»Murnau ist ein Idiot«, schimpfte Antonia Sass. »Er sieht mich in der Rolle einer Marketenderin oder Zofe. Allenfalls mochte er sich noch die Figur einer älteren Mätresse vorstellen.«
»Du hast doch nicht allen Ernstes erwartet, dass er dich für die Rolle des Gretchen in seiner Faust-Verfilmung vorsieht?« Katja verkniff sich ein Grinsen. Mit Toni war nicht gut Kirschen essen, wenn sie aufgebracht war. Die junge Russin, die während der Oktoberrevolution nach Berlin geflohen war, hatte gute Beziehungen zu dem bekannten Zeitungsmagnaten Alfred Hugenberg, der seit Jahren vergeblich versuchte, die Ufa zu kaufen. Hugenberg, der in Katja eine Art Ziehtochter sah, hatte ihr mehrere kleine Filmrollen vermittelt. Nicht, dass sie das Geld brauchte, schließlich war sie Teilhaberin des Syndicats. Aber es hatte ihr schon immer Spaß gemacht, in andere Rollen zu schlüpfen.
»Abgetakelt hat er gesagt!« Toni ereiferte sich immer mehr. Sie war mit Ende vierzig immer noch sehr attraktiv. Aber eben nicht zwanzig. Im Filmgeschäft galt jede Frau ab dreißig als weiblicher Methusalem. »Er sagte wörtlich abgetakelte Mätresse oder Zofe. Unverschämtheit! Er spricht von der Rolle, aber er meint mich! Er hält mich für abgetakelt.«
»Soll ich ihn verhaften?«, murmelte Paul Konter aus Richtung Wintergarten des gemeinsamen Hauses am Charlottenpark. Ihr Lebensgefährte wusste, dass es eigentlich besser war, zu schweigen, wenn sie wütend wurde. Andererseits war er auch froh, dass ihre Bemühungen, ähnlich wie Katja beim Film unterzukommen, bisher gescheitert waren. Dort liefen nach seinem Geschmack zu viele Taugenichtse herum, die es nur darauf abgesehen hatten, ehrbare Frauen zu verführen.
»Halt den Mund«, kam prompt die Quittung.
In den folgenden Minuten trudelten die anderen Partner des Sass-Unternehmens bei Toni und Paul ein. Es hatte sich unter ihnen die Tradition entwickelt, Besprechungen im geräumigen Wintergarten der Jugendstilvilla abzuhalten, von dem aus man ins Grün blickte und der bei Bedarf geheizt werden konnte.
»Der Juniorchef ist mit seiner Angebeteten immer noch auf Reisen im sonnigen Italien?«, fragte Josef Sternwein, ein Kaufmann jüdischer Abstammung. Er wirkte gealtert seit dem Verlust seines geliebten Neffen vor etwa einem Jahr.
»Lass ihn das mal hören, mein Lieber.« Katja nickte. »Wir erwarten ihn aber bald zurück. Er hat nämlich ein neues Spielzeug in Mailand gekauft.«
»Ein sündhaft teures Automobil möchte ich wetten«, sagte Sternwein.
»Natürlich. Wenn er damit noch über die Alpen will, bevor der Schnee fällt, muss er sich beeilen.«
»Wie sieht es mit den Plänen bei der Filmgesellschaft aus?« Wilhelm Meyer, früher als »Messer-Willi« bekannt, hatte sich vom einfachen Kneipenwirt zum Ringboss gemausert. Beim Syndicat hielt er eigentlich nur eine stille Beteiligung, so dass er oft bei den Besprechungen fehlte. Aber er mischte sich hin und wieder doch ein, denn sein Kapital sollte selbstverständlich ordentliche Zinsen bringen.
»Vielversprechend«, antwortete Katja. Sie hatte ihrem Mentor Hugenberg einen Vorschlag unterbreitet. Aufgrund alter Feindschaften zwischen den Verantwortlichen war der Zeitungsverleger und Industrielle bisher bei der Ufa-Filmgesellschaft nicht zum Zuge gekommen. Ein Umstand, der ihn mächtig wurmte. »Man nennt es ein Strohmann-Geschäft«, fuhr sie fort. »Wir leihen der Ufa Geld und steigen als Teilhaber bei ihnen ein, wenn sie es nicht zurückzahlen kann. Hugenbergs Buchhalter haben einen Firmenmantel für uns aus der Taufe gehoben.« Sie reichte einen Auszug aus dem Handelsregister herum, auf dem drei Zeilen markiert waren. »Wir sind nun stolze Besitzer der Cinema-Syndicat-Holding GmbH.«
»Vielleicht hätten wir darüber beraten sollen«, meinte Toni leicht skeptisch. »Wie hoch ist das Risiko?«
»Wir stecken nicht mit einer einzigen, eigenen Mark drin«, entgegnete Katja. »Renger hat die Unterlagen prüfen lassen. Ich wollte euch nicht damit behelligen.« Sie lächelte. »Denn es gibt keinen Haken, und der Gewinn wird geteilt.«
»Und?«, fragte Meyer. Er war bekannt für seine bodenständige Art, Geschäfte zu machen. Ware gegen Geld. Was er nicht anfassen konnte, existierte für ihn nicht. »Neumodischer Kram. Holding. Banken. Kinematograph. Firlefanz aus Amerika. Mich interessiert nur, ob es Geld bringt.«
»Erstens wurde das Kino in Europa erfunden, mein Lieber. Und zweitens hat die Ufa bis vor zwei Jahren Millionen gemacht. Die Leute lieben Filme.«
»Bis vor zwei Jahren?«, hakte Meyer misstrauisch nach. »Und heute? Weshalb brauchen sie Geld, wenn es doch so ein blendendes Geschäft ist?«
»Warte es einfach ab, Willi. Hugenberg will die Ufa unbedingt kaufen. Er besitzt in Zukunft knapp die Hälfte der Anteile an unserer Holding. Wir bieten den Finanzheinis vom Film einen Kredit an, und unser ruppiger Alfred wird uns das Geld dafür zur Verfügung stellen. Wenn sie dann nicht zahlen können, verlangen wir Firmenanteile an der Ufa.«
»Die wir später komplett an Hugenberg verkaufen«, ergänzte Toni. »Jetzt verstehe ich.«
Alle wussten aus den Zeitungen, dass das Filmunternehmen seit Einführung der neuen, stabilen Rentenmark vor zwei Jahren zunehmend in Zahlungsschwierigkeiten steckte. Misswirtschaft und teure Produktionen zehrten an Nerven, Renommee und Kapitalstock der Ufa.
»Ich habe mit Livana gesprochen«, meinte Sternwein. Er hatte familiäre Beziehungen zum Bankhaus Rosenbaum & Cie, das mittlerweile von seiner Nichte geführt wurde. »Sie werden als Hausbank auftreten und eine steuerverträgliche Lösung ausarbeiten.«
»Dass wir mal mit Hugenberg zusammenarbeiten«, mischte sich Anna Bäumer ein und schüttelte missbilligend den Kopf.
»So läuft das«, erwiderte Katja, ihre Lebensgefährtin. »Ohne Beziehungen geht heute nichts mehr. Und manchmal muss man auch einen Stenz wie Alfred ertragen.«
»Was ist, wenn die Ufa wider Erwarten keine Schwierigkeiten bekommt?«, fragte Meyer.
»Dann erhalten die Holding-Eigner einen guten Zins und wir zudem eine ordentliche Provision von Hugenberg. Du siehst, wir können nicht verlieren.«
Toni verdrehte die Augen. Es wurde zunehmend schwieriger für sie, den Überblick zu behalten. Das Syndicat verdiente sein Geld auf vielen Feldern. Neben den Lokalen gab es noch offene oder stille Beteiligungen, ein legales Wettbüro und ein paar weniger legale Glücksspielstätten. Ware wurde – zum Teil aus dubiosen Quellen – billig eingekauft und mit gutem Gewinn wieder veräußert. Im Baugeschäft bestach und betrog man bei jedem öffentlichen Auftrag. Aber all diese Aktivitäten waren nicht ihre Welt. Darum musste sich sonst ihr Neffe kümmern, denn sie war für den Zusammenhalt, das große Ganze, die Beziehungen und die Repräsentation der »Firma« zuständig. Der Geschäftsalltag langweilte sie.
»Wir sollten uns im Frühjahr bei Franz revanchieren«, meinte ihr Lebensgefährte. Paul Konter hatte ein Gespür für Tonis Stimmungslage. Ihre Gefühle, Trauer, Angst und Ärger gingen immer tief. Auch in dieser Hinsicht machte sie keine halben Sachen. Und er versuchte, sie aufzufangen, bevor sie – oder ihre Umgebung – Schaden nahm.
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Wenn er mehrere Wochen durch die Welt reisen kann.« Konter lächelte sie an und strich über ihre Hand. »Dann sollten wir vielleicht eine Reise nach Paris in Erwägung ziehen.«
Toni hatte mit einem französischen Geschäftsmann fast zwanzig Jahre in der französischen Hauptstadt gelebt. Bis der Hass dieses unseligen Kriegs sie von dort vertrieben hatte. Konter wusste, dass trotz der unschönen Erfahrungen auch eine große Sehnsucht nach dieser Stadt in ihrem Herzen verblieben war. Ihre Augen leuchteten für einen Moment, aber sie gab keine Antwort.
Kurze Zeit später erhielt Konter einen Anruf vom Präsidium. Toni funkelte ihn böse an, als er sich bereit erklärte, für den diensthabenden Kollegen einzuspringen.
»Hagen ist mit einem Selbstmörder beschäftigt, der sich am Güterbahnhof vor einen Zug werfen will«, sagte er und griff nach einer Schrippe. »Und Kollege Buber wurde zu einem Leichnam auf der Fischerinsel gerufen, der laut Aussage eines Zeugen noch gar nicht tot ist. Am Schlachthof ist ein betrunkener Vorarbeiter in den Wolf gefallen und konnte nur halb gerettet werden. Also, nichts Besonderes. Der übliche Berliner Wahnsinn eben.«
»Du willst doch nicht zum Viehhof!«, fuhr ihn Toni an. »Es ist Sonntag, und wenn du zurückkehrst, wirst du drei Tage lang stinken.«
»Nein, meine Zuckerstange.« Paul Konter nahm ihre Hände und küsste sie. »Ich muss in die Oberlandstraße.« Er hielt inne und ließ die Worte wirken. »Dort im Ufa-Union Atelier wurde nämlich ebenfalls ein Leichnam entdeckt. Und der scheint im Gegensatz zu Bubers Scheintoten wirklich hinüber zu sein. Soll ich den Damen eine Autogrammkarte mitbringen?« Er gab sich weltmännisch. »Von Willy Fritsch vielleicht?«
»Pah! Interessiert mich alles überhaupt nicht«, meinte Toni trotzig und fegte mit einer kecken Handbewegung die Haare aus der Stirn.
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Die Studios im Bereich Tempelhof waren ein Sammelsurium aus der Frühzeit des deutschen Kinofilms. Kommissar Konter, der mittlerweile unter dem Leiter der Mordinspektion Ernst Gennat zu dessen rechter Hand aufgestiegen war, genoss jetzt einige Vorteile. Er hatte ein größeres Büro erhalten, und ihm war sogar stundenweise eine Schreibkraft zugewiesen worden. Außerdem musste er sich um Spesen wie die Kosten für das Taxi, das ihn in die Oberlandstraße brachte, nicht mehr kümmern. Er hatte sich durch den Pförtner des Präsidiums beim Filmstudio ankündigen lassen. Und ein Kollege der Ordnungspolizei war vom Bereitschaftsdienst angewiesen worden, Konters Assistenten Jens Druwe zum Tatort zu bringen.
Der ältere Kripobeamte traf als Erster bei der genannten Adresse ein und nutzte die Zeit für eine schnelle Zigarette. Nachdem er drei Züge genommen hatte, ratterte ein seltsames Wägelchen aus Richtung Knesebeckstraße heran. Es hatte einen grünen Anstrich, einen Polizeiwinker seitlich am Dach und sah mit seinem einzigen Scheinwerfer vorn aus wie die Miniatur eines Zyklopen. Konter brach in schallendes Gelächter aus, so dass der Glimmstängel zu Boden fiel.
Druwe saß gebeugt und mit eingezogenem Kopf in dem Vehikel und starrte grimmig zu seinem Chef, als er sich mühsam aus der Beifahrertür schälte. Danach stieg ein Wachtmeister aus und warf sich stolz vor dem Wagen in Pose. Dabei klopfte er aufs Wagendach, als tätschelte er einen Schoßhund.
»Was ist das denn?«, fragte Konter den Kollegen von der Orpo, nachdem er ihn und seinen Mitarbeiter gegrüßt hatte. Der deutlich jüngere Druwe schüttelte nur den Kopf und steckte sich seinerseits eine Zigarette an.
»Ein Hanomag.« Der Streifenbeamte nahm Haltung an und streckte die Brust vor, so dass sein Dienstwagen noch kleiner wirkte. »Ein Tauglichkeitstest. Alltagseinsatz und so. Sie verstehen, Herr Kommissar?«
Natürlich kannte Konter das Fahrzeug. Er bekam von Franz Sass, der ein Autonarr war, regelmäßig die ausgelesenen Magazine und Motorzeitschriften. Das Fahrzeug hatte bereits bei der Pressevorstellung vor einigen Monaten den Spitznamen »Kommissbrot« erhalten. Zu Recht, wie der Kripobeamte fand. Das Teil sah eher aus wie eine Keksdose auf Rädern. Zu allem Überfluss war es eine Keksdose mit nur einer Tür auf der linken Seite. Und dem Lenkrad auf der rechten Seite. Wenn der Fahrer also aussteigen wollte, musste erst der Begleiter hinaus an die Luft. Niemals hätte er für möglich gehalten, dass die Berliner Polizeibehörde eine Verwendung als Einsatzfahrzeug in Erwägung ziehen würde.
»Sind Sie sicher, dass dieser …« Konter grinste spöttisch. »Dass dieser Wagen die Kollision mit einer Hutschachtel aushält?« Er zeigte auf den engen Innenraum. »Im Übrigen scheint es mir ungemein praktisch, dass der Fahrer etwas länger zum Aussteigen braucht, weil es nur eine Tür gibt. Sehr hilfreich bei der Verfolgung von Straftätern.«
Der Wachtmeister wurde gerade zehn Zentimeter kleiner. Sein Stolz schmolz dahin wie Wachs in der Sonne. Und auch er begann plötzlich, an jeder Ecke und Kante des Hanomag zu ziehen und zu drücken. Als hätte ihm Konter die Freude an seinem Spielzeug verdorben.
»Lassen Sie das, Kollege!«, befahl Konter mit übertriebenem Ernst und konnte sich kaum das Lachen verkneifen. »Sie beschädigen Reichseigentum.« Er wandte sich an seinen Assistenten. »Was erwartet uns, Jens?«
Es war Aufgabe eines Kriminalassistenten, sich möglichst schnell ein Bild zu machen. Konter erwartete, dass sein Mitarbeiter sich bereits vorher bei den Kollegen am Alex erkundigt hatte.
»Ich weiß auch nicht viel mehr als Sie, Chef«, antwortete Druwe. »Sie kennen ja die Leute vom Film. Immer wichtig, immer laut. Die Kollegen vom Bereitschaftsdienst haben keine vernünftige Beschreibung bekommen. Stattdessen hat irgendein Produktionsleiter hysterisch ins Telefon gekeift, dass der Polizeipräsident und der Bürgermeister kommen müssten.«
In diesem Augenblick kam ein aufgeregter Angestellter über das Werksgelände gelaufen und winkte ihnen hektisch zu.
»Hierher, meine Herren!«, rief er. »Mein Gott, ein Toter! Kommen Sie doch!«
Seine eher dickfelligen Kollegen Grote und Buber hätten wahrscheinlich mit der Bemerkung »Tot? Dann eilt es sicher nicht« reagiert und dämlich gegrinst, als wäre es der Witz des Jahrzehnts. Aber Paul Konter schaltete in solchen Situationen innerlich um. Ein Verbrechen war kein Scherz. Nichts daran war lustig. Und ein Mensch war keine Sache. Folglich war jede Art von Humor in diesem Zusammenhang unangebracht.
»Meine Herren, hier entlang, bitte«, sagte ein weiterer Mitarbeiter der Ufa, der sie an einer Seitentür erwartete und gekleidet war wie ein englischer Butler. »Mein Name ist Krüger, Hans Krüger. Ich bin der Maître d’ensemble und hier zuständig für die Organisation.« Er wedelte nervös mit einem chinesischen Fächer vor seinem Gesicht, obwohl es hier unangenehm kühl war. Selbigen nutzte er offenbar auch, um seinen Anweisungen den Ausdruck gelangweilter Wichtigkeit zu geben, denn seinen Kollegen scheuchte er mit einem Wedeln fort wie eine lästige Fliege.
»Der Maître d’ensemble«, wiederholte er, als befürchtete er, die Kripobeamten könnten ihn nicht verstanden haben. »Ohne mich geht gar nichts.« Er fächerte sich Luft zu. »Aber wer dankt es einem? Manchmal springe ich sogar als Komparse ein. Wie heute.« Er wies auf seine Livree. »Entschuldigen Sie diesen unwürdigen Aufzug.«
Konter und Druwe standen jetzt vor einem Glasatelier. So nannten die Filmemacher alle Bauten, die über ein Glasdach verfügten. Das Licht der Kunstlampen war für die geringe Empfindlichkeit der fotografischen Emulsion oft zu schwach, folglich nutzte man auf diese Weise das Tageslicht. Manchmal handelte es sich bei den Gebäuden nur um eine Art besseres Gewächshaus, hier jedoch war es eine Fabrikhalle, deren obere Glasflächen auf riesigen Stahlträgern ruhten.
»Ich dachte, die Ufa wäre nach Babelsberg umgezogen«, sagte Druwe erstaunt.
»Das Fußvolk, ja«, erwiderte Krüger sichtlich erfreut, über sein Lieblingsthema sprechen zu können. »Für die feinen, technisch sehr aufwändigen Aufnahmen braucht man hingegen uns. Man nennt es jetzt Tricktechnik. Wir sind derart gut, dass sogar die Konkurrenz unsere Ausstattung mietet. Auch aus dem Ausland kommen Produzenten, um sich beraten zu lassen. Erst neulich war ein russischer …«
»Schön, sehr interessant. Aber wie wäre es, wenn wir uns der Sache widmen?« Konter sah seinen Assistenten mahnend an. Er wusste, dass Jens Druwe – wie fast alle jungen Leute – ganz vernarrt war in alles, was mit Kintopp zu tun hatte. »Die Angaben Ihres Mitarbeiters am Telefon schienen doch recht verwirrend. Als wäre der Mann betrunken gewesen.« Oder er hatte Koks gezogen, dachte Konter, aber diese Vermutung behielt er für sich.
»Nehmen Sie es uns nicht übel, Herr Kommissar«, sagte der Butler-Assistent. »Hier stehen alle Mitarbeiter unter einem enormen Druck. Zeit ist Geld, heißt es. Drei tödliche Unfälle letztes Jahr bei Dreh- und Bauarbeiten. Immer wieder Verletzte. Dazu Filmszenen, in denen gelitten und gestorben wird. Man stumpft irgendwie ab.«
»Moderne Zeiten, Chef«, meinte Druwe und sah sich um.
Die Deckenhöhe der Halle musste über zwanzig Meter betragen. Das Dach schien vorwiegend aus einer Stahlkonstruktion errichtet, bewegliche Wände trennten einzelne Bereiche ab. Im Inneren befand sich eine Art Skelett, ebenfalls aus Stahl, an dem Scheinwerfer, Spiegel und Kabel hingen. Ein kleiner Kran konnte mehrere Sitzschalen in luftige Höhen heben. Paul Konter vermutete, dass die Kameramänner ihre tollkühnen Einstellungen von diesen Positionen aus drehten.
»Eine Handkamera!«, rief Druwe begeistert und ging zu einem Tisch, auf dem ein Kasten aus Holz und Metall stand, an dessen Seite eine Kurbel herausragte.
»Bitte fassen Sie nichts an«, fuhr ihn der Assistent an, als der Kripobeamte gerade ehrfürchtig mit der Handfläche über eine riesige, ihm in ihrer Funktion unbekannte Maschine strich und dann deren Oberfläche abklopfte. »Herr Lang ist da sehr eigenwillig. Er sieht am Morgen, wenn eine Requisite um ein paar Zentimeter verschoben wurde.«
»Das Ding ist aus Pappe«, sagte Druwe verwundert, ohne sich um die Rüge zu kümmern.
»Illusion ist die neue Wirklichkeit.« Der Maître hob die Schultern. »Wir hatten Reporter hier, die über Neuerungen der Filmtechnik berichten wollten. Echte Handkameras sind nicht mit Gold zu bezahlen. Da haben wir für die Führung eine Attrappe bauen lassen.«
Wie zur Bestätigung führte der Mann die Polizisten zu einem Raum, in dem eine Reihe von Schaufensterpuppen zu stehen schien. Als er den Lichtschalter betätigte, waren dunkelgrau bemalte Gestalten zu erkennen, deren Körper mit Kabeln und Schläuchen versehen waren. Der Kopf bestand nur aus einem Helm, aus dem Glasaugen starrten.
»Die Maschinenmenschen«, erklärte der Assistent mit Stolz in der Stimme. »Herr Lang braucht sie für seinen neuen Film. Er dreht zwar überwiegend draußen in Babelsberg. Aber wie gesagt, für die Feinarbeiten und Tricktechnik sind wir zuständig.«
»Maschinen … Menschen? Können sie sich bewegen? Ich meine, steuern Sie sie?«
»Im Drehbuch steht es zwar so, aber nur für die Reporter der Magazine. Technisch wäre es viel zu aufwändig. Meistens stehen die Pappkameraden ohnehin im Hintergrund. Oder wir machen nacheinander Aufnahmen. Sehen Sie!« Er hob den Arm einer Puppe langsam an. »Wenn wir jede Einstellung einzeln aufnehmen, dann wirkt es später im Film, als hätte sich der Kerl selbst bewegt.« Er zeigte auf eine Figur, die sich am Rücken öffnen ließ. »Zwei sind so gearbeitet, dass ein kleiner, schlanker Mensch hineinpasst. Er bewegt sich, und es sieht aus, als wäre es eine Maschine. In Metropolis ist die Hauptdarstellerin eine Maschinenfrau.«
»Könnten wir vielleicht zur Sache kommen?« Konter wurde ungeduldig.
»Hier hinten ist es.«
In der Ecke lag ein halb umgekippter Maschinenmensch.
»Wir hätten wahrscheinlich nichts bemerkt, wäre der Fahrer nicht unachtsam gewesen.«
»Fahrer?«, fragte Druwe.
»Die meisten Figuren stehen auf einem Podest mit Rollen. Sie werden mit einem Wagen dorthin gefahren, wo man sie braucht. Wäre das Ding nicht umgefallen …« Der Mann zeigte auf eine Figur. »Aber sehen Sie selbst.«
Konter trat näher an die seltsam verrenkte Gestalt heran. Sein Assistent nahm eine Taschenleuchte, wies jedoch ihren Begleiter an, für besseres Licht zu sorgen. Konter, der seine Gummihandschuhe übergezogen hatte, zog ein Stück Pappmaschee zur Seite.
»Was …?« Er fuhr erschrocken auf und schlug dabei seinem jungen Kollegen die Leuchte aus der Hand.
Ein leichter Duft von Eukalyptus stieg beiden Männern in die Nase. Daneben noch eine stechend-beißende Note.
»Ich kenne den Geruch«, meinte Druwe plötzlich. »Formalin. Bei meinem Schwager in der Gerichtsmedizin riecht sogar der Schnaps danach.«
Der Assistent kam mit einem Scheinwerfer zurück, der kurz darauf die makabre Szene gut ausleuchtete. Offenbar befand sich ein Leichnam in der Filmpuppe. Als der Ufa-Arbeiter mit seinem Hubwagen dagegen gefahren war, hatte die Papphülle nachgegeben und war in der Mitte zerbrochen. Das obere Teil lag am Boden, der Rumpf und die Beine standen noch auf der Grundplatte. Eine Art Sack hing über die Hüfte gebeugt aus dem Maschinenmenschen heraus.
»So etwas habe ich noch nicht erlebt«, entfuhr es Konter. »Die Leiche ist weder frisch, noch wird der Täter sie hier vor Ort derart vorbereitet haben.«
»Präpariert, Chef«, unterbrach ihn Druwe.
»Von mir aus. Jemand muss den Kerl präpariert haben. Aber warum hat er ihn danach in eine solche Attrappe modelliert?«
»Nicht modellieren«, kam es von hinten. Der Maître hielt ein Taschentuch vor die Nase und wedelte hektisch mit dem Fächer. »Es ist der zweite Körper, in den ein Mensch passt. Falls der erste Schaden nimmt.«
»Weshalb gibt es zwei Puppen, in die ein Schauspieler passen muss?«, fragte Konter.
»Die Hauptdarstellerin, das Fräulein Helm, wird in einigen Szenen darin stecken«, erklärte der Mitarbeiter. »Nur dann wirken die Bewegungen natürlich. Wie gesagt, dieses Modell ist die Ausweichpuppe. Sie wird nur gebraucht, falls das Original Schaden nehmen sollte. Der Rest unserer Maschinenmenschen ist sehr viel gröber gearbeitet, was jedoch im Film nicht auffallen wird.«
»Werden die Dinger hier gebaut?«, fragte Druwe den Assistenten und zeigte auf die Reihe der Pappkomparsen. Der Mann hielt zwar etwas Abstand, sah den beiden Polizisten jedoch immer wieder neugierig über die Schultern.
»Keine Ahnung. Der Requisitenbau ist im alten Atelier. Und einige Sachen kommen aus Werkstätten, die über die Stadt verteilt sind. Die Zulieferer fallen nicht unter meine Zuständigkeit.«
»Finden Sie heraus, wann sie das letzte Mal in Gebrauch waren, Jens«, wies Konter seinen Assistenten an. »Wer hat hier wann herumgewerkelt? Und gehen Sie die Lieferlisten der letzten Wochen durch. Eine Leiche bringt man schließlich nicht in der Aktentasche hierher. Unser Majordomus kann Ihnen sicherlich behilflich sein. Wir wollen ja keine große Anfrage daraus machen, nicht wahr?«
»Maître, bitte.« Der Angestellte nickte. »Aber ja, machen Sie bloß wenig Aufhebens darum. Herr Lang und Herr Pommer wären nicht begeistert. Selbstverständlich haben Sie meine volle Unterstützung. Nur keinen Skandal, bitte.«
»Wir können im Moment nicht viel tun«, unterbrach Druwe den Redeschwall des Mannes und wandte sich direkt an Konter. »Die Sache muss sich erst der Erkennungsdienst ansehen, sonst ruinieren wir die Spuren.«
Konter nickte. Es war keine Gefahr in Verzug. Weder konnten sie ein Leben retten noch würden sie den Täter schneller dingfest machen, wenn sie jetzt weiterhin hier herumliefen. Es bestand kein Grund, die Arbeit der Spurensicherung zu behindern. Er sah auf seine Handschuhe und überlegte kurz. Dann glättete er die Hülle, die sich in der Art eines dünnen Leichensacks um den darin befindlichen Körper legte. Im oberen, nach vorn gekippten Bereich werkelte er an Leinenbändern herum, bis er endlich den Stoff über den Kopf des Toten schieben konnte. Er fuhr vor Entsetzen zurück.
Der Formalin-Geruch stieg als Welle aus dem Sack und raubte ihm kurz den Atem. Doch schrecklicher war, was er sah.
»Mein Gott!«, entfuhr es Druwe, der hinter ihm stand. »Was ist das denn?«
Beide Männer hatten im Lauf der Jahre viel gesehen. Konter war mit dem Innen und Außen des Menschen durch seine Jahrzehnte bei der Polizei wohl vertraut. Und der junge Druwe hatte im Krieg in einer Art Zeitraffer ähnliche Erfahrungen gesammelt. Dennoch gab es immer wieder Momente, die den abgebrühtesten Kriminologen und abgestumpftesten Veteranen überraschten. Beide Männer blickten auf ein Gesicht, das mit einer milchig durchscheinenden Schicht bedeckt zu sein schien. Die Augen des Toten waren geöffnet und seltsamerweise nicht trübe. Ein glasklares Blau der Iris starrte ins Nichts. Konter nahm seinen Bleistift und drückte mit der stumpfen Seite vorsichtig in die Weichteile der Wange. Mit einem Plopp gab die Schicht nach, und der Stift verschwand im Gewebe. Ebenso verfuhr er vorsichtig mit einem Auge. Ein helles Klicken erklang.
»Glas«, murmelte er erstaunt.
»Eine Frau«, meinte Druwe. »Sehen Sie sich die Lippen und Augenbrauen an, Paul.«
»Lippenstift und Lidstrich.« Konter nickte. »Muss zwar in Berlin und vor allem beim Film nichts heißen, aber die Größe des Körpers und die Gesichtsform weisen ebenfalls daraufhin, dass es sich um ein weibliches Opfer handelt.«
»Irgendwo Blut?«
Konter schüttelte den Kopf. Dann versuchte er, einen Blick auf den Hals der Toten zu werfen. Erwürgen war immer noch die häufigste Art, durch die Frauen gewaltsam zu Tode kamen.
»Keine Würgemale, Schädelknochen scheinen intakt, keine Einstichstellen an Hals und Brustbereich«, sagte er. »Die Sache ist oberfaul, Jens. Sperren Sie den Fundort der Leiche ab. Und ich will die Namen aller Angestellten und Arbeiter, die in den letzten zwei Wochen auch nur in die Nähe dieser Maschinenpuppen gekommen sind. Selbst den Bäckerjungen, der morgens die Brötchen bringt, will ich auf der Liste sehen. Klar, Jens?«
Druwe nickte und gab die Anweisungen an den Wachtmeister weiter, der etwas verloren am Eingang des Ateliers stand und dort aufmerksam einen Damenstrumpf musterte, der an einer Türklinke hing.
Präpariert, dachte Konter und untersuchte die Hülle der Maschinenpuppe. Wie in der Anatomie oder Gerichtsmedizin. Der intensive Geruch nach Formalin und Eukalyptus drang bei jeder winzigen Bewegung des toten Körpers an seine Nase. Es mochte auch Campher dabei sein. Wenn Druwes Schwager, Dr. Schmid, ihnen bei den Obduktionen Befunde an Leichnamen erläuterte, roch es ebenso. Die Figur selbst war aus einer Art Holzleim gefertigt, innen rau mit kleinen Spänen. Außen fein geschliffen, poliert und offenbar mit Schellack überzogen. Der äußere Eindruck von Metall war täuschend echt gelungen. Konter riss sich von dem Anblick los. Er konnte zunächst nichts weiter tun als warten. Dieser Körper war tot, daran bestand kein Zweifel. Vor Ort den oder die Täter zu erwischen, erschien aussichtslos. Also gab es keinen Grund, weitere Spuren zu verwischen oder gar zu zerstören.
Eine halbe Stunde später erschien der Kriminalkollege vom Erkennungsdienst mit seinem Gehilfen. Die Fachinspektion I hatte sich – auf Druck Gennats – von der »Idiotenabteilung« zur respektablen Säule der Mordermittlung gemausert. Konter tauschte sich mit seinem Kollegen kurz aus und verließ danach das Gebäude, um sich ein wenig umzusehen. Er stand gerade wieder im Freien, als über ihm eine Fokker F.VII des Aero Lloyd in Richtung Tempelhofer Flugfeld donnerte.
»Mensch, Jens, vor ein paar Jahren sind hier noch Husaren des Kaiserlichen Heeres geritten«, meinte er versonnen zu seinem Assistenten, der ihm die Liste der Mitarbeiter zeigte.
»Meine Inge meint, dass irgendwann Hunderte Passagiere in den Dingern sitzen werden.« Druwes Verlobte war bekannt für ihr Faible, kaufte sich oft Magazine und Illustrierte. Sie verschlang alles Gedruckte, das mit Adelsfamilien und Schauspielern, aber auch mit Reisen in ferne Länder zu tun hatte.
»Unsinn.« Konter schüttelte den Kopf. »In die Fokker passen acht Leute. Stellen Sie sich vor, die Dinger werden größer! Und dann starten und landen fünfzig oder sechzig Maschinen am Tag! Nein, Berlin ist so schon laut genug. Es wird ein Vergnügen für die Betuchten bleiben. Irgendwann ist es ihnen zu viel, und man wird die Flugfelder wieder abbauen.«
»Was halten Sie von der Mumie?«, fragte Druwe und zeigte mit dem Daumen Richtung Atelier.
»Mumie«, murmelte Konter und nickte. Er hatte ebenfalls kurz an die mittlerweile berühmte Ägypten-Ausstellung im Neuen Museum denken müssen, als er den eingewickelten Leichnam betrachtet hatte. »Wir müssen abwarten, was der ED sagt«, meinte er dann. »Und danach ab zum Institut für Gerichtliche Medizin. Bis dahin bleibt alles reine Spekulation. Oder mit den Worten des Dicken: Heiße Luft taugt für Ballonfahrten, aber nicht für gute Kriminalarbeit.«