sind.
Ertrunken sind.
Die toten Pferde konnte man nicht einfach wegtragen oder wegschieben, man musste sie zuerst in Stücke hacken. Das war die einzige Arbeit, an der sich der Alisi beteiligt hat; man hat gemerkt, dass es ihm richtig Freude gemacht hat, mit seiner Halbbarte immer wieder in die Körper zu hauen. Hinterher war er von oben bis unten mit Blut bespritzt. Vielleicht war das für ihn ein Ersatz dafür, dass er zum Totschlagen zu spät gekommen war.
Es hat dann angefangen zu schneien, aber obwohl doch schon November ist, war es noch nicht kalt genug, und aus dem Schnee ist bald Regen geworden. Es ist mir vorgekommen, als ob der Alisi auch das eingeplant hätte, um den Weg wieder sauberzuwaschen. Wer hier vorbeikommt, wird von dem Geschehenen kaum mehr etwas merken, außer dass er sich vielleicht über die Felsbrocken und Baumstämme am Wegrand wundert.
Am Abend, das war der letzte Befehl, den der Alisi gegeben hat, soll im Haus vom Eichenberger ein großes Fest stattfinden, ein solcher Sieg müsse gefeiert werden. Er hat tatsächlich »Sieg« gesagt, obwohl es doch in Wirklichkeit etwas ganz anderes war. Der Geni und ich müssten natürlich auch dabei sein, hat er uns durch den Poli ausrichten lassen, aber das kann er nicht von uns verlangen. Nach allem, was wir erlebt haben, kann er das wirklich nicht von uns verlangen.