Die Leichenhalle in der Hannoverschen Straße verdiente eigentlich ihren Namen nicht mehr. Leichen gab es zwar. Vielleicht etwas weniger als in den unruhigen Jahren nach dem Krieg, aber durchaus genug. Eine Halle konnte man den kleinen Saal vor der modernen Kühlanlage hingegen nach umfangreichen Renovierungsarbeiten kaum noch nennen. An der Wand zu den Oberlichtern standen mächtige Metallschränke, in denen die Instrumente und nummerierte, entnommene Präparate verwahrt wurden. Gegenüber hatte man die Leichenkammern verbaut, deren Kühlung wiederum durch ein riesiges, dauernd brummendes Aggregat sichergestellt war. Nur die in drei Reihen übereinander liegenden Türen mit ihren Scharnieren unterbrachen die glatte Front und gaben dem Ganzen die Anmutung eines Kolumbariums aus Stahl. Vier Präpariertische waren ebenfalls in matt glänzendem Edelstahl gehalten und standen, den Raum geometrisch korrekt unterteilend, auf der verbliebenen Freifläche. Das frostige Licht moderner, noch in der Entwicklungsphase befindlicher Dampflampen verstärkte den Eindruck von allgegenwärtiger Eiseskälte.

Getrunken und gestorben wurde immer, hieß es bei den Kneipenwirten in Druwes Heimat Nordfriesland. Sein Schwager Berthold Schmid schien sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, diese Binsenweisheit zu bestätigen. Der Arzt war neben seiner Tätigkeit als Chirurg an der Charité noch als Gerichtsmediziner tätig. Und in den letzten zwei Jahren hatte er sich zu einer Art Totenermittler entwickelt. Er rang den auf ewig Schweigenden noch Antworten ab, wo die Polizei nur Mutmaßungen anstellen konnte. Sein Leben hatte er der Arbeit verschrieben, seit seine geliebte Frau, Druwes Schwester Margot, knapp vor Kriegsende in Kiel von einer umherirrenden Kugel getötet worden war. Die Dämonen seiner Seele ertränkte er in Hochprozentigem.

Schmids Assistent hatte den Leichnam gnädigerweise mit einem Tuch abgedeckt. Druwe hatte zwar im Krieg alles gesehen, was der menschliche Körper im Inneren an Geheimnissen barg. Aber er war auch Pragmatiker: Wat mutt, dat mutt. Und wenn nich, dann nich. Auch diese Weisheit hatte ihn seine Großmutter gelehrt, die von den Inseln stammte. Er kannte zwar den Sinn seines Schwagers für das Makabre, aber nach dem Frühstück durfte es gern ein wenig ruhiger zugehen.

»Moin, Becher«, begrüßte er seinen Schwager mit dessen Spitznamen aus jungen Studentenjahren. Leider trug Schmid noch die weiße Gummischürze, an der allerlei Spuren seines vorherigen Tuns klebten. Druwe bemerkte hinter ihm einen Rollwagen, auf dem mehr als zwanzig braune Apothekerflaschen standen. Darauf ein Etikett. Ethanol rein.

»Setzt ihr hier Rumtopf an?«, fragte er, da er den Humor des Arztes kannte. »Bleiben ja immer ein paar Häppchen über, nicht wahr?« Er zeigte auf die Schürze. »Oder wofür brauchst du hundert Liter Alkohol?«

»Dafür bekomme ich zehn Flaschen vom besten Kognak«, sagte Schmid. »Die Idioten in der Stadt saufen ja jetzt nur noch dieses gepanschte Zeug. Sie nennen es Cocktail. In Amerika kippen sie braune, süße Brause in den Rum! Mein Kontaktmann wollte reinen Alkohol haben. Ohne Geschmack, denn der kommt später nur durch den Kirschsaft und Zuckersirup dazu. Aus meinen hundert Litern macht er vierhundert Liter süßes Gesöff. Banausen. Aber ich kriege dafür guten Stoff.«

»Prächtig. Dann bist du ja für eine Woche versorgt.« Druwe wusste, dass sein Schwager einen Hang zum Illegalen hatte, zumindest überschritt er gern Grenzen. Jetzt aber wechselte er zum eigentlichen Thema. »Was hast du für mich?«

»Er war Russe, so viel steht fest. Wie sonst erklärt es sich, dass ich ein halbes Pfund Beluga-Kaviar in seinem Magen gefunden habe? Eingelegt in einem Liter Wodka.« Der Chirurg und Gerichtsmediziner wandte sich einer Tafel zu, die hinter dem Kopfende jedes Seziertisches angebracht war. »Aber Scherz beiseite. Der Mann wurde mit einer feinen Nadel umgebracht.«

»Mit einer Nadel?« Seit er ein Kind gewesen war, hatte Druwe eine Heidenangst vor diesen kleinen, spitzen Dingern. Seine Mutter war Näherin gewesen und hatte an ihm oft die Längen der Hemden, Jacken und Hosen abgesteckt. Er hatte immer stocksteif dagestanden, um nicht gestochen zu werden. Ein älteres Mädchen hatte ihm nämlich erzählt, dass ihre Freundin gestorben war, weil eine abgebrochene Nadelspitze zu ihrem Herzen gewandert war. Kinderschreck-Märchen, aber das hatte Druwe natürlich erst viel später herausgefunden. Und da hatte sich diese seltsame Urangst schon längst in ihm festgesetzt.

»Die Tatwaffe war lang wie ein Messer und dünn wie eine Nadel«, bestätigte Schmid.

»Ins Herz?«, fragte Druwe und schluckte trocken.

»Unsinn. Ein solcher Stich wäre wahrscheinlich nicht tödlich gewesen. Wusstest du, dass meine Kollegen an der Charité jetzt sogar Medikamente direkt ins Herz spritzen können? Der Muskel ist recht robust.«

»Erspare mir das, Becher. Also, wie ist der Mann gestorben?«

»Hier.« Dr. Schmid zog das Leichentuch vom Oberkörper des Toten. Dann drehte er den Oberkörper etwas zur Seite. »Siehst du die Stelle im Nacken? Könnte auch nur ein Hautpickel sein, nicht wahr?«

In den vergangenen sechs Monaten waren bei Jens Druwe die Erinnerungen an seine Kriegserlebnisse zurückgekehrt. In den ersten Jahren hatte er es noch seiner inneren Stärke zugeschrieben, dass er recht wenig an die Erlebnisse im Großen Schlachthaus, wie es viele Kameraden immer noch nannten, denken musste. Er trank nicht übermäßig und nahm auch keine Rauschmittel wie so viele andere, die einfach nur vergessen wollten. Doch gerade jetzt, da sich für ihn beruflich und privat alles zu ordnen schien, kehrten die Bilder in ihm zurück. Und sie waren sogar grauenhafter als am Anfang. Denn es schienen die Erinnerungen aller Kameraden zugleich zu sein. Als hätte er deren Tagebücher gefunden und ihre Erlebnisse zu seinen eigenen gemacht. Er durchlebte in seinen Träumen quasi den Krieg als Ganzes, nicht mehr nur den kleinen Ausschnitt, den er selbst durchlitten hatte. Und so war der Blick in dieses blass-gelbe Gesicht mit den blutleeren Lippen ein Blick in den eigenen Orkus. In seine persönlichen Höllen.

»Dort wurde ein dünner, scharfer Gegenstand blitzschnell hineingestochen.«

»Blitzschnell? So etwas kannst du erkennen?«, fragte Druwe verwundert.

»Es ist ein sauberer Wundkanal.« Schmid nickte. »Wenn ein Stich eher langsam ausgeführt wird, kann der Angegriffene Widerstand leisten. Dann fransen die Ränder im Stich- oder Schnittkanal in typischer Weise aus. Versuch mal, ein Blatt Papier zu schneiden, wenn der Wind es dir aus der Hand reißen will. Nein, es war ein sehr zügig ausgeführter Stoß in die korrekte Gewebetiefe.«

Dünn, scharf, schnell, überlegte Druwe. »Geplant und überraschend«, sagte er dann mehr zu sich selbst und schrieb einige Notizen in sein Heft.

»Der Täter wusste, was er tat«, bestätigte sein Schwager. »Ich zeige es dir hier an der Wandkarte.« Er trat vor eine sehr detaillierte, anatomische Zeichnung, die Wirbelsäule und Kopf eines Menschen zeigte. »Hier ist das zentrale Nervensystem, Jens. Rückenmark und Hirnstamm.« Er deutete auf ein paar Strukturen, die wie Schnüre aussahen und oben in einer kleinen Verdickung endeten. Darüber erkannte Druwe das Gehirn. »Eine Art Schaltzentrale. Wenn hier in einem relativ kleinen Bereich die Sicherung herausfliegt, dann gehen oben alle Lichter aus.«

»Der Täter wusste also genau, wie, womit und wohin er zustechen musste?«

»Winkel und Stichtiefe sind perfekt ausgeführt«, bestätigte Schmid und nickte. Er ging zu einer Schale, in der jene Teile lagen, die beide Männer eben auf dem Bild studiert hatten. Druwe überlegte, ob die Leute hier ebenfalls am Schluss Kanopen benutzten, um die Innereien der von ihnen Ausgeweideten zu entsorgen. Er zwang sich, den aufkeimenden Zynismus herunterzuschlucken.

»Man könnte keinem Kollegen einen Vorwurf machen, wenn er diesen Umstand übersehen würde«, meinte sein Schwager wohlwollend. Er litt an vielem, aber nicht an beruflichen Minderwertigkeitsgefühlen. »Ich habe es auch erst bemerkt, als ich im Hirnstamm die winzige Blutung entdeckte.« Er führte eine Art Sonde in das glitschig-gummiartige Hirngewebe an genau der Stelle ein, wo Druwe wiederum einen winzig kleinen Einstich bemerkte. Dann klappte der Arzt das Präparat, das er in zwei Hälften geschnitten hatte, ohne Vorwarnung auf, als blätterte er eine Buchseite um. »Am Ende des Rückenmarks befindet sich ein kleiner Knoten. Hier liegt das Atemzentrum. Verletzungen können zu einem sofortigen Atemstillstand führen. Und exakt dort endet der Stichkanal! Erstaunlich, nicht wahr? Hier trifft mörderische Präzision auf die Verwundbarkeit der Schöpfung.«

»Der Mann war sofort tot?«, fragte Druwe, den es sichtlich schockierte, dass eine kaum zwei Millimeter große Verletzung solche Folgen haben konnte.

»Wie man es nimmt. Natürlich haben wir niemanden, der uns berichten kann, wie das so ist. Aber man kann annehmen, dass einige Funktionen noch ein paar Sekunden erhalten bleiben. Marie Antoinette soll ja noch geblinzelt haben, als ihr Kopf bereits im Korb unter der Guillotine lag.« Schmid hob die Schultern. »Wer weiß? Das Herz schlägt vielleicht noch. Und der Verstand könnte noch Zeit haben, das Unvermeidliche zu begreifen. Obwohl ich wirklich inständig hoffe, dass es nicht so ist.«

»Und das Blut, das wir unter und seitlich von der Leiche gefunden haben? Eine solche Menge kann doch nicht aus dieser Wunde ausgetreten sein.«

»Ich vermute, es war eine Art postumes Unglück. Der Mörder hat mit seinem Spezialdolch zugestochen. Er wusste, was er tat, und hat sich sofort davongemacht. Das Opfer stürzte offenbar in Teile einer Glasscheibe, die dort abgestellt waren. Vielleicht handelte es sich um die Reste einer zerbrochenen Requisite oder Abfall, der vergessen wurde. Ich habe bei eurem Erkennungsdienst mehrere Fotos vom Tatort angefordert.« Schmid wies zur Ablagefläche unter dem Oberlicht. Dort erkannte Druwe auf zwei Fotografien ein großes, blutverschmiertes Glasstück, das dreieckig spitz zulief.

Deshalb konnte ich ihn nicht bewegen, überlegte er.

»Die Verletzungen am unteren Brustkorb und Bauch passen zu einem Sturz in die Scheibe«, fuhr er fort. »Dabei wurden Milz und Leber von seitlich hinten perforiert. Wenn das Herz noch ein paar Sekunden lang schlug, konnte jede Menge Blut austreten.«

»Saubere Arbeit, Becher«, meinte Druwe anerkennend, bemerkte jedoch sogleich, wie unangebracht die Bemerkung war.

»Ein sehr interessanter Fall, den ich nach Abschluss eurer Ermittlungen im Anatomischen Anzeiger und in der DMW zu veröffentlichen gedenke«, erwiderte Schmid.

Also war Bobrows Tod ganz sicher kein Unfall oder die Folge eines außer Kontrolle geratenen Streits. Ohne den Befund seines Schwagers hätte das Hauptaugenmerk der Ermittlung auf dem erheblichen Blutverlust gelegen. Man hätte vermuten können, dass der Mann in den Müllhaufen mit Resten von Bühnenarbeiten gestolpert war. Das Zeug hatte überall in den Ecken des Durchgangs herumgelegen. Überhaupt war es in den Ateliers ähnlich unordentlich gewesen wie im Zimmer eines pubertierenden Pennälers. Die große, dreieckige Glasscherbe hatte dem Mann zwar im Fallen von hinten den Bauchraum aufgeschlitzt. Aber diese Tatsache war nun nebensächlich, ein unschönes Detail. Durch Schmids Untersuchung war klar, dass der russische Diplomat ermordet worden war. Die perfide Methode sprach eindeutig für Vorsatz. Damit war klar, dass die Ermittlung durch Gennats Abteilung gerechtfertigt war. Andererseits warfen die Erkenntnisse jede Menge Fragen auf. Ein Dolch dünn wie eine Nadel. Der Täter musste über exakte Kenntnisse verfügen. Weshalb war der Diplomat überhaupt in den Filmstudios gewesen? Nach Mitternacht?

Dankbar nahm Druwe jetzt den Asbach Spezialbrand, den sein Schwager in zwei Anatomie-Schaugläser schenkte. Immerhin war dies ein echter Fall, nicht der Fund einer herrenlosen Leiche in einer Puppe. Druwe wusste allerdings nicht, ob ihn diese Erkenntnis wirklich zufriedener machte. Er kippte den Rest des Weinbrands hinunter und verabschiedete sich leicht benommen von seinem Schwager. Er brauchte jetzt frische Luft und Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Deshalb entschied er, den Weg vom Institut zum Präsidium am Alexanderplatz zu Fuß zurückzulegen.

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Paul Konter war zufrieden, nachdem ihn sein Assistent über die neue Entwicklung in Kenntnis gesetzt hatte.

»Wir können also von einer vorsätzlichen Tat ausgehen, Jens«, sagte er. »Damit wird es leichter, die Russen davon zu überzeugen, dass wir befugt sind, weiterzumachen.« Er rollte mit den Augen. »Mehr noch. Wir können Weiß, den Polizeipräsidenten und die Herren Politiker, die allesamt bemüht sein werden, es sich ja nicht mit den Sowjets zu verderben, in ihre Schranken weisen.«

»Einfach wird die Sache nicht«, gab Druwe zu bedenken. »Die Tatwaffe ist ungewöhnlich. Was wollte Bobrow am Tatort? Noch dazu in der Nacht?«

»Ich werde die Kollegen beim Erkennungsdienst befragen, ob ihnen diese Methode bekannt ist«, meinte er. »Ansonsten habe ich noch Kontakte zu einem schrägen Vogel, der gern mal Nasen und Kiefer neu ausrichtet.«

»Dieser Sass? Ich dachte, der Kerl und sein Ringverein machen nur krumme Geldgeschäfte. Körperverletzung und Mord gehören also auch dazu?«

»Nein, nicht Franz Sass.« Konter winkte etwas zu unwirsch ab. Ihm war klar, dass sich Druwe eigene Gedanken über die Kontakte seines Chefs zur Berliner Unterwelt machte. Aber bisher hatte er jedes Gespräch über das Thema abgewürgt. »Der Mann, den ich meine, heißt Carl Schmidt. Man nennt ihn auf der Straße Schmidtchen oder Smithy. Er ist vor Jahren aus Amerika nach Berlin gekommen. Man sagt ihm nach, dass er für Geld Probleme regelt. Handfest und manchmal endgültig. Wir konnten ihm aber bisher nichts nachweisen. Vielleicht hat der Kerl schon von solchen Methoden gehört. Ich werde mich nach ihm erkundigen. Sie sehen, Jens, es ist wichtig, dass die Polizei über Spitzel und Informanten verfügt.«

»Wenn Sie meinen, Chef«, sagte Druwe gedehnt.

»Fassen wir zusammen. Bobrow hat für die russische Botschaft gearbeitet. Oder für jemanden, der mit der Botschaft zu tun hat. Und er traf sich zu einer unüblichen Zeit mit einem Unbekannten in den Studios von Babelsberg.«

»Er wird wohl kaum zufällig dort gewesen sein.« Druwe nickte.

»Dieser Unbekannte oder eine weitere Person erstach ihn dort auf recht ungewöhnliche Weise.«

»Ziemlich dürftig, finden Sie nicht, Chef?«

»Wir brauchen Zeugen. Geben wir also den Zeitungen ein paar Happen«, schlug Konter vor. »Arbeiten Sie eine Erklärung aus, die sie an die Presseabteilung weiterreichen. Erwähnen Sie nur nicht Bobrows Namen und natürlich auch nicht die Verbindungen zur Botschaft. Schreiben Sie, dass wir als Todesursache Blutverlust nach Verletzung mit einem scharfen Gegenstand vermuten. Wer etwas gesehen hat, soll sich melden.«

»In Ordnung.« Druwe schrieb die Weisungen in seine Kladde. »Da Sie den Blutverlust erwähnen. Mein Schwager meint, dass die Todesursache leicht zu übersehen gewesen wäre.«

»Das Vorgehen lässt nur einen Schluss zu.« Konter nickte. »Die Tat sollte keine Aufmerksamkeit erregen. Bei sorgloser Betrachtung könnte man einen Unfall oder allenfalls eine Tötung im Affekt vermuten. Ich muss zugeben, Ihr Schwager ist zwar mächtig von sich eingenommen, aber auch ein fähiger Gerichtsmediziner.«

»Das Wie haben wir geklärt. Bleibt noch das Wer«, sagte Druwe.

»Lassen Sie das bloß nicht den Dicken hören, Jens!«, wies Konter seinen Mitarbeiter in gespielt ernsthaftem Ton zurecht und hob mahnend den Zeigefinger. Dann ahmte er die Stimme von Ernst Gennat nach. »Denken Sie zuvorderst an das Warum, Herr Kollege. Denn das Motiv gibt oftmals erst die entscheidenden Hinweise.«

»Ich fürchte, wir brauchen Zeugen, um diese Frage zu klären. Wer hatte um diese Zeit überhaupt Zutritt zum Gebäude? Wenn sich Bobrow dort mit jemandem getroffen hat, war diese Person auch der Täter? Wer könnte noch von Bobrows Absichten gewusst haben?« Druwe notierte seine eigenen Fragen und sah Konter unschlüssig an.

»Und wer hatte ein Interesse daran, diese Absichten zu durchkreuzen?«, ergänzte sein Vorgesetzter. »Außerdem muss es einen Zusammenhang zur Ufa oder deren Mitarbeitern geben. Weshalb sonst hätte sich Bobrow die Mühe machen sollen, nach Babelsberg zu fahren?«

Nachdem Druwe sich in sein eigenes Dienstzimmer, das einer Besenkammer glich, zurückgezogen hatte, griff Paul Konter nach dem wuchtigen Bakelithörer des Fernsprechers. Eine gute Erfindung, ohne Zweifel, fand er. Aber es verging kein Tag, an dem im Präsidium nicht irgendwo gebohrt oder eine Wand aufgestemmt wurde, um die vermeintlich unentbehrlichen, technischen Neuerungen zu installieren. Die Rohrpost oder eine hausinterne Sprechanlage, elektrischer Firlefanz und natürlich Fernsprechapparate. Sein Assistent hatte ihm berichtet, dass bei den Dreharbeiten zu Metropolis sogar schon von Bildtelefonen die Rede war. Das fehlte noch! Dass er auf einer winzigen Kinoleinwand Gennat beim Kuchenessen zusehen durfte, wenn er mit ihm telefonierte. Bald standen wohl noch Ufa-Kameras auf den Gängen und überwachten jeden Schritt. Nein, nahm sich Konter vor, es gab auch Grenzen des Fortschritts. Er seufzte. Vielleicht wurde er nur langsam zu alt für diesen Kram. Er gab dem Fräulein vom Amt, das bereits zum dritten Mal nach seinem Wunsch fragte, eine neue Nummer in Berlin-Mitte an. Nach der üblichen Wartezeit, in der nur ein seltsam an- und abschwellendes Rauschen in der Leitung zu hören war, hatte er Willi Meyer am Apparat. Der Mann besaß einige Lokale im Zentrum der Stadt und verfügte über gute Kontakte zu den Ringvereinen und »Freiberuflern« im Ganovengewerbe.

»Ich muss unbedingt mit Carl Schmidt sprechen«, sagte er ohne Umschweife nach einer kurzen Begrüßung. »Ich habe hier einen ungewöhnlichen Fall und brauche seinen Rat. Er hat nichts zu befürchten. Ich will nur reden. Schmidt kennt sich doch mit allen Methoden aus …«

»Stimmt schon«, erwiderte Meyer leicht irritiert. Konter und er waren im Syndicat Partner, hatten allerdings nur wenig Kontakt. »Schmidtchen ist immer noch angepisst.«

Seit der Rauschgiftsache mit den Chinesen im vergangenen Jahr und einer folgenschweren Einmischung der Amerikaner war der Bestatter nicht mehr ganz so gut auf das Syndicat und dessen Teilhaber zu sprechen. Seine alten Geschäftspartner aus New York hatten noch eine Rechnung mit ihm offen gehabt. Und Carl Schmidt gab Franz die Schuld daran, dass sie ihn in Berlin aufgespürt hatten.

»Ich versuche es, kann aber nichts versprechen«, versprach Willi Meyer.

»Sag ihm, dass er etwas bei mir guthat, wenn er sich mit mir trifft. Es ist nichts, was ihn betrifft oder belasten könnte.« Paul Konter wusste, dass die meisten zwielichtigen Figuren der Berliner Gesellschaft früher oder später einen Gefallen seitens der Polizei zu schätzen wussten. Er arbeitete gerade mit seinem Vorgesetzten an einem völlig neu organisierten Informanten- und Spitzelsystem für die Kripo. Obwohl Gennat ansonsten nicht viel von diesem »neumodischen Ami-Schnickschnack« hielt, nahmen sie sich dabei das amerikanische Modell zum Vorbild. Man musste bei den kleinen Raubfischen auch mal wegsehen können, damit sie einen zu den großen führten. Obwohl Carl Schmidt ganz sicher alles andere als ein kleiner Fisch war.

Und vollkommen uneigennützig war Konters Eifer für das besagte, neue System ohnehin nicht. Seinem Assistenten, aber auch vielen Kollegen waren die Kontakte zur Sass-Familie natürlich aufgefallen. Bisher wurde er durch Gennat gedeckt, dem er die Vorteile einer – moderaten – Zusammenarbeit mit dem Syndicat schmackhaft gemacht hatte. Mit ihm als Experten machte die Kriminalpolizei zwar quasi den Bock zum Gärtner, doch Konter hoffte, in Zukunft besser schlafen zu können.