Epilog

»Sie haben genau diese eine Chance, Herr Annuscheit«, sagte Konter. »Bevor Sie auch nur ein Wort mit Iwan Kutisker wechseln, will ich wissen, was in Ihren Büchern steht. Und wenn Sie mich auf den Arm nehmen, dann werde ich der sowjetischen Botschaft eine Nachricht zukommen lassen. Haben wir uns verstanden?«

Annuscheit nickte. Konter hatte ihn zwar nur in Gewahrsam genommen, aber vierundzwanzig Stunden würden reichen, um zu erfahren, was er von dem Mann wissen wollte. Zudem würde sich der Buchhalter kaum beschweren oder einen Anwalt fordern, wenn die Gefahr bestand, dass er wieder in den russischen Kellern landen könnte.

»Sie sind eine unscheinbare Figur mit derart viel Wissen, dass es mir fast unheimlich ist«, fuhr Konter fort. »Ihr alter Arbeitgeber sprach davon, dass Sie bedeutende Männer aus Wirtschaft und Politik belasten können. Wahrscheinlich hofft er, mit diesem Druckmittel seine Strafe mindern zu können. Zudem haben Sie Aufzeichnungen über die alten Geschäftsbeziehungen zu den wohlhabenden russischen Familien auf dem Baltikum.«

»Dazu hat mich schon die Geheimpolizei befragt.« Annuscheit nickte. »Ich sollte ihnen helfen, noch mehr Gelder ausfindig zu machen.«

»Seien Sie froh, dass den Sowjets die Verbindungen zu Parvus und anderen Trotzkisten nicht bekannt waren«, meinte Konter. »Man hätte Sie sofort als Diplomatengepäck in einer Kiste nach Moskau verfrachtet.«

»Parvus war nicht wirklich ein Anhänger Trotzkis«, gab Annuscheit zu bedenken. Er schwieg, schien zu überlegen. »Aber Sie haben recht. Die Verbindungen aus der damaligen Zeit dürften die GPU und Stalin interessieren. Mittlerweile reicht ein Verdacht aus, um ins Arbeitslager zu kommen. Oder unter die Erde.«

»Man hätte alles aus Ihnen herausgepresst und Sie dann an die Schweine verfüttert. Ein weiterer Grund, mir dankbar zu sein.«

»Iwan will Ihnen die Informationen zur Deutschen Tscheka überlassen, nicht wahr?«

»Es gibt diese Gruppe also tatsächlich noch?«, fragte Konter.

»Der hiesige Ableger der russischen Geheimpolizei war nie groß. Zur Zeit des Hamburger Aufstands dürften es ungefähr sechzig Personen gewesen sein. Unorganisiert und schlecht ausgebildet. Eher verblendete Anarchisten als Agenten.« Annuscheit trat an das vergitterte Fenster und blickte in den Morgenhimmel. »Im Moment soll es noch zehn Männer geben, die sich im Auftrag Thälmanns für Sondereinsätze bereithalten.«

»Bobrow war das Opfer eines solchen Sondereinsatzes?«, fragte Konter weiter.

»Nach allem, was ich weiß, halte ich es für wahrscheinlich. Wenn Sie mich zu Iwan lassen, erhalten Sie die Liste mit den Namen dieser Männer. Den Rest der Arbeit müssen Sie selbst erledigen.«

Konter schwieg eine Weile. Annuscheits Wissen bedeutete eine Menge Ärger. Der Mord an Bobrow war Verschlusssache. Nun konnte er sich zu einer Geheimen Reichssache entwickeln. Zuständigkeiten waren zu klären, politische Befindlichkeiten zu berücksichtigen und Schaden von der Republik abzuhalten. Die Sowjets würden keineswegs erfreut sein, zu erfahren, dass die deutsche Polizei einen Zeugen schützte, der eben noch in den Kellern ihrer Botschaft gefangen gehalten wurde. Nur konnten sie Letzteres kaum zugeben.

˚˚˚

»Was können Sie für mich aushandeln, Renger?«, fragte Kutisker. »Ich lasse die Kerle hochgehen, wenn ich noch länger als einen Monat in Haft bleiben muss.«

»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen«, antwortete der alte Anwalt. »Ich habe vorhin erfahren, dass der Oberreichsanwalt zusammen mit dem Reichsminister für Justiz entschieden hat, dass alle von Ihnen oder Herrn Annuscheit vorgelegten Akten zu beschlagnahmen sind. Der Staatsschutz der Politischen Polizei hat in einer Stellungnahme die Gefährdung von Verfassungsorganen festgestellt. Ihr Plan ist gescheitert, Herr Kutisker.«

»Unglaublich! Sie sind ein Stümper! Ich will Frey sehen, und zwar sofort.«

»Mein Kollege Frey bittet mich, Ihnen mitzuteilen, dass er mit sofortiger Wirkung Ihre Verteidigung wegen Befangenheit und Interessenkonflikten niederlegen wird.«

»Die Presse, Renger. Stellen Sie einen Kontakt zu den Chefredakteuren der Vossischen Zeitung und dem Vorwärts her. Ich packe aus! Jetzt rollen Köpfe.«

»Ich habe mir erlaubt, in dieser Frage vorzutasten. An allen Stellen wird abgewinkt. Niemand will sich die Finger verbrennen.«

Kutisker sank in sich zusammen wie ein Hefeteig, den eben kalte Zugluft erwischt hatte. Sein Zusammentreffen mit Walter Annuscheit war eine Enttäuschung gewesen. Sie hatten nur in Anwesenheit eines höheren Justizbeamten miteinander sprechen dürfen. Sein ehemaliger Geliebter hatte geweint, er selbst war beinahe aus der Haut gefahren und hatte so lange herumgebrüllt, bis der Mitarbeiter das Treffen abgebrochen hatte.

Das Spiel war aus.

˚˚˚

»Wie viel?«, fragte Fischer.

Franz saß mit ihm in Erichs Arbeitszimmer im Klub Berlin. Er hatte am Morgen das Geld gezählt und würde es später in ein Schließfach der Hauptfiliale des Bankhauses Rosenbaum & Cie. bringen. Den gestrigen Tag über hatten die drei Männer fast nur geschlafen und ihre vielen kleinen Brandwunden gepflegt.

»Wir haben etwas mehr als vierhunderttausend Mark Bargeld. Dollar, Pfund und Rubel habe ich bereits umgerechnet. Nach Abzug aller Unkosten sind es mindestens hundertdreißig für jeden von uns.«

»Usedom, ick komme.« Fischer lachte. Er hatte gerade von seinen Absichten berichtet, aus der Stadt wegzuziehen.

»Mit den Zinspapieren und Aktien hätten wir eine Million machen können«, sagte Erich.

»Es musste schnell gehen.« Franz schüttelte den Kopf. »Und dieses Zeug lässt sich zurückverfolgen.«

»Die Wertsachen und der Schmuck?«, fragte Fischer weiter.

»Schwer zu sagen«, antwortete Franz. »Ich schätze, wir bekommen noch einmal hunderttausend. Aber wir müssen den Kram unauffällig unter die Hehler bringen. Frühestens in drei Monaten beginnen wir, die Sachen zu verkaufen.«

Die Männer plauderten eine Weile, dann verabschiedete sich Fischer. Das Geld sollte ebenfalls für einige Wochen in den Schließfächern bleiben. Niemand sollte Verdacht schöpfen können durch ungewöhnlich hohe Überweisungen, Einzahlungen oder Devisentausch.

»Weiß es Toni schon?«, fragte Erich, als er mit seinem Bruder allein war.

»Ich muss auf den richtigen Moment warten«, erwiderte Franz ausweichend. »Paul wird mir Bescheid geben, wenn es günstig erscheint.«

»Es wird Ärger geben. Dein Casino-Plan war von der Mehrheit abgelehnt worden. Dass du ihn dennoch durchziehst, werden dir viele krummnehmen.«

»Eben deshalb werde ich mich aus der Leitung des Syndicats zurückziehen, Erich. Dann kann ich mich auf meine Geschäfte konzentrieren.«

Das erste Mal seit Monaten war die Leichtigkeit zurück. Und sie verflog nicht sofort wieder. Das gute Gefühl, frei zu sein. Wie damals an seinem vierzehnten Geburtstag. Er hatte sein erstes Mädchen geküsst. Seine Clique hatte ihn zum Stellvertreter des Bullen gewählt. Er hatte drei Mark in der Tasche gehabt und zwei Molle für jeden spendiert. Er erinnerte sich an den wunderbaren Geschmack der Bulette, die Brutzel-Frieda für ihn gemacht hatte. Der Tag, an dem er der König Berlins gewesen war.