Der Regisseur trug das dunkelbraune Haar mit viel Pomade nach hinten angelegt. An den Schläfen begann es, zu ergrauen. Seine großen Geheimratsecken verliehen dem Mann zusammen mit dem Monokel am linken Auge – nur ein Glas ohne Fassung – eine eigenartige Ausstrahlung. Eine Melange aus verstaubtem Intellekt und fieberhafter Besessenheit. Die Filme Dr. Mabuse und Die Nibelungen hatten ihn zu einem Star des deutschen Kinos gemacht, auch wenn er trotz seines stark ausgeprägten Ehrgeizes und einer nicht minder großen Eifersucht seine beiden Kollegen Murnau und Lubitsch noch nicht ganz hinter sich gelassen hatte. Stolz und Ehrgeiz bildeten dieses explosive Gemisch, das einen Mann zum Erfolg katapultierte. Oder ihn zerstörte.
Konter war erneut nach Nowawes gefahren, um Fritz Lang zu befragen. Er hätte ihn auch aufs Präsidium einbestellen können, aber ein Telefonat mit Langs Sekretärin hatte ihm klargemacht, dass dann eine Menge Ärger zu befürchten war. Der Mann hatte Kontakte bis hinauf in die Reichskanzlei. Also hatte sich Konter zähneknirschend auf den Weg gemacht und sich vor dem geplanten Gespräch am Drehort in der Nähe Potsdams genau umgesehen. Er kannte einige Zeitungsartikel über den geplanten Film Metropolis. Lang wollte ihn an fünf verschiedenen Orten drehen. Alles sollte echt wirken. In einer ehemaligen Zeppelinhalle bei Spandau frönte man der Gigantomanie mit riesigen Kulissenbauten. An der Oberlandstraße in Tempelhof nutzte er einige alte Gebäude, die zu einer Arbeiterstadt passten. Hier in Nowawes in der Nähe des Schlosses Babelsberg gab es die bewährten Filmateliers, und gerade wurde auf dem Gelände ein riesiger Neubau errichtet, in dem später einige Hauptszenen abgedreht werden sollten. Selbst in die österreichische Hauptstadt musste man, da der gebürtige Wiener Lang die dortigen Ziegelfabriken am Berg für ein paar Einstellungen brauchte. Der reinste Wahnsinn, da war sich die Presse aller Seiten ausnahmsweise mal einig. Konter musste zugeben, dass ihn die technischen Raffinessen der Filmgesellschaft beeindruckten. Für den Film Metropolis hatte man die Kameratechnik revolutioniert. Während bisher die statische Aufnahme bei der Filmentstehung dominiert hatte, war der Kameramann nun ständig in Bewegung. Entweder fuhr er auf einer Art Schiene im Bogen um die zu filmende Szene herum, oder er wurde mit einem Kran an einem Gerüst in die gewünschte Position gebracht. Es gab jetzt sogar tragbare Kameras, lachhafte fünfzehn Kilo schwer. Und sogar auf die Ladefläche kleiner Lastkraftwagen hatten pfiffige Ingenieure die Dinger montiert. Die Zuschauer sollten das Gefühl bekommen, nicht nur – wie im Theater – zuzusehen. Sie sollten »dabei sein«, wie Fritz Lang es den Reportern immer wieder predigte. Er hatte den Begriff des »Rasenden Auges« dafür erfunden.
Natürlich durchschaute Konter als Kriminalist das Geplänkel der Verantwortlichen bei der Ufa. Keinesfalls wollte man etwas durchsickern lassen, betonte immer wieder die absolute Verschwiegenheit. Dabei waren alle Einzelheiten – von der Besetzung über die Technik und das illustre Thema des Streifens bis hin zu den Kosten – die offensten Geheimnisse im Reich. Alle tuschelten, alle ereiferten sich über den Größenwahn. Sechs Millionen Mark sollte das Projekt kosten. Blanker Irrsinn auf Zelluloid. Und kaum jemand ahnte, dass eben diese Aufregung gewollt war. Die vielen kalkulierten Indiskretionen flossen schon jetzt in Rechenspiele ein, die manchem Geldgeber schlaflose Nächte bereiteten. Die bisher seltsamste Blüte war der Leichenfund an der Oberlandstraße gewesen, der de facto keiner Straftat entsprach. Und nur einen weiteren Skandal hatte schaffen sollen.
Der deutsche Regisseur galt als selbstbezogener Exzentriker und stand darin seinem russischen Kollegen Eisenstein offenbar in nichts nach. Konter wunderte sich nach den Beschreibungen nicht, dass beide Männer sich gut verstanden. Während der Russe allerdings das Proletarisch-Proletenhafte pflegte, erging sich der Deutsche darin, den welterfahrenen Edelmann zu mimen. Lang nahm alle Arten von Kränkungen übel und witterte sie zudem überall. Dabei teilte er selbst gern und ungeniert aus. Der Kripobeamte fragte sich auf dem Gelände durch, bis er den aktuellen Drehort erreicht hatte. Auf Anraten eines Bühnenbildners hielt sich Konter einen Moment zurück und beobachtete fasziniert die Arbeit der Schauspieler und den Ablauf der Szene. Eben hatte der Filmemacher eine ältere Komparsin wegen eines schlecht sitzenden Helms aus bemalter Pappe angeschnauzt. Dann war er zum Beleuchter gegangen und hatte ihm ein paar Kabel über den Schädel gehauen. Und seit einigen Minuten scheuchte Fritz Lang mehrere Kinder zum wiederholten Mal in und durch ein großes Wasserbassin. Dabei brüllte er durch eine graue Flüstertüte.
»Alles unbrauchbar!«, rief er. »Wir sind hier nicht auf Kur, verdammt. Die Bälger sollen sich nicht amüsieren, sondern leiden. Es muss echt sein!« Er knallte eine Handkamera auf einen Tisch und lief wie ein Berserker auf einen Assistenten zu. »Hast du noch Steine, Kurt? Rein damit! Kipp sie ins Becken.«
»Die Kinder werden sich die Füße aufschneiden«, protestierte der Mann schwach. »Und stolpern.«
»Kunst ist immer auch Leiden! Sie muss es sein, sonst bleibt sie nur Imitation!« Langs Stimme überschlug sich beinahe. »Wann begreift ihr Kretins das denn endlich? Wahrscheinlich nie!«
Der Anweisung folgend kam der Assistent mit einer Schubkarre heran und warf weitere Steine ins Wasser. Auch Konter war an das Becken herangetreten. Er sah, dass die Tiefe bei etwa dreißig bis vierzig Zentimetern lag. Und am Boden erkannte er tatsächlich jede Menge Steine. Keine runden Kiesel, sondern rauen Bruchstein. Auf der anderen Seite der kleinen Halle standen vielleicht zwanzig Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren. Sie waren nass, zitterten, und die Haut an den Beinen schimmerte bläulich. Einige trugen einen Verband an Kopf oder Beinen. Konter fragte sich, ob die Bandagen nur Staffage waren. Er hoffte es. Aber nach dem eben Gehörten stieg Zorn in ihm auf.
Wie oft hat das Schwein die armen Gören schon durchs Wasser gejagt, fragte er sich, als ein erneuter Ruf den Raum erfüllte.
»Dreh in dreißig Sekunden. Aus dem Bild! Ich werde noch verrückt hier! Muss ich alles allein machen?«
Der Kommissar trat hinter eine weiße Kreidelinie am Boden. Dieses Brüllen schüchterte alle Anwesenden ein. Selbst ihn. Zumindest ein wenig.
»Läuft«, schrie der Kameramann.
»Und ab!«, befahl Fritz Lang.
Sofort stürmten die Kinder durch das Wasser. Sie schrien, und einige stürzten, wurden von den anderen überrannt. Konter überlegte gerade, ob er eingreifen sollte, aber nach zwanzig Sekunden war der grausame Spuk bereits vorbei. Mehrere Kinder bluteten an Händen und Füßen.
»Bella«, wies Fritz Lang eine junge Assistentin an. »Wisch das weg! Zur Not Lumpen drüber. Zweite Einstellung in zehn Minuten.«
Als der Regisseur zu Konter trat, wusste dieser bereits, dass sie in diesem Leben keine Freunde mehr werden würden. Der Polizist hatte für vieles Verständnis, aber bei Kindern hörte jeder Spaß auf. Am liebsten hätte er den Kerl mit vorgehaltener Pistole gezwungen, selbst mit nackten Füßen durchs Wasser zu springen.
»Es muss echt sein.« Fritz Lang schien die Gedanken seines Gegenübers erraten zu haben. »Verstehen Sie? Nicht nur echt wirken. Nur so wird aus schnödem Handwerk wahre Kunst!«
»Und Ihre Kunst entsteht durch den Schmerz anderer«, entgegnete Konter kühl. »Und Sie haben völlig recht. Ich verstehe es nicht.«
»Ich habe fünf Minuten, Herr Konter. Worum geht es?«
»Sie haben sicherlich von dem Todesfall hier in den Studios gehört?«
»Natürlich. Ich begreife jedoch nicht, weshalb Sie mich in dieser Angelegenheit aufsuchen. Jede Unterbrechung stört den Fluss der Kreativität. Entfaltung braucht Freiräume, nicht die Enge trockener Verwaltungsakte.«
»Der Tote gehörte nicht zu Ihren Mitarbeitern. Ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Betriebsfremder mitten in der Nacht hier herumstrolchen kann?«
»Herumstrolchen. Sehr gut ausgedrückt«, antwortete Lang. »Ich habe Pommer immer wieder gesagt, dass wir strengere Kontrollen und einen echten Wachdienst benötigen. Sie müssen wissen, hier werden im Moment noch drei weitere Filme produziert. Da hat niemand mehr den Überblick.«
»Ist Ihnen in den Tagen vor der Tat, also etwa während der letzten Novemberwoche irgendetwas aufgefallen? Ein Streit zwischen Schauspielern? Oder Technikern? Gab es ungebetene Gäste? Neugierige Gaffer oder aufdringliche Reporter? Vielleicht die Entlassung eines Mitarbeiters? Wurde etwas gestohlen? Ich habe gehört, dass es Männer gibt, die den Schauspielerinnen nachstellen. Haben Sie etwas bemerkt? Alles könnte wichtig sein, Herr Lang.«
»Solche Dinge interessieren mich nicht, Herr Kommissar.« Der Regisseur zuckte gelangweilt die Schultern und blickte dann ungeduldig auf seine Uhr. »Tut mir leid. Ich fürchte, dass ich Ihnen nicht behilflich sein kann.«
»Sie kennen Sergej Eisenstein?«
»Wer kennt ihn nicht? Der größte russische Filmemacher! Und der zweitgrößte weltweit.« Lang lachte und nahm sich eine Zigarette aus einem Silberetui. Er schien sich dann jedoch rechtzeitig zu besinnen, bevor er ein Streichholz anriss. »Verdammtes Zelluloid. Brennt wie Zunder.« Er inhalierte einmal tief durch die kalte Zigarette und legte sie zurück. »Was ist mit Sergej? Er ist seit Kurzem Gast der Ufa. Wir lernen voneinander. Vielleicht werden wir unsere Genies in einem Film vereinen.«
»Er war laut unseren Ermittlungen der letzte, der den Toten in jener Nacht noch gesehen hat. Ich muss ihn unbedingt sprechen.«
»Sie verdächtigen ihn doch nicht etwa?« Fritz Lang lachte erneut, dieses Mal eher spöttisch. »Sergej gibt sich zwar nach außen gern als böser Graf Orlok und schlägt auch mal über die Stränge, aber im Grunde ist er handzahm. Lassen Sie ihm seinen Frieden und kompromittieren Sie mich nicht.«
»Wie bitte?« Konter glaubte, sich verhört zu haben.
»Ich kann es gern deutlicher formulieren. Lassen Sie ihn in Ruhe! Ich möchte nicht als schlechter Gastgeber dastehen, dessen Freunden die hiesigen Stadtbüttel nachstellen. Sonst wende ich mich an Pommer. Und der ist recht dicke mit dem Polizeipräsidenten. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Hatte ihn der Mann eben einen Büttel genannt? Konter verschlug es nur selten die Sprache, aber derart viel Arroganz auf einmal löste in ihm das Gefühl aus, mitten in einen Haufen von Fäkalien geraten zu sein.
»Nicht Sie entscheiden, wen ich in einer Mordermittlung befrage und wen nicht, Herr Lang. Es handelt sich lediglich um eine Befragung, weiter nichts. Bitte richten Sie Ihrem Gast aus, er möge sich innerhalb eines Tages über Fernsprecher bei der Mordbereitschaft melden. Hier die Nummer für die Vermittlung.« Konter übergab dem Mann eine Karte. Seit das Telefon zu einem Standard auf dem Präsidium geworden war, wurden sogar Visitenkarten ausgegeben. »Sie finden dort auch meinen Namen. Falls Sie sich zu erkundigen wünschen«, fügte er in süffisantem Tonfall hinzu. »Herr Gennat, mein Vorgesetzter, ist übrigens recht dicke mit dem Oberbürgermeister.«
»Thea!«, rief Lang plötzlich. Er rieb mit dem Handrücken über die Stirn und legte den Kopf zurück, wie es die Schauspielerinnen in großen Dramen gern taten. »Thea. Wieder diese Kopfschmerzen. Bring mir das Aspirin!«
Eine hübsche Frau mittleren Alters eilte herbei. Ihr blondes Haar hatte sie streng nach hinten gebunden. Konter vermutete, dass es sich um eine Darstellerin aus dem neuen Film handeln musste, denn sie passte zum Ideal der weiblichen Stummfilmstars des Schwarzweißfilms.
»Und kümmere dich um dieses Subjekt, das die Ursache meines Unbills und aller Verzögerungen ist«, fügte der Regisseur noch hinzu und fasste sich an beide Schläfen wie eine überspannte Migränepatientin. »Das Leben ist mir einfach unerträglich! Überall Hindernisse. Missgunst. Mittelmaß.«
Konter schrieb es der Weisheit seines Alters zu, dass ihm jetzt nicht der Kragen platzte. Noch vor zehn Jahren hätte er den aufgeblasenen Fatzke einfach aufs Revier geschleppt. Kein Kaiser und kein Zelluloid-Blaffke durften ihn »Subjekt« oder »Stadtbüttel« nennen. Er stellte sich der Frau steif vor und versuchte, sie nicht für etwas verantwortlich zu machen, was sie gar nicht zu verantworten hatte. Sie nickte und zog Fritz Lang in eine Ecke, um dort leise auf ihn einzureden. Dann kehrte sie allein zurück.
»Sehen Sie ihm die kleinen Ungezogenheiten bitte nach, Herr Kommissar«, beschwichtigte sie. »Eine ungeheure Belastung. Der Film, die Vorbereitungen, Pläne, Bestellungen. Und natürlich immer das liebe Geld. Ein Mann wie er ist für die Anforderungen des Alltags nicht geschaffen. Er lebt und arbeitet in anderen Sphären.«
»Es geht um den Toten, der im Atelierbereich gefunden wurde«, sagte Konter in versöhnlichem Tonfall. Schönen Frauen mit Manieren konnte er kaum böse sein. »Durch eine Zeugin wissen wir, dass Herr Eisenstein in jener Nacht zu ungewöhnlicher Zeit ein Gespräch mit dem Mann geführt hat. Der Tote war ebenfalls Russe. Es mag sein, dass uns Herr Eisenstein Hinweise auf mögliche Motive für die Tat geben kann. Vielleicht hat er auch etwas gesehen oder gehört.«
»Sergej ist ein Filou. Seine Arbeitsmoral ist nicht die meines Mannes. Vielleicht hatte er eine Liaison amoureuse nocturne mit einer Darstellerin.« Sie zwinkerte ihm zu.
Konter hielt große Stücke auf seine Unverführbarkeit, aber bei Frauen, die Französisch sprachen, bekam er immer weiche Knie. Einer der Gründe, weshalb er Antonia Sass vom ersten Augenblick an verfallen war. Dann jedoch besann er sich.
Dieses arme, bezaubernde Wesen in Blond ist mit einem derben Filmunhold verheiratet, dachte er beinahe entsetzt. Aber das Alter hatte ihn gelehrt, sich über nichts mehr zu wundern. Und manche schönen Deckel passten halt auf seltsam verbeulte Töpfe. Sei es drum. Folglich enthielt er sich eines weiteren Kommentars und versuchte, seine Gedanken auf den Fall zu konzentrieren.
»Wahrscheinlich ist er mit ein oder zwei Damen losgezogen und irgendwo versackt.« Sie lächelte. »Keine Sorge, Herr Kommissar, ich werde sofort mit ihm sprechen, wenn ich ihn sehe. Und er wird sich bei Ihnen melden. Bitte, nur keine offizielle Vorladung! Es gäbe einen Eklat. Fritz ist sehr reizbar, und dieses typisch männliche Kräftemessen ist nur peinlich.«
Konter nickte. Er wusste allerdings nicht, was ihn in diesem Moment mehr ärgerte. Dass sich manche Leute aufführten wie Trampeltiere im Tulpenbeet. Oder dass nette Menschen auch noch Verständnis für deren schlechten Manieren aufbrachten.
»Gut«, meinte er. »Ich rate Herrn Eisenstein, sich bis morgen um drei über Fernsprecher zu melden und einen Termin für ein Gespräch zu vereinbaren. Ansonsten wird es doch noch peinlich. Vor allem für ihn.« Konter deutete, ganz alte Schule, eine Verbeugung an. »Auf Wiedersehen, Frau Lang.«
»Harbou. Ich heiße Harbou.«