Kapitel Siebzehn
Eamon
" B in ich das erste Mädchen?"
Ich hob den Kopf und fragte mich, ob Carmen das ernst meinte. Gütiger Gott, sie war wirklich die eifersüchtige Type. "Liebling, ich bin 30 Jahre alt. Ich habe mich nicht für die Ehe aufgehoben. Ich habe das schon ein paar Mal gemacht."
"Nein", sie drehte sich auf die Seite und starrte mich mit ihren großen grünen Augen an, das Oberteil ihres Kleides war noch aufgeknöpft, sodass ich den Hügel ihrer kleinen Brüste sehen konnte. "Ich meine, ob das dein erster Job ist. Also diese Art von."
"Ah", ich legte meinen Kopf zurück und verstand, was sie meinte. "Du willst wissen, ob ich das hier mit anderen Mädchen schon gemacht habe." Das war eine vernünftigere Frage, dachte ich. Sie war vielleicht ein wenig eifersüchtig. Aber sie versuchte wahrscheinlich auch herauszufinden, ob ich ein Serienmörder war. 
"Eigentlich", ich konnte sehen, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, "will ich wissen, ob du das hier mit einem bestimmten Mädchen gemacht hast. Es geht um meine Freundin Delphine. Ich dachte, das wäre ein echtes Jobangebot, weil sie bereits das gleiche Angebot bekommen und es angenommen hatte. Sie verließ uns, und wir hörten nie wieder von ihr. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, lange braune Haare, die sie immer in einem Zopf trug, und braune Augen. Etwas größer als ich, aber nicht viel. Fünfzehn Jahre alt."
Ich zuckte zusammen. Fünfzehn. Ich schätze, diese war nicht "zu alt“ gewesen. Das arme Mädchen lebte wahrscheinlich in einem Albtraum in einer Wüste mitten im Nirgendwo, dem sie niemals entkommen konnte. Vielleicht wünschte sie sich, sie wäre tot, vielleicht war sie bereits tot. Das wollte ich Carmen aber nicht sagen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen um ihre Freundin machte und ausflippte wegen dem, was mit ihr passiert sein könnte. 
"Nein", ich schüttelte den Kopf. "Ich habe noch nie vorher so einen Job gemacht, und soweit ich weiß, ist es das erste Mal, dass mein Boss diese Art von Arbeit angenommen hat. Wie ich schon sagte: Normalerweise arbeiten wir im Ausland, und es ist ein ganzes Team von Leuten im Einsatz, und nicht nur eine Person."
"Du weißt also nicht, was mit ihr passiert ist?"
Ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie versuchte, zu entscheiden, ob sie mir glauben konnte oder nicht.
"Pfadfinderehrenwort", sagte ich und hob die drei Finger meiner rechten Hand, als würde ich ein Gelöbnis ablegen.
"Bist du ein Pfadfinder?"
"Ich war ein Marine", antwortete ich ehrlich.
"Wirklich?"
"So bin ich in diesen Job gekommen. Ein Kamerad von damals hat diese Firma gegründet und die Bezahlung war einfach viel besser. Und die Arbeit ist nicht wirklich so anders. Jetzt kann ich sogar Jobs ablehnen. Das konnte ich bei den Marines nicht tun."
"Hast du nie daran gedacht, etwas anderes zu tun? Dein Lebenstraum war es, Frauen für Geld ans Bett zu fesseln?"
"Ich sagte doch, das ist kein normaler Job. Wie auch immer. Ich habe nie wirklich daran gedacht, etwas anderes zu tun. Mein alter Herr war bei der Marine. Was das betraf, gab es für mich keine andere Wahl. Ich wurde auf einer Militärbasis in Japan geboren, und meine Mutter und ich folgten ihm von Posten zu Posten, bis ich mit siebzehn ins Ausbildungslager ging. Ich konnte es kaum erwarten, da rauszukommen. Ich hätte mich im Alter von sechs Jahren verpflichtet, wenn es möglich gewesen wäre."
"Spielt dein alter Herr zu Hause gerne Drill-Sergeant?"
"Das kann man sagen", lachte ich. "Verdammter, verdammter Hurensohn. Er hat wahrscheinlich gerade einen Stiefel auf dem Hals von jemandem in der Hölle. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich abgehauen bin."
"Was ist mit deiner Mutter?"
Ich holte tief Luft und fühlte in meiner Tasche nach meinen Zigaretten. Ich zündete mir eine an und bot sie Carmen an. Sie nahm einen Zug und dann spuckte und hustete sie. Ich hatte schon lange nicht mehr an meine Mutter gedacht.
"Meine Mutter hat ihr Bestes getan", antwortete ich schließlich und erinnerte mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten an all die Male, die sie sich zwischen meinen Vater und mich geworfen, all die Schläge eingesteckt hatte, die für mich bestimmt waren. Ich zog lange an meiner Zigarette, atmete aus und beobachtete den Rauch, der aus dem offenen Fenster verschwand, bevor ich fortfuhr. "Aber niemand war je gut genug für meinen Vater. Seine Soldaten nicht, seine Frau nicht. Nicht ich. Letztendlich war ich in der Lage, da rauszukommen, aber meine Mutter ..." 
Ich ließ meine Gedanken schweifen. Ich wusste, dass mein Vater gestorben war, da meine Mutter über die Veteranenabteilung meine E-Mail-Adresse gefunden hatte und mir eine sehr lange Nachricht geschrieben hatte, die seine letzten Jahre und seine Krankheit erklärte. Die Nachricht machte deutlich, dass sie bis zum Ende bei ihm gewesen war, unabhängig davon, was er ihr angetan hatte. Das machte mich krank. Dieser Scheißkerl hatte wie ein König gelebt und geglaubt, dass sich die Welt um ihn drehte, und zwar bis zu seinem letzten Atemzug. Und ihr ganzes Leben war sie für ihn dagewesen. 
Aber ich hatte nie auf ihre Nachricht geantwortet, und ich wusste nicht, ob sie noch am Leben war. Wenn sie noch am Leben war, fragte ich mich, was sie wohl gerade tat. Konnte sie endlich ihr eigenes Leben leben? Frei von der Angst, die Zähne ausgeschlagen zu bekommen, weil sie das Essen dieses Arschlochs aus Versehen zu stark gesalzen hatte? Oder hatte sie ihn sofort durch einen anderen Tyrannen ersetzt? 
"Wie auch immer", ich wollte das Thema wechseln, "man kann niemandem helfen, der sich nicht selbst helfen will. Manche Menschen mögen Schmerz, sie leben dafür."
Ich war in Gedanken verloren und hatte vergessen, wo ich war und mit wem ich zusammen war. Ich blickte zu Carmen hinüber und überlegte, wie gut sie den endlosen Trieb meiner Mutter zum Martyrium kannte. 
Ihr angewiderter Blick sagte mir etwas anderes. Sie identifizierte sich nicht mit meiner Mutter. Sie identifizierte sich mit mir. Es ergab Sinn; sie sagte mir selbst, dass ihr eigener Vater ihre Mutter ermordet und versucht hatte, sie zu töten. Sie hatte wahrscheinlich viele ähnliche Situationen zu Hause erlebt, bevor sie in eine Pflegefamilie kam. Ich fragte mich, ob sie das gleiche vage Gefühl der erbärmlichen Aussichtslosigkeit hatte.
Ich hatte noch nie mit einer Frau über meine Familie gesprochen. Im Allgemeinen vermied ich es, mit jemandem über mein Leben zu sprechen. Vor allem nicht mit Frauen, die ich fickte. Allein der Gedanke daran ließ mich zusammenzucken. 
Aber Carmen war anders. Sie unterbrach mich nicht. Sie gab mir keine Ratschläge. Sie umsorgte mich nicht, als wäre ich ein verletztes Vogelbaby. Sie versuchte nicht, mich zu heilen.
Für einen kurzen Moment stellte ich mir vor, wie es wäre, mit Carmen verheiratet zu sein. Ich war kein Soziopath; ich konnte den Reiz darin sehen, jeden Morgen mit jemandem aufzuwachen, von dem man dachte, er sei die fehlende Hälfte. Das war der Traum, oder? Das war seit Jahrtausenden das Thema von unzähligen Liedern und Geschichten. 
Und es gab keinen Zweifel daran, dass sie wunderschön war. Ich hatte ihren Reiz zuerst nicht gesehen, nicht ganz. Ich konnte sehen, dass sie hübsch war, aber sie war nicht mein Typ. Sie war zu dünn, dachte ich, und mürrisch. Sie lächelte nicht leicht. Aber je länger ich sie kannte, desto mehr zog sie mich in ihren Bann. Ihre kleinen, schnellen und graziösen Bewegungen. Ihr scharfes Temperament. Ihr Witz. So wie sie nach mir schmachtete. 
Ich stellte mir vor, an einem Sonntagmorgen spät aufzuwachen und sie in meiner Küche zu beobachten, wie sie Speck und Eier zubereitete. Ich stellte mir vor, nachts von Partys nach Hause zu fahren, während sie auf dem Beifahrersitz schlief. Ich stellte mir all die alltäglichen Dinge vor, die auf immer in Erinnerung bleiben würden. 
Aber das war einfach nicht das wirkliche Leben. Ich wusste, was mit Leuten passierte, die im echten Leben versuchten, jemanden zu lieben, und ich wusste, wie weh das tat. Wie verwundbar es einen machte. Es war ein schöner Traum, aber mehr war es nicht.
Trotzdem gehörte Carmen vorerst mir. Ich fühlte mich nach dem Gespräch mit ihr besser, als wäre mir eine enorme Last von den Schultern genommen worden. Dinge, die ich als unaussprechlich empfunden hatte, fühlten sich jetzt an, als lägen sie in der fernen Vergangenheit. 
Ich wünschte, ich könnte ihr danken. Ich wollte ihr noch eine Chance im Leben geben, sie gehen lassen. Verdammt, ich wünschte, ich könnte irgendwie in der Zeit zurückreisen und sie von all dem Leid erlösen, das sie bereits durchgemacht hatte.
Das war aber unmöglich, aber ich konnte zumindest ihre gegenwärtige Situation verbessern.
"Lass uns losfahren“, sagte ich und knöpfte ihr Kleid zu. Dabei überlegte ich schon, wann ich es wieder ausziehen konnte.
"Wo fahren wir hin?“, fragte sie und war wie erstarrt.
"Nicht dahin, wo du denkst", beruhigte ich sie. "Irgendwohin, wo es besser ist. Sauberer, mit Klimaanlage. Mehr Essen. Am Strand."
Ich war mir nicht ganz sicher, ob das alles wahr war, aber ich war schon einmal bei Mitch gewesen, und wenn er sagte, dass es ganz nett war, dann war es wahrscheinlich luxuriös. 
"Wirklich?" Sie zögerte. Sie war ein kluges Mädchen, und es wäre nicht das erste Mal in ihrer jüngsten Vergangenheit, dass ihr jemand ein besseres Leben versprochen und sie dann beschissen hätte.
"Pfadfinderehrenwort", lächelte ich und hob wieder meine rechte Hand. 
Ich warf einen Blick auf ihre Handschellen und ließ sie an den Eisenstangen des Kopfteils hängen.