Susanne schrie plötzlich auf. Und in ihr Kreischen stimmten nur Augenblicke später drei Dutzend andere Frauen ein. Vielleicht sogar einige Männer. An diesem Ort konnte nur Grausames geschehen. Franz hätte es wissen müssen. Sofern sie diese Sache heil überstanden, würde sie dem Paar ewig in Erinnerung bleiben. Die Klaviermusik setzte, einem Raubtier gleich, zu einem letzten Sprung an; aus dem Pianissimo erhob sich die Drohung und schlich gespannt auf das mörderische Crescendo zu. Als die junge, blonde Frau nach vorn griff, neugierig wie eine ewige Eva am Apfelbaum, endete das Spiel abrupt in einem erweiterten, aufgeladenen Moll-Akkord. Niemand in der Höhle wagte mehr zu atmen. Die Enthüllung des Entstellten war zu entsetzlich. Hinter der Maske des Klavierspielers verbarg sich eine grausame Fratze, die den Betrachtern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Susanne grub ihre Fingernägel in den Unterarm ihres Begleiters.
Nur ein Film, ermahnte sich Franz und versuchte, dem beklemmenden Gefühl, das sich in ihm ausbreitete, zu widerstehen. Hier unten umfing sie ein kühl-muffiger Geruch. Luft, die bereits vor Jahrhunderten geatmet worden war. In Gängen, die noch zur Zeit der Römer in die Tiefe getrieben worden waren. Katakomben, in denen sich erst frühe Christen, dann die Ärmsten der Armen und schließlich allerlei Gaunerpack versteckt hatten. Manch Leprakranker mochte stöhnend in einer Nische gestorben sein, sicherlich lag auch das ein oder andere Opfer unguter Taten hier verscharrt im Dreck. Und nun war dieser findige Neapolitaner auf die Idee gekommen, in Sotteranea – so nannten die Einheimischen ihre Unterwelt – ein Kino einzurichten. Wunderbar! Il Fantasma dell’Opera. Dass die Zwischentitel auf Italienisch waren, war für das Verständnis der Handlung unerheblich. Nach mehreren Wochen, die sie bereits hier waren, beherrschten Susanne und er außerdem schon ein paar Brocken.
Franz war fasziniert vom Kino. Bereits zu Hause hatte er in den letzten Monaten jeden wichtigen Film gesehen. Er liebte es, in andere Welten entführt zu werden. Mal waren es Liebesschnulzen, dann wieder Zukunftsvisionen. Der Film sprengte die Enge, die er in seinem eigenen Leben empfand. Ihm schienen Pflichten und Sorgen mittlerweile alles zu vergiften, was Spaß machte. Im Kintopp hingegen empfand er Leichtigkeit.
»Du bist süchtig nach Illusion«, hatte Susanne genörgelt, als er sie zu dem Abend im Palazzo del Cinema sotteraneo nahe der Piazza San Gaetano überreden wollte.
Süchtig nach der perfekten Illusion, dachte er jetzt, als das Phantom gerade zum wiederholten Mal seine scheinbar unendlich langen Finger nach dem Publikum ausstreckte.
»Ich muss unbedingt mit dem Besitzer sprechen«, sagte er etwa eine Stunde später, als sich das Paar bei Bruschetta und Wein von den Schrecken der Tiefe erholte. Die Piazza war trotz der bereits vorgerückten Stunde stark belebt. Es war Oktober und immer noch angenehm warm. In Berlin trug man jetzt sicherlich schon Pelz. Franz betrachtete die Menschen, die sich hier tummelten. Da gab es jene bedauernswerten Kreaturen, denen die Lumpen fast vom Leib fielen. Lebende Mumien, wie es schien. Stumm wanderten sie umher, ergatterten einen Zigarettenstummel vom Boden oder ein wenig Wein aus einer stehen gelassenen Flasche. Dann gab es Myriaden von Arbeitern, Fischern und Handwerkern, die ausgelassen und erregt gestikulierend miteinander sprachen. Immer wirkte es so, als stritten oder feilschten sie um irgendetwas. Franz wunderte sich, wie viele Geistliche zu sehen waren. Manche in schlichten Roben, manche fast pompös ausstaffiert. Letztere ließen sich offenbar von den wohlhabenderen Bürgern aushalten, die in den besseren Lokalen zu Abend aßen. Neapel war anders als Berlin ein Schmelztiegel der Schichten. Zwischen oben und unten gab es hier noch ein unsichtbares Band, das in der deutschen Hauptstadt – in der sich die Klassen meist sorgsam voneinander fernhielten – bereits zerrissen war. Noi siamo napoletani, scelti da Dio. Wir sind Neapolitaner, von Gott auserwählt. An Selbstbewusstsein mangelte es den Leuten hier wahrlich nicht.
»Weshalb willst du mit ihm reden?«, fragte Susanne, die wieder einmal aufmerksam die jungen Männer musterte.
»Diese Leute haben einen besonderen Geschäftssinn. Ist dir auf Capri aufgefallen, wie sie das Hotel geführt haben?«
»Das Locanda Pagano war einfach zauberhaft«, schwärmte Susanne. Dabei wirkte sie etwas abwesend und genoss die Blicke der Italiener.
»Es war keineswegs ein Edelschuppen, hatte seine besten Tage wohl in der Römerzeit«, meinte Franz. »Aber alle taten so, als ob es kein zweites Haus dieser Klasse gäbe.«
»Grandezza, mein Lieber. Ein Lebensgefühl, das sie hier zu kultivieren scheinen«, erwiderte seine Partnerin. »Größe zeigen, selbst wenn sie gar nicht da ist. Täte unseren jammernden Landsleuten zu Hause ganz gut.«
»Wenn du meinst. Egal, ich werde den Besitzer zu einem Geschäftsessen einladen. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, zu Hause auch einen Kinopalast zu eröffnen. Der Palazzo di Napoli auf dem Kurfürstendamm. Die neuesten Filme. Eine Bar für die Schauspieler. Vielleicht gibt es unter der Gedächtniskirche auch ein paar Katakomben? Was meinst du?«
»Kino im Abwasserkanal. Prima«, zog ihn Susanne auf. »Treten Sie ein, Herrschaften, und staunen Sie! Nasenklammern gibt es umsonst dazu!«
Sie schwiegen eine Weile. Franz warf den aufdringlichen Männern böse Blicke zu. Sie sprachen in einem Kauderwelsch, das nichts mit Italienisch zu tun hatte. Er ahnte jedoch, dass jede anständige Frau wahrscheinlich rot werden musste, wenn sie die Worte verstanden hätte. Andererseits hatte Susanne auch ihre eigene, durchaus anstößige Vorgeschichte, speziell mit den Herren. Und es gab kaum etwas, das sie schnell aus der Fassung brachte. Vielleicht abgesehen von verunstalteten Phantomgestalten, die in Katakomben ihre Oper aufführten. Er scheuchte die Burschen mehrmals fort, aber sie zeigten ihm nur – wie er annahm – obszöne Gesten.
»Noch besser!«, meinte er plötzlich. »Wir könnten ins Filmgeschäft einsteigen. Nicht nur Kino, sondern wir lassen die Streifen in unserem Auftrag drehen. Katja, du und Toni. Die besten Frauenrollen wären schon besetzt.«
»Sicher«, erwiderte sie und warf ihm wegen des versteckten Kompliments einen Handkuss zu. »Und du als deutscher Valentino. Da kann nichts schiefgehen. Die Ufa kann einpacken.«