Katja wagte in ihrem Versteck kaum zu atmen. Sie hatte sich spät in der Nacht von einem Taxi noch einmal zur Baustelle der »Großen Halle« auf dem Babelsberger Filmgelände in Nowawes bringen lassen. Hier ging es tagsüber oft drunter und drüber. Manchmal musste man alle Bauarbeiten unterbrechen, weil zwischendurch gefilmt wurde. Und oft wurden später im Schnitt Szenen entfernt, weil Kabel oder Arbeiter im Bild zu sehen waren. In der Nacht war es in den weitläufigen Räumen jedoch gespenstisch still. Irgendwo musste Katja nach einem Streit mit dem Sekretär des Regisseurs am Nachmittag ihre Tasche vergessen haben. Und darin befanden sich dummerweise die Anweisungen für den folgenden Drehtag. Sie würde sie die ganze Nacht hindurch einstudieren, sonst war sie ihre Rolle sicherlich los. Fritz Lang war Perfektionist und überwachte selbst die kleinsten Einstellungen.
Sie zuckte jetzt zusammen, als sie Geräusche hörte, und duckte sich instinktiv hinter die Kulisse, einer aufgemalten Hoteltür aus Pappmaschee.
»Sergej Michailowitsch, so nehmen Sie doch Vernunft an!« vernahm sie eine gedämpfte Stimme hinter dem Bühnenbild. Der Unbekannte sprach Russisch.
Jekaterina »Katja« Romanowa verspürte auch nach Jahren noch diesen seltsamen Stich in der Brust, wenn sie ihre Muttersprache hörte. Die Laute riefen Erinnerungen an ihre Flucht vor den Bolschewiki wach, an die Grausamkeiten der Revolution, an den Tod ihrer Familie. Wie damals in den Wassergräben um Piter, als sie sich vor den marodierenden Truppen versteckt hatte, zuckte sie jedes Mal instinktiv zusammen, machte sich ganz klein und versuchte, sich zu verbergen.
»Ich bin kein Lakai, den man nach Belieben zu sich ruft!« erwiderte eine zweite Stimme. Katja war sicher, dass sie zu Sergej Eisenstein, dem russischen Filmemacher gehörte.
»Felix Edmundowitsch hat Ihre Rückkehr befohlen. Wenn Sie sich weigern, wird es Konsequenzen haben. Sie wissen, dass der Mann über Mittel verfügt …«
»Er ist doch auch nur ein Speichellecker dieses ungehobelten Georgiers. Und sein ekligster Bluthund«, dröhnte Eisensteins Bass durch die Halle. Er war jetzt erkennbar erregt und hatte jede Zurückhaltung abgelegt.
»Vorsicht, mit der WTSCHK ist nicht zu spaßen, Sergej Michailowitsch. Die Leitung des ZK will sie unbedingt zur Uraufführung Ihres Films in Moskau sehen. Sie wissen, ich bin auf Ihrer Seite. Ich möchte Sie vor Schaden bewahren.«
»Das Werk ist vollbracht. Stalin ist zufrieden. Und ich bin ein Künstler, ein Freigeist. Ich brauche Inspiration, keine Feierlichkeiten! Mich drängt es wie jeden guten Revolutionär voran. Ich sitze nicht auf einer Bank und blicke zufrieden zurück. Außerdem lasse ich mich nicht in Ketten legen. Nicht von Gott. Und nicht vom Genossen Stalin.«
Katja konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Eisenstein hatte gerade seinen Film Panzerkreuzer Potemkin abgedreht. Und in der ihm eigenen Art ließ er jeden in Berlin wissen, wie einmalig und großartig dieses Werk war. Mehr noch. Wie einmalig und großartig er selbst war.
»Ein notorisch aufdringlicher Mann«, hatte Toni passend bemerkt, nachdem sie einen Artikel über ihn gelesen hatte. »Alles, was er tut, steht im Dienst seines unstillbaren Geltungsbedürfnisses.«
Der russische Regisseur war berüchtigt für exzentrisches Verhalten und litt keineswegs an Minderwertigkeitsgefühlen. Einen Moment lang war Katja jetzt versucht, hinter den Requisiten hervorzutreten und das Versteckspiel zu beenden. Aber eine ungute Ahnung ließ sie zögern.
»Begreifen Sie doch, Sergej! Schon die Tatsache, dass Sie nach dem letzten Drehtag sofort abgereist sind, könnte als Affront gedeutet werden und Ihr Todesurteil bedeuten. Der Genosse Generalsekretär ist äußerst ungehalten. Sie werden ihn nur besänftigen können, wenn Sie ihm ein paar Erfolge in der Angelegenheit Rotes Erbe nachweisen können.«
»Soll er doch selbst danach suchen!«
Rotes Erbe? Katja wurde hellhörig. Wenn bedeutende Männer ihren Aktivitäten Decknamen gaben, war Vorsicht angebracht. Sie überlegte. Die WTSCHK war die alte Bezeichnung für die Geheimpolizei der Bolschewiki. Manche nannten sie auch nur Tscheka. Im Zuge einer Umstrukturierung hatte man sie vor Kurzem in GPU umbenannt. Aber es war wieder nur der alte Wein in neuen Schläuchen. Der unbekannte Gesprächspartner trat gegenüber Eisenstein offenbar als eine Art Vermittler auf, um Schlimmeres zu verhindern. Aber warum sollte es die Tscheka auf den bedeutendsten Filmemacher des neuen Russlands abgesehen haben? Katja hatte gehört, dass Panzerkreuzer Potemkin als reiner Propagandafilm für die Revolution geplant und ausgeführt worden war. Alle mussten doch mit Eisenstein zufrieden sein. Und vor allem brauchte man ihn sicherlich für weitere Werke. Dennoch hatte der Unbekannte eine unverhohlene Drohung weitergegeben.
»Sie müssen ihm beweisen, dass Sie auf seiner Seite sind«, fuhr der Unbekannte fort.
»Gar nichts muss ich«, antwortete Eisenstein. Danach schwiegen beide Männer.
»Ich habe Ihnen hiermit die Botschaft des ZK überbracht, Genosse Sergej Michailowitsch«, sagte der Mann schließlich, und er klang jetzt förmlich. »Ich wollte nur helfen. Andere Genossen wären nicht so geduldig mit Ihnen. Folglich ist meine Aufgabe erfüllt. Noch einmal bitte ich Sie, nehmen Sie Vernunft an! Ich werde noch drei Tage in der Stadt sein. Ein paar andere Geschäfte. Wenn Sie es sich anders überlegen, senden Sie mir eine Nachricht ins Hotel Fürstenhof. Andernfalls werde ich nach Moskau kabeln müssen, dass Sie sich der Aufforderung des Herrn Generalsekretärs zu widersetzen gedenken. Ich empfehle mich.«
Katja hörte Schritte in der Halle, die sich rasch entfernten. Sie verspürte keinerlei Lust, sich jetzt mit dem aufgeblasenen russischen Regisseur abzugeben. Dass Frauen vor seinen angeblich magischen Augen dahinschmolzen, fand sie befremdlich. Zwar machte sie sich ohnehin nichts aus Männern, aber der Kerl war einfach nur nervtötend. Folglich setzte sie sich nun leise auf eine Kiste und wartete einige Minuten ab. Dass Eisenstein um diese Zeit überhaupt noch hier war, schien ihr merkwürdig genug. Er war lediglich Gast beim Ufa-Regisseur Fritz Lang und hatte keine Aufgaben beim Dreh von Metropolis. Der deutsche Regisseur galt zudem als äußerst misstrauisch und fürchtete immer, jemand könnte ihm seine Ideen stehlen. Warum also war ihr Landsmann knapp nach Mitternacht überhaupt im Studio unterwegs? Die Angelegenheit war in vielerlei Hinsicht verwirrend. Endlich, nach einer weiteren halben Stunde war sie sicher, dass auch Eisenstein gegangen war. Hundemüde und auf eigenartige Weise beunruhigt suchte und fand sie ihre Tasche. Danach schlich sie am schlafenden Pförtner vorbei und bestieg das am Park wartende Taxi.
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Paul Konter hatte in dieser Nacht im Präsidium Leitenden Bereitschaftsdienst gehabt und war zehn Minuten vor der Übergabe an die Tagesschicht angerufen worden. Man hatte ihm mitgeteilt, dass am frühen Morgen ein Toter in den Filmstudios der Ufa draußen in Nowawes gefunden worden war. Er stöhnte und musste an den Leichenfund in den Studios an der Oberlandstraße denken. Ihm schwante nichts Gutes.
»Vielleicht ist es dieses Mal eine Schaufensterpuppe? Oder ein Spielzeug von Käthe Kruse«, witzelte sein Kollege Werner Grote, der ihn im Frühdienst ablösen sollte. Er grinste und blickte mit gespieltem Bedauern auf seine neue Armbanduhr. »Leider noch nicht sieben, mein Lieber. Also ist es dein Fall.«
Armleuchter, dachte Konter nur und verkniff sich eine Bemerkung. Er würde Grote, der ihn als Konkurrenten auf dem Weg nach oben sah, sicher nicht den Gefallen tun, auf die plumpe Provokation einzugehen. Der Leichnam, den sie in den Tempelhofer Filmateliers gefunden hatten, war weiterhin herrenlos, so dass kein Gras über die Sache wachsen konnte. Und formal hinsichtlich der Dienstzeit hatte Grote leider recht. Dass Konter ihm erst neulich einen Gefallen getan hatte, hielt den Mann offenbar nicht davon ab, sich wie ein Idiot aufzuführen. Als er gerade einen Dienstwagen rufen wollte, traf sein Assistent Jens Druwe ein.
»Ein Toter vor dem Frühstück?«, fragte der jüngere Mann, als ihm sein Vorgesetzter die Neuigkeit mitgeteilt hatte. Er klang beinahe begeistert. »Könnte ein guter Tag werden, Chef!«
Paul Konter hatte seinen Mitarbeiter in den letzten Monaten zwar etwas gezähmt, aber der Kerl war immer noch ungemein beflissen und bei jeder Sache emsig am Ball. Manchmal wirkte er sogar etwas vorlaut und altklug. Dafür lag er oftmals mit seinen Vermutungen und Schlussfolgerungen einfach nur goldrichtig. Die beiden Männer kamen nach einer längeren Phase des Kennenlernens und leichten Startschwierigkeiten gut miteinander aus. Der Ältere beneidete den Elan und die Möglichkeiten des Jüngeren. Er selbst war erst nach zwanzig Jahren Gendarmerie zur Kripo gewechselt und bereute, dass ihm nur noch fünf oder sechs Jahre bis zur Pension blieben. Und Jens Druwe hing förmlich an den Lippen seines Chefs, wenn die Fälle besprochen und die Planungen für eine Ermittlung ausgearbeitet wurden. Er hatte – das musste Konter zugeben – eine detektivische Ader an sich, die sehr nützlich in diesem Beruf war. Es war unverhohlene Neugier gepaart mit fundiertem Wissen. Somit Eigenschaften, die vielen Kripobeamten leider fehlten.
Der Kriminalassistent verschlang eine pralle Schrippe mit Mettwurst, die er sich eigentlich für ein gemütliches Frühstück mitgebracht hatte. Dann orderte er über die Fahrbereitschaft einen Dienstwagen. Auch in dieser Frage hatte sich ihr Chef, Ernst Gennat, endlich durchgesetzt. Sie konnten jetzt sogar über zwei Automobile verfügen. Und die Mordbereitschaft wurde nach den vielen Erfolgen der letzten Jahre auch von niemandem mehr belächelt.
»Brauchen wir das Mordauto?«, fragte Druwe.
»Warten wir erst ab, was wir vorfinden«, erwiderte Konter vorsichtig und dachte an Grotes Bemerkung. »Vielleicht wieder ein Obdachloser, der sich in den Hallen der Ufa aufwärmen wollte und ein Stromkabel angefasst hat.«
Stromunfälle kamen in den letzten Monaten immer häufiger vor. Die Leute wollten Gas, Kohle und Holz sparen und kamen auf die seltsamsten Ideen. Ein armer Zeitgenosse war erst neulich in seinem Bett verbrannt, weil er sich aus den Metallfedern des Gestells eine Heizmatte gebaut und direkt Stromkabel daran angeschlossen hatte.
Nach einer Viertelstunde untätigen Wartens meldete der Pförtner über die Hausleitung, dass das Fahrzeug unten in der Dirksenstraße bereitstand.
»Hoffen wir, dass die Sache nicht wieder ein Reinfall ist. Noch ein herrenloser Leichnam und wir können unser Geld als Kasper auf dem Jahrmarkt verdienen.«
Die Fahrt nach Südwesten Richtung Nowawes dauerte länger als gedacht, da auf der alten Berlin-Potsdamer Chaussee – mal wieder – gebaut wurde. Eine ganze Kleinstadt hatte sich am Rand der Millionenstadt dem Film verschrieben. Ob Decla, Bioscop oder Ufa, seltsamerweise zog diese ehemalige friderizianische Kolonie alles an, was bewegte Bilder auf Zelluloid bannen wollte. Nach gut einer Dreiviertelstunde hielt der Adler endlich am Vorplatz des Filmgeländes, der als weitläufiges Rund angelegt war.
»Wieder eine Fabrikhalle«, murmelte Konter. »Im Kintopp denkst du, alles ist echt. Dabei werden hier nur Kulissen zusammengezimmert.«
Das dreistöckige Gebäude, im Stil des Historismus errichtet, war tatsächlich anfangs als Manufaktur für Tuche genutzt worden. Noch vor dem Krieg hatten jedoch Kameraleute der Filmgesellschaft Bioscop, denen es in der Stadt zu eng geworden war, das Gelände entdeckt und gekauft. Auffällig stachen die hohen Industriefenster ins Auge, die jeweils vom unteren Geschoss bis zum Dachfirst in Lisenen aus Backstein gerahmt waren. Links vom Vorplatz, an das Gebäude angelehnt, stand jene Art von typischem Gewächshaus, das die Filmleute Lichtatelier nannten. Konter hatte ähnliche Bauten auf dem Ateliergelände in Tempelhof gesehen. Offenbar waren auf einer riesigen Brachfläche nebenan umfangreiche Arbeiten für einen Neubau in Gange.
»Eene Marotte von unsern Fritze Lang«, sagte der Pförtner und wies mit dem Kopf zur Baustelle. »Ohne eenen neuen Kuhstall hätt er seenen Kaiser Wilhelm nich unter die Verträje jesetzt.«
Nachdem sie sich als Polizisten ausgewiesen hatten, wurden Konter und sein Assistent zu einem Nebengebäude dieser noch nicht fertiggestellten »Großen Halle« geführt. In einem gigantischen Gebäude sollten in Zukunft die Großproduktionen der Ufa gedreht werden. Hier wäre man vor den Berliner Wetterkapriolen sicher, ohne dass die Zuschauer bei jeder Einstellung merkten, dass man innen gedreht hatte. Böse Zungen behaupteten allerdings, die Halle würde derart groß werden, dass sich in ihr ohnehin wieder Regenwolken bilden konnten.
»Da drin muss ich mich nachher unbedingt umsehen«, meinte Druwe fast enttäuscht, als sie ein sehr viel kleineres Lichtatelier betraten, in dem es muffig roch. Er zeigte zum Rohbau der Filmhalle, die angeblich in nur fünf Monaten anlässlich des neuen Streifens von Fritz Lang errichtet werden sollte. »Inge bringt mich um, wenn ich ihr nicht alles erzähle. Sie hat davon in einem Magazin gelesen.«
Natürlich, wo sonst?, dachte Konter, den solche Neuigkeiten wenig interessierten. Das alte Glashaus, in dem sie sich jetzt befanden, war für Aufnahmen der ersten Stummfilmzeit genutzt worden. Anfangs hatten die Filmemacher sogar auf Dachböden von Mietshäusern gedreht, deren Ziegel bei gutem Wetter einfach abgedeckt wurden. Da es wegen des leicht entzündlichen Zelluloids in den engen Gassen und selbst auf dem späteren Filmgelände an der Oberlandstraße in Tempelhof immer wieder zu gefährlichen Schwelbränden und sogar Explosionen gekommen war, hatte die Berliner Feuerwehr den Bau von neuen Gebäuden außerhalb der Stadt gefordert. Asta Nielsen hatte bereits hier in Nowawes, der beschaulichen Gemeinde nahe Potsdam, gedreht. Und natürlich auch die unvergleichliche Pola Negri, für die Konter eine heimliche Leidenschaft hegte. Sichtlich fasziniert betrachtete Druwe einige alte, liegen gebliebene Requisiten, die meist schon vergammelt oder von Motten angefressen waren. Alles wirkte, als würden an diesem Ort bereits seit Jahrzehnten Filme gedreht. Dabei war das Kino gerade einmal zehn Jahre aus seinen Kinderschuhen heraus. Vereinzelt lagen sogar Fotografien auf dem Boden. Er sah sich verstohlen um, bevor er ein paar Bilder und eine verlorene Straußenfeder in seiner inneren Manteltasche verschwinden ließ. Plötzlich kam ein rundlicher, junger Mann mit hoher Stirn und Schwabbelwangen auf sie zu.
»What …?« Offenbar besann er sich. »Was machen Sie hier?«, fragte er in diesem typischen Deutsch mit englischem Akzent, das immer wirkte, als lägen dem Sprecher ein paar Erbsen unter Zunge. »Ich drehe gerade eine wichtige Szene ab.«
»Kriminalpolizei Berlin«, entgegnete Konter leicht gereizt, da Druwes Konzentration durch leicht bekleidete Damen auf einer Bühne abgelenkt schien.
»Der tote Russe?«, fragte der Regisseur und seufzte. Dann wandte er sich an seine Schauspieler und klatschte in die Hände. »Halbe Stunde Pause. Scotland Yard ist da.«
Seine Exzellenz gewährt mir eine halbe Stunde, dachte Konter. Wie gnädig. Und weshalb Scotland Yard? Diese Leute waren doch allesamt Nervensägen. Und Wichtigtuer, die am liebsten den Lauf der Sonne verändern würden, wenn es nur ein besseres Licht gäbe. Er nahm sich vor, selbst dann eine Stunde zu brauchen, wenn sich herausstellte, dass der Tote tatsächlich nur eine Schaufensterpuppe war. Der beleibte Mann rief einen Laufburschen zu sich.
»Ja, Herr Hischkuck, was kann ich für Sie tun?«
»Zeigen Sie diesen Gentlemen, wo das tote Subjekt gefunden wurde.«
»Folgen Sie mir bitte, meine Herren.«
Sie gingen zu einer Tür, die offenbar zu einem halb in die Erde eingelassenen Tunnel führte.
»Wohin geht es hier?«, fragte Druwe den Mann.
»Zur Fabrik. Herr Lang wünscht, dass kleinere Szenen seines neuen Films hier gedreht werden. Es ist aber eine schnelle Absprache nötig, und oft werden die Schauspieler dann auch drüben gebraucht. Unglücklich, wenn der Berliner Regen oder starker Wind eine neue Maske erfordern. Um die Gebäude zieht es wie Hechtsuppe. Der Verbindungsgang macht es für unsere Stars und die Komparsen ein wenig kommoder.« Sie waren gerade drei Meter weit gegangen, da wies der Regieassistent auf eine Nische. »Hier ist es.«
Ein etwa vierzigjähriger, kräftiger Mann lag tot auf dem Rücken. Die Augen waren geöffnet und starrten ins Nichts. Blut hatte sich auf dem Boden unter ihm verteilt. Konter hatte im Lauf seiner – spät begonnenen – Laufbahn bei der Kripo einige tote Opfer von Verbrechen gesehen. Und sich dennoch nicht an ihren Anblick gewöhnt. Diese Menschen waren dem Leben nicht durch Krankheit, Unfall oder Alter entrissen worden. Rohe Gewalt hatte ihren Daseinsfaden durchtrennt. Und eben diese Vorstellung ängstigte Konter auch heute noch. Wie dünn war das Band, das einen Menschen im Leben hielt. Wie wenig war nötig, um es zu durchtrennen. Schon wartete das Jenseits. Wenn es ein solches überhaupt gab. Er kannte viele Kollegen, die diese Urangst vor dem plötzlichen Nichts durch Zynismus und betonte Lässigkeit überspielten.
»Wir brauchen also doch das Mordauto«, stellte Druwe fest, und Konter nickte zur Bestätigung. Sofern der Tote nicht zufällig gestolpert und rückwärts auf einen großen, scharfen Gegenstand gefallen war, mussten die Blutmenge und die Art des Auffindens auf das Einwirken einer weiteren Person hindeuten.
»Bevor Sie im Präsidium anrufen«, hielt der Kommissar seinen Mitarbeiter zurück. Er nahm einen Stift und drückte auf der Haut des Toten herum. Dann beugte er sich zum Blut hinunter und roch daran. »Kein Parafin, kein Kleber. Ich wollte nur sichergehen.«
»Totenflecke, Chef.« Druwe nickte und wies auf den rechten Unterarm des Leichnams, der an der Seite rötlich violett schimmerte. Die Ärmel von Anzugjacke und Hemd waren hochgerutscht. »Allerdings nur geringe Ausprägung.«
»Bei dem Blutverlust kein Wunder«, erwiderte Konter. Er atmete auf, und beide Männer sahen sich wissend an. Dieses Mal mussten sie unbedingt sichergehen, dass es sich um ein Opfer handelte, das nicht schon vorher eine Leiche gewesen war. Er wandte sich an den nervös vor sich hin hüstelnden Filmassistenten, der sich zwar im Hintergrund hielt, aber immer wieder ein Auge in Richtung Leichnam riskierte.
»Woher wusste dieser Regisseur?« Konter deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Woher wusste er, dass der Tote Russe ist?«
»Ich habe eine Brieftasche bei ihm gefunden«, antwortete der Assistent, den die offenbar für seinen Beruf typische Neugier veranlasst hatte, eigenmächtig ein Beweisstück an sich zu nehmen. »Mark, Rubel und seine Dokumente. Irgendein Itsch.«
Und natürlich hatte hier jeder Depp das Ding bereits in der Hand gehabt, dachte der ältere Kripobeamte und stöhnte.
»Bringen Sie mir die Brieftasche, Mann! Wickeln Sie sie aber in ein Taschentuch und fummeln Sie nicht mehr dran herum. Sie ruinieren Beweismaterial.«
Der Kerl trollte sich murrend, und Konters Mitarbeiter näherte sich wieder vorsichtig dem Leichnam. Er trug jetzt Handschuhe mit einem hauchdünnen Überzug aus Gummi arabicum. Ihr Chef Gennat hatte durch Versuche und das Studium der Fachliteratur herausgefunden, dass auf diese Weise weniger Spuren verwischt wurden. Druwe drehte den Körper vorsichtig um und achtete darauf, nirgendwo mit den Handschuhen hängen zu bleiben. Die Dinger waren sündhaft teuer, und die Kripobeamten waren gehalten, sie mehrmals zu verwenden.
»Der Körper lässt sich kaum bewegen«, meinte er. »Die Leichenstarre ist ausgeprägt, aber noch nicht vollständig.«
»Bei dieser Temperatur können wir also von etwa sechs Stunden ausgehen.« Konter notierte die Angaben.
»Drehung nicht möglich«, fuhr Druwe fort. »Als würde etwas den Leichnam hinten festhalten.« Er gab weitere Bemühungen auf, die Lage des Körpers zu verändern. Dadurch würde er die Arbeit des Erkennungsdienstes nur unnötig erschweren.
»Es muss Wunden am Rücken geben«, sagte Konter. Er schätzte, dass der Mann mehr als zwei Liter Blut verloren hatte. Eher ungewöhnlich. Wenn das Herz nicht mehr schlug, kam es aus den Wunden üblicherweise nur noch zu Sickerblutungen. »Die Blutmenge spricht für eine schwere Verletzung von Brust- oder Bauchorganen. Aber warten wir einfach ab, was der ED sagt.«
»Keine weiteren Blutspuren«, meinte Druwe, der die nähere Umgebung mit seiner Lampe abgesucht hatte. »Es ist also höchstwahrscheinlich hier passiert.«
»Der Tatort entspricht wahrscheinlich dem Fundort«, murmelte Konter und ergänzte seine Notizen. »Entweder starb das Opfer schnell an Ort und Stelle.«
»Oder aber der Mann war durch schnellen Blutverlust zu geschwächt, um sich noch weiterzuschleppen«, ergänzte Druwe. »Keinesfalls aber wurde er woanders getötet und hier nur abgelegt. Denkbar wäre auch, dass Handgreiflichkeiten im Rahmen eines Streits zu einem Unfall führten. Dass also keine Tötungsabsicht vorlag.«
»Sie sehen, dass Gennat völlig recht hat«, meinte sein Vorgesetzter. »Ohne Spurensicherung und Gerichtsmedizin ist moderne Kriminalistik nicht möglich. Ohne handfeste Hinweise tappen wir im Dunkeln. Die Sache soll dieses Mal unbedingt Ihr Schwager machen, Jens«, wies er seinen Assistenten an. »Wir brauchen schnelle Ergebnisse. Und Sie sagten doch, dass er aus München zurück ist.«
Druwe nickte und schätzte einige Entfernungen ab, die er ebenfalls in seinem Heftblock festhielt. Er zeigte in die Richtung, aus der sie in den Durchgang getreten waren.
»Ich denke, der Mann ist aus dem Glashaus-Atelier gekommen, als er überfallen wurde. Die Lage des Körpers deutet darauf hin. Andernfalls wäre die Drehung anders.« Druwe sah seinen Vorgesetzten an und korrigierte sich schnell. »Natürlich nur eine Hypothese. Mit einem großen Fragezeichen. Zudem keine Abwehrverletzung im vorderen Körperbereich. Der Täter könnte ihn von hinten überrascht haben.«
»Oder es war jemand, den er kannte und dem er vertraute.« Konter nickte. »Schreiben Sie alles auf, Jens. Sie kennen den Dicken.« Er kratzte sich an den kurzen Bartstoppeln und schnalzte dann mit der Zunge. Der dumpfe Ton schien im Durchgang seltsam zu wabern, an Wänden und Decke abzuprallen und kam als schwaches Echo zurück. »Wenn der Mann nicht sofort tot war, muss doch jemand die Tat bemerkt haben.«
»Es war mitten in der Nacht, Chef«, meinte Druwe. »Denken Sie an die Totenstarre.« Er grinste unverschämt.
»Sie sind ein übereifriger Klugscheißer, Jens. Damit kommen Sie als Beamter nicht weit.« Beide Männer lächelten. Der Filmassistent kehrte mit den Habseligkeiten zurück, die man bei dem Toten gefunden hatte. Konter verdrehte die Augen, als er sah, dass sich darunter auch noch ein Schlüsselbund, ein merkwürdig geformter Hut und eine Dokumentenmappe befanden.
»Habt ihr den Mann etwa ausgeplündert?«, fuhr er den Boten an. »Macht man das so beim Film, ja? Ist ja ein Wunder, dass der arme Kerl noch seine Schuhe und Strümpfe trägt!«
»Unbefugten ist der Zutritt hier nicht gestattet«, versuchte der Mann sich zu verteidigen. »Ich musste schließlich die Personalien feststellen.«
Der Ungeist des Untertanentums schien in der Filmbranche auf guten Nährboden zu fallen, überlegte Konter. Druwe nahm die Sachen an sich. Er untersuchte kurz die Schlüssel, die mit einem Lederband zusammengehalten worden waren und in einem Etui steckten. Es waren zwei Bartschlüssel und einer dieser neuen Zylinderschlüssel. Die Brieftasche und Dokumentenmappe legte er zur Seite und betrachtete den Hut.
»Das Schlüsselband wurde sauber durchtrennt«, meinte er und wies auf einen Schnitt seitlich des kleinen Knotens. »Ein Taschenmesser. Vielleicht hat unser Täter einen vierten Schlüssel mitgehen lassen.« Er untersuchte den modernen Zylinderschlüssel. Sie waren in Berlin noch nicht allgemein üblich. »Na bitte«, meinte er triumphierend. »Das Ding hat eine Prägung. Hotel Fürstenhof. Eine erste Spur.«
»Was ist denn das für ein schrecklicher Fedora? Gibt es nicht mehr genug Stoff für ordentliche Hüte?«, fragte Konter und griff nach der Kopfbedeckung. Er betrachtete abschätzig den Hut, der wirkte, als wäre er zu heiß gewaschen worden. Er hatte mittlerweile ebenfalls seine Handschuhe übergezogen.
»Es ist kein Fedora, sondern ein Trilby«, sagte sein Assistent wie beiläufig. »Sie müssen mal mit der Zeit gehen, Chef. Fedora trägt doch jeder.« Er veränderte seine Stimme und klang jetzt wie ein Anpreiser in der Modeabteilung bei Wertheim. »Jedoch hat unser hochmodischer Trilby diesen Hauch von Extravaganz, den der Mann von heute braucht, um immer elegant und souverän aufzutreten.«
»Aha. Haben Sie dieses Wissen auch aus der Modezeitschrift Ihrer Verlobten?« Konter mochte das Gefühl nicht, immer mehr zum Alteisen zu gehören. Diese Zeit rauschte schneller an ihm vorbei als ein D‑Zug. Er nahm sich vor, öfter Toni in Sachen Mode um Rat zu fragen. Man musste schließlich nicht immer sofort als unbelehrbarer Nostalgiker auffallen.
»Wer hat das Ding hergestellt?«, fragte der Jüngere, ohne auf die ironische Frage einzugehen.
»Lock & Co. Hatters. London«, antwortete Konter und wies auf das Schild im Futterdach. »Aber da sind auch russische Buchstaben.«
»Edel. Wusste gar nicht, dass die Bolschewisten es auch mit der Mode haben. Dachte, die tragen alle Uniform oder Kartoffelsäcke.«
»Jewgenij Maximowitsch Bobrow.« Paul Konter hatte die Brieftasche geöffnet und die gefaltete Kennkarte des Toten herausgezogen. Er las den russischen Namen derart unbeholfen wie ein Sonntagsschüler sein Latein. International gültige Papiere wurden bereits seit zwanzig Jahren auch in Umschrift ausgestellt. »Ohne Bild. Müssen wir bestätigen lassen.« Er entleerte den Rest des Inhalts in den Hut. »Nicht schlecht. Mindestens dreihundert Mark und etwa zweihundert Rubel.«
»Also eher kein Raubmord«, folgerte Druwe.
»Und was haben wir hier?« Konter zog ein zusammengelegtes Dokument zwischen den Geldscheinen hervor und faltete es auseinander.
»Verdammter Mist«, fluchte er beinahe sofort, als er erkannte, worum es sich bei dem Papier handelte. »Wenn der Tote Bobrow ist, dann kommt eine Menge Ärger auf uns zu. Er war Sondergesandter bei der sowjetischen Botschaft Berlin. Die Russen beschweren sich über alles und jeden. Etepetete und nachtragend. Schlimmer als jede Filmdiva.«
»Diplomatische Vorrechte.« Jens Druwe nickte. »Aber der Kollege Kommunist hier ist ja mausetot. Welche Vorrechte kann er also noch haben? Gibt es da etwas, das auch nach dem Ableben solcher Leute zu beachten ist?« Er nahm wieder seinen kleinen Notizblock zur Hand und begann, die etwas schludrige Skizze des Fundorts zu verbessern.
»Ich glaube, ich habe gerade ein Dokument verlegt«, meinte Konter und schob die Kopie der Akkreditierung in die Innentasche seiner Jacke.
»Kommt vor, Chef. Also ermitteln wir auf jeden Fall?«
»Bis uns irgendjemand auf die Finger klopft.« Konter nickte. »Lassen Sie die Leiche ins Institut an der Hannoverschen bringen. Aber geben Sie Anweisung, dass nur Dr. Schmid ihn anrühren darf. Und machen Sie Ihrem Schwager Dampf. Ich werde mich einstweilen mit Weiß über unsere Befugnisse austauschen. Ganz allgemein, natürlich. Dann sehen wir weiter.« Er war keineswegs erpicht darauf, mit seinem ehemaligen Vorgesetzten aus der Politischen Abteilung der Kripo zu sprechen. Bernhard Weiß war ein Taktierer, der allzu oft darauf spekulierte, dass sich die Dinge von allein klärten oder in Vergessenheit gerieten. Weiß begab sich ungern zwischen die Fronten und bezog auch nie wirklich Stellung für eine Seite. So ist eben die Politik, hatte Gennat das Verhalten seines Kollegen kommentiert. Und Weiß hatte über längere Zeit – wahrscheinlich auf Geheiß höherer Kreise – die Bearbeitung von Konters Versetzungsgesuch zu Gennats Mordbereitschaft hinausgezögert. Es war für ihn eine unangenehme Zeit zwischen Hoffnung und Frustration gewesen, an die er sich nicht gern erinnerte.
»Was ist in der Aktenmappe?«, fragte er Druwe. »Weitere Dokumente?«
»Alles Kyrillisch.« Druwe hob die Schultern. »Sieht aber offiziell aus. Auf einigen Blättern sind Stempel. Und ganz oben war ein Schreiben, auf dem neben einem X eine Unterschrift fehlte. Vielleicht ein Vertrag.«
»Gut. Zu Hinrichs damit. Der kann Russisch. Obwohl …« Konter überlegte. Hinrichs war neben Grote und Buber einer der Platzhirsche unter Ernst Gennat gewesen. Jetzt hatte Paul Konter allerdings bei seinem Chef einen großen Stein im Brett. Ein Umstand, der den drei anderen Kollegen äußerst sauer aufstieß.
Katja vertraue ich mehr als Hinrichs. Besser, sie übersetzt den Text für uns, dachte er. Druwe konnte er jedoch nicht in diesen Plan einweihen, denn sein Assistent wusste nichts von Konters Verbindungen zum Syndicat. Auch wenn er sicherlich bereits einiges ahnte.
»Ich kenne eine Sekretärin, die dringend Arbeit sucht«, log er. »Alleinstehende Mutter.« Immerhin war das nicht gelogen, da Katja einen fünfjährigen Sohn hatte. Obwohl. Es war doch halbwegs gelogen, denn die Russin war mit einer Tänzerin liiert, also keineswegs alleinstehend. Er seufzte bei diesem Gedankenkreisen ein wenig zu laut. Nichts im Leben des Kommissars oder in seinem Bekanntenkreis war in den letzten Jahren einfach gewesen. Er musste immer hellwach sein, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken.
»Wenn Sie meinen, Paul«, erwiderte Jens Druwe gedehnt. Er schien längst Lunte gerochen zu haben, hatte aber auch gelernt, in dieser Angelegenheit jede übermäßige Neugier zu zügeln. »Dann setze ich die Dokumente erst später auf die Liste der aufgefundenen Gegenstände. Wenn Bobrow wirklich Diplomat war, wird man sie uns sonst als Erstes wegnehmen.«
Es war offensichtlich, dass sich beide Männer zunehmend mochten. Der Ältere respektierte seinen Assistenten mittlerweile und vertraute ihm. Im Gegenzug waren Sympathie und Wertschätzung quasi Hammer und Amboss, durch die Jens Druwe innerhalb von nur einem Jahr diese unbedingte Loyalität gegenüber seinem Vorgesetzten geschmiedet hatte. Paul Konter ahnte, dass er sein zweites Standbein in der halbseidenen Welt der Berliner Ringvereine nicht mehr lange vor seinem Mitarbeiter verbergen konnte.
»Ich bin übrigens an der Tempelhof-Sache dran, Chef«, meinte Druwe. »Die Kollegen von der Orpo haben erfahren, dass das Virchow-Institut einen Leichnam vermisst. Sie wussten offenbar selbst nicht, ob sie es melden müssen oder nicht.«
»Ist es so einfach, eine präparierte Tote zu stehlen?«, fragte Konter, der insgeheim froh war, dass sich die Atmosphäre jetzt wieder etwas entspannte.
»Kein Einbruch, kein Diebstahl von Institutsmaterial.« Druwe zuckte mit den Schultern. »Ich habe es mir angesehen. Wenn ich mir einen Kittel überziehe, kann ich dort morgen nach den Vorlesungen mit einer Bahre erscheinen und uns eine Leiche besorgen. Wenn Sie wollen, Chef.«
»Bitte nicht, Jens.« Konter war nicht nach Scherzen zumute, das Thema war ernst genug. »Wir brauchen einen klaren Kopf für den echten Fall. Also verschwenden Sie nicht zu viel Zeit für diese Sache.«
»Eine Idee habe ich noch.«