Das letzte Kapitel
in dem der Sebi noch einmal eine Geschichte erzählt
Wir haben doch hingehen müssen. Der Alisi hat vier Leute von seinem Fähnlein geschickt, und sie haben uns gezwungen mitzukommen, auch das Anneli hat mithinken müssen. Zum Geni haben sie gesagt: »Wenn du nicht gehen willst, können wir dich auch tragen«, das war eine Drohung, die keine Erklärung gebraucht hat, und so hat er im Licht ihrer Fackeln mit uns den Weg hinunter ins Dorf machen müssen. Es scheint jetzt einfach so zu sein: Wenn der Alisi etwas befiehlt, muss man es machen.
Das Fest hat draußen stattgefunden, selbst im großen Haus vom Eichenberger wäre nicht genügend Platz gewesen. Beim Dorfbrunnen hatten sie ein riesiges Feuer gemacht; obwohl es eine kalte Nacht war, hat man nicht gefroren. Es durften alle Wein trinken, so viel sie wollten, auch die kleinen Buben. Sie müssen früh damit angefangen haben; als wir dazugekommen sind, haben die ersten schon gekotzt. Den Wein habe der Kryenbühl gestiftet, hat es geheißen, aus Begeisterung über den großen Sieg. Das glaube ich aber nicht. So wie er ein Gesicht gemacht hat, wird man ihn zu dieser Freiwilligkeit gezwungen haben.
Dem Alisi hatten sie aus Strohsäcken einen Thron gebaut, mit einem rotgelben Tuch abgedeckt, das hatte ich
unter dem Sattel von einem der vornehmen Reiter gesehen. Den Turnierhelm des Herzogs hatte er sich auf den Kopf gesetzt, was aber nicht vornehm aussah, sondern nur lächerlich, weil die Federn geknickt waren und der Kopf des Löwen abgebrochen; außerdem war ihm der Helm zu groß, und er musste ihn immer wieder zurechtrücken. Als wir gekommen sind, hat er uns seine Hand in einer so hoheitsvollen Art entgegengestreckt, als sei er der Fürstabt und wir sollten seinen Ring küssen. Er war noch nicht so betrunken, dass er nicht mehr gewusst hätte, was er tat, aber so ein halbes Besoffensein ist bei ihm noch gefährlicher, ich kenne das von den langen Nächten mit seinen Kameraden. Wenn er in diesem Zustand ist, und man widerspricht ihm nur im Geringsten, gerät er in eine Wut, die schlimme Folgen haben kann. Der Geni und ich mussten uns nahe bei ihm hinsetzen; die Männer, die es sich dort schon bequem gemacht hatten, hat er einfach weggewinkt. Er hat mir aufgetragen, mir alles gut zu merken, das Fest müsse unbedingt auch in meinem Bericht vorkommen, die Leute sollten wissen, dass echte Schwyzer nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu feiern verstünden. Und zum Geni hat er gesagt: »Siehst du, das Volk war schon immer auf meiner Seite und nicht auf deiner.« Ich glaube aber nicht, dass er damit recht hatte; man kann Menschen leicht zum Jubeln bringen, wenn man ihnen umsonst zu essen und zu trinken gibt.
Der Alisi hat darauf bestanden, dass der Geni einen ganzen Becher Wein auf einen Zug austrinkt, nach einem Sieg sei das bei den Soldaten so üblich. Ich wäre als Nächster drangekommen, deshalb habe ich ganz schnell meine Flöte aus dem Sack geholt und angefangen zu spielen. Das sei
mein Beitrag, um ihnen das Fest zu verschönern, war meine Ausrede, und der Alisi hat es sofort geglaubt. Leute, die selber nie die Wahrheit sagen, fallen leicht auf Lügen herein. Ich kann unterdessen viele Lieder, aber er wollte immer wieder dasselbe hören, er meint wohl, es passe besonders gut zu ihm. Wänn ich de Kaiser-König wär
musste ich für ihn spielen. Meine Musik werden nicht viele gehört haben; sie sind immer lauter geworden und alle, alle hatten den Krieg gewonnen, auch jene, die gar nicht dabei gewesen waren. Weil niemand richtig auf mich geachtet hat, habe ich immer traurigere Melodien spielen können, die gar nicht zu einem Fest gepasst haben. Die traurigste habe ich in Gedanken allen Toten gewidmet, vor allem dem Halbbart.
Ich hatte schon gehofft, mein Musizieren habe mich vor allem anderen Mitmachen bewahrt, aber dann hat der Alisi in die Hände geklatscht und »Silenzio!«
gerufen. Wie schon am Morgen hat es gedauert, bis es still geworden ist, aber dann hat man sogar die Äste im Feuer knistern hören. »Für alle, die nicht das Glück hatten, heute dabei zu sein«, hat der Alisi verkündet, »wird mein Neffe Eusebius jetzt einen Bericht über die Ereignisse geben. Er ist nicht nur unser offizieller Chronist, sondern als Lehrbub vom Teufels-Anneli hat er das Erzählen auch gründlich studiert. Fang an, Eusebius!«
Ich bin doch nicht dem Kryenbühl sein dressierter Hund, habe ich gedacht, und muss Männchen machen, wenn er mit den Fingern schnippt. Aber der Hund möchte wahrscheinlich auch lieber keine Kunststücke vorführen und muss es trotzdem tun, weil der Kryenbühl nämlich eine Peitsche hat. Mich einfach zu weigern, kam nicht in Frage, es wäre mir bestimmt übel ergangen, aber dem Alisi
zu seinem kaputten Helm auch noch eine Krone aufzusetzen und sein Lob zu singen, das wollte ich schon gar nicht. Und so habe ich beschlossen, die Geschichte so zu übertreiben, dass jeder merken musste: So ist es nicht gewesen.
»Der Herzog Leopold«, habe ich angefangen, »ist ein böser Mensch, der es nicht ertragen kann, wenn seine Untertanen auf ihren Rechten bestehen und nicht alles tun, was ihm gerade in den Sinn kommt.«
»Sehr richtig!«, hat der Alisi gerufen und hat gar nicht gemerkt, dass ich eigentlich ihn selber beschrieben hatte.
»Weil die Leute von Schwyz aber auf dem bestanden, was in ihren Freiheitsbriefen steht, beschloss der Herzog, sie mit Krieg zu überziehen, das mächtige Habsburg gegen ein kleines Tal.«
Der Geni hat mich verwundert angesehen, aber ich habe so getan, als ob ich es nicht bemerkte, und habe weitererzählt. »Er stellte ein großes Heer auf, Hunderte von Rittern …«
»Viel mehr!«, hat der Alisi gerufen, und ich habe mich schnell verbessert. »Tausende von Rittern, und dazu noch Fußvolk, so viele, dass man sie nicht zählen konnte. Dieses kleine Völkchen in seinem Bergtal, da hatte er keinen Zweifel, würde er bald besiegt haben, und wenn die Schwyzer dann untertänig vor ihm knieten und um Gnade bettelten, wollte er ihnen so viele neue Steuern auferlegen, dass sie dafür ihr Leben lang würden schuften müssen wie Ochsen unter dem Joch.«
Ringsum hat man ein empörtes Grummeln gehört, wie beim Osterspiel, wenn der Judas den Heiland um dreißig Silberlinge verrät.
»Der Herzog schickte Boten zu all den Adligen, die ihm tributpflichtig waren, und befahl, dass sie nicht nur selber an seinem Feldzug teilnehmen sollten, sondern auch Reisige und Fußvolk mitbringen, die Grafen mehr und die einfachen Ritter weniger. So kam ein gewaltiges Heer zusammen, es werden wohl an die zehntausend gewesen sein.«
»Mehr!«, hat der Onkel Alisi wieder gerufen.
»Der Herzog Leopold ist ein halber Teufel«, habe ich gesagt, »so hinterhältig und schlau ist er. Er stellte seine Truppen so auf, dass die Schwyzer glauben sollten, er wolle sie bei Arth angreifen, dort wo die Letzi den Weg versperrt, dabei hatte er einen ganz anderen Plan. Aber dieser Betrug ist ihm nicht gelungen – und warum nicht?«
»Weil wir schlauer sind!«, hat jemand gerufen, und alle haben gelacht.
»Weil alte Soldaten zusammenhalten«, habe ich gesagt. »Weil sie sich gegenseitig helfen, ganz egal, bei wem sie gerade im Sold stehen.«
»Sehr wahr!« Der Onkel Alisi hat seinen Becher gehoben und seinen Kampfgenossen aus Italien zugeprostet.
»Einer von ihnen, er hieß …« Es ist mir nicht gleich ein Name eingefallen, aber dann habe ich mich doch an einen erinnert, den ich einmal irgendwo gehört hatte. »Es war ein Ritter von Hünenberg, der sich im Feldzug nach Rom fast so sehr ausgezeichnet hatte wie unser Colonnello.«
Dem Alisi hat es geschmeichelt, dass ich ihn jetzt auch so genannt habe, und von da an hätte er mir wohl auch nicht mehr widersprochen, wenn ich behauptet hätte, der heilige Georg habe ihm für die große Schlacht die eigene Lanze geliehen.
»Dieser von Hünenberg«, habe ich gesagt, »gehörte zum Heer des Herzogs, und als guter Soldat hätte er den Krieg, für den er sich verpflichtet hatte, auch gern gewonnen. Aber er wollte es auf ritterliche Weise tun, Mann gegen Mann, und nicht durch einen feigen Betrug. Er kannte die Pläne des Herzogs und beschloss, dass die Schwyzer sie ebenso kennen sollten, also schrieb er eine Nachricht auf ein Stück Pergament, befestigte es an einem Pfeil und schoss den über die Letzi ins Lager unserer Leute. Und so lautete seine Nachricht.« Ich machte eine Pause, so wie mir das Anneli beigebracht hatte, dass man das an besonders spannenden Stellen immer tun soll, und erst, als ich spürte, wie die Zuhörer fast den Atem anhielten, erzählte ich weiter. »Die Nachricht lautete: ›Hütet euch am Morgarten am Tage vor St. Othmar.‹«
Die Leute haben gejubelt und die Fäuste in die Luft gestreckt.
»So gewarnt«, habe ich weitererzählt, »konnten sich die Schwyzer an der richtigen Stelle auf den Angriff vorbereiten. Am Abhang vom Morgartenberg haben sie sich versammelt, auf einer Lichtung, die keinen Namen hat.«
»Doch!«, hat einer gerufen. »Das ist das Mattligütsch!«
»Am Mattligütsch haben sie sich versammelt, und angeführt von unserem klugen Colonello haben sie in schwerer Arbeit Bäume gefällt und Felsbrocken zusammengetragen.«
»Mir tut jetzt noch der Rücken weh«, hat der Alisi gesagt, und obwohl er in Wirklichkeit selber keinen Finger gerührt hat, haben alle gelacht und in die Hände geklatscht.
»Zu großen Haufen haben sie alles aufgeschichtet und
gewartet, bis das feindliche Heer heranzog, an die zwanzigtausend werden es gewesen sein, alle auf mächtigen Schlachtrössern und in schweren Rüstungen.«
Ein paar von den Zuhörern haben genickt, wie man es manchmal in der Kirche sieht, wenn jemandem die Worte des Predigers besonders einleuchten.
»Der Colonnello hatte Späher ausgeschickt, und als sie ihm die Meldung gemacht haben, dass die Kolonne direkt unter dem Mattligütsch angekommen war, hat er den Befehl zum Angriff gegeben.«
›Hoppla‹, hat er gesagt.
»Die Bäume und die Felsen rollten den Hang herunter, versperrten dem Feind nicht nur den Weg, sondern erschlugen auch viele von den Reitern. Damit war der Herzog aber noch nicht besiegt, sondern es kam zu einem langen Kampf, in dem sich das kleine Häufchen der Schwyzer heldenhaft bewährte, allen voran unser Colonnello.«
Die Leute haben gejubelt und »Harus!« gerufen. Der Onkel Alisi hat ihren Beifall aber abgewehrt, so bescheiden, wie das nur eitle Menschen tun können.
»Die Feinde waren in gewaltiger Überzahl«, habe ich weitererzählt, »und in ihren Rüstungen fast unverwundbar. Aber auch darauf hatten sich die Schwyzer vorbereitet, und einer von ihnen hatte eine ganz neue Waffe erfunden, gegen die kein Ritter ein Mittel hatte.« Ich habe nicht gesagt, dass der Halbbart dieser Erfinder gewesen ist, man hätte das an diesem Abend nicht gern gehört, weil er doch ein Fremder war. »Mit dieser Waffe konnte man jeden Ritter vom Pferd reißen, egal, wie gut er gepanzert war, und mit derselben Waffe konnte man ihm den Schädel spalten, auch wenn
sein Helm aus dem dicksten Eisen gemacht war. So wurden viele von den Habsburgischen erschlagen, und noch mehr versuchten, sich in den See hinaus zu retten, wurden aber von ihren schweren Rüstungen in den Sumpf hineingezogen. Der Rest ergriff die Flucht, den Schwanz zwischen den Beinen wie geprügelte Hunde. So besiegte eine kleine tapfere Truppe ein mächtiges Heer, und diesen Triumph haben wir nur dem Colonnello zu verdanken, unserem Alisi!«
Das war alles so erfunden und erlogen, dass ich gedacht hatte, die Leute würden mich auslachen. Aber sie haben gejubelt, und der Onkel Alisi hat sich zu mir gebeugt, hat mir die Hand geschüttelt und gesagt: »Genau so ist es gewesen, genau so.«
Später, als alle nur noch betrunken waren, hat mich das Teufels-Anneli auf die Seite genommen und gemeint: »Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.«