»Der Mann heißt mit vollem Namen Walter Kurt Annuscheit. Mitte vierzig. Die Eltern hatten wohl deutsche Vorfahren und stammten aus der Nähe von Vilnius, heute Republik Litauen, damals zu Russland gehörig. Annuscheit hat einen litauischen Pass. Obwohl er sich viele Jahre im Reich aufhielt, hat er nie die Staatsbürgerschaft beantragt. Zur Kaiserzeit war der Mann noch ein kleiner Buchhalter in einem Rostocker Handelskontor.«
Jens Druwe hielt kurz inne und blätterte in seinen Aufzeichnungen. Sein Vorgesetzter hatte ihn in die vage Vereinbarung mit Kutisker eingeweiht und beauftragt, ein paar Informationen über den Mann einzuholen.
»Er bewarb sich nach Kriegsende auf eine Annonce von Kutisker, der einen gescheiten und – sagen wir – kreativen Mann für seine Geschäftszahlen suchte. Annuscheit arbeitete sich innerhalb von drei Jahren zu Kutiskers Privatsekretär und engstem Vertrauten hoch. Es gibt Hinweise, dass da noch mehr war zwischen den beiden Männern.«
»Homosexuell? Eine Liebesbeziehung?«, fragte Konter.
»Es ist nicht ganz klar, aber es ist nicht ausgeschlossen. Ich habe mich im Milieu in der Umgebung Nollendorfplatz, Kleiststraße und Motzstraße umgehört, aber man hat Kutisker dort nie in Begleitung eines Mannes gesehen. Laut seiner Haushälterin hat Annuscheit jedoch oft in Kutiskers Villa übernachtet, auch an Wochenenden. Sie sagt allerdings, er habe ein eigenes Zimmer gehabt. Aber ein Frühstück zu zweit gab es offenbar sehr häufig. Letztlich kann uns das wohl egal sein. Nicht relevant für die Lösung des Falls.«
»Sicher«, antwortete der Kommissar. »Aber es würde Kutiskers hartnäckiges Interesse an seinem Buchhalter erklären. Er könnte sonst auch nur nach dessen Aufzeichnungen und den Dokumenten suchen lassen. Und eine engere Beziehung könnte noch aus einem anderen Grund hilfreich für uns sein. Wir hätten ein gutes Druckmittel gegen Kutisker, wenn Annuscheit tatsächlich sein Liebhaber war. Die Strafbarkeit nach Paragraph 175 ist mir dabei völlig egal, aber ich will möglichst viel aus unserem Mann herausbekommen.«
»Wenn es Liebe war, dann wohl eine flatterhafte«, fuhr Druwe fort. »Annuscheit ist am selben Tag abgehauen, als Kutisker verhaftet wurde. Wahrscheinlich wollte er über Ostpreußen nach Litauen, in seine alte Heimat. Doch er wurde von den Polen verhaftet. Illegaler Grenzübertritt oder etwas in der Art. Vielleicht hatte er einfach nur ungenaue oder veraltete Karten und dachte, er wäre noch auf Reichsgebiet. Kam allein letztes Jahr über hundertmal vor.«
»Hat ein offizielles Überstellungsgesuch überhaupt Sinn?«, fragte der Ältere, kannte jedoch die Antwort.
»An die Polen? Machen Sie Witze, Chef? Die behördliche Kooperation geht gegen Null. Es gibt ständig Ärger mit dem Transit nach Ostpreußen. Ob Bahn oder Straße, die Spediteure werden schikaniert, Ware verschwindet. Bis wir Annuscheit auf offiziellem Weg auch nur befragen können, vergehen wahrscheinlich Wochen.«
»Verdammt, wir brauchen den Mann jetzt. Er ist die einzige Spur, an die wir herankommen. Der Fall Kutisker liegt bei der Reichsanwaltschaft Leipzig unter Verschluss. Alle Geschäftspapiere wurden beschlagnahmt. Bis zum Prozessbeginn wird Einsichtnahme nur der Anklage, der Verteidigung und den Ermittlern gewährt.«
»Klar«, meinte Druwe. »Da steckt eine Menge Zündstoff drin. Wenn nur die Hälfte der Vermutungen wahr ist, dann dürfte vielen Leuten aus Politik und Wirtschaft der Arsch mächtig auf Grundeis gehen.«
Konter fühlte sich, als liefe er über rohe Eier. Eine falsche Bewegung und sein Doppelspiel gegenüber Druwe konnte auffliegen. Ihm war klar, dass er seinem Assistenten die Zusammenarbeit mit dem Syndicat nicht verschweigen konnte. Aber Druwe sollte selbst zu dem Schluss gelangen, dass sie in diesem Fall andere Wege beschreiten mussten.
»Ich habe meine Kontakte genutzt, Jens«, meinte er in gedehntem Tonfall. »Annuscheit und Kutisker sind derart wichtig, dass wir in diesem Fall über den langen Schatten, den Recht und Ordnung üblicherweise werfen, hinwegspringen müssen.«
Er schilderte Druwe die Einzelheiten der Vereinbarung. Und er ahnte natürlich, dass sein Mitarbeiter sich längst seine eigenen Gedanken über die Beziehungen zur Sass-Familie und zum Syndicat machte. Deshalb hatte Konter beschlossen, ihm quasi den Kuchen der Wahrheit stückweise zu servieren.
»Sie gehen wirklich seltsame Wege, Chef«, meinte Druwe, nachdem er den Plan, Annuscheit befreien zu lassen, kannte. »Kapitän Hermann Ehrhardt.« Er hielt einen Moment inne und überlegte. »Der Kerl hatte doch diese Brigade, die am Kapp-Putsch beteiligt war. Und Sie kennen also Kutiskers Anwalt. Ziemlich hilfreich, Chef.«
Konter schien es, als könnte er förmlich hören, wie es in Druwes Verstand arbeitete. Und er wusste, dass der jüngere Kollege sich nicht mehr lange ein X für ein U vormachen lassen würde.
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Militante Republikgegner wie Hermann Ehrhardt brauchten sich seit der Wahl Paul Hindenburgs zum Reichspräsidenten nicht mehr zu verstecken. Die konservativen Parteien hatten im Parlament einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsah, dass gut fünf Jahre nach dem gescheiterten Kapp-Putsch alle Verurteilten, Gesuchten und Verdächtigen durch eine Generalamnestie straffrei gestellt oder begnadigt werden sollten. Zwar war noch gar nicht über die Begnadigung entschieden worden, aber die alten Kameraden fühlten sich bereits sicher und wurden immer öfter in Berlin gesehen. Nachdem der ehemalige Marineoffizier das Telegramm über seinen Freund Lüttwitz erhalten hatte, kündigte er sich für das Ende der ersten Januarwoche im Klub Berlin an. Selbst Franz hätte sich nicht träumen lassen, dass es derart einfach sein würde. Erhardt forderte ein Vier-Augen-Gespräch ohne Zeugen, und Franz hatte zugestimmt.
Nach einem Umbau war der Klub seit einiger Zeit das edelste Lokal im Portfolio des Syndicats. Man musste sich der Zeit anpassen, und diese Zeit liebte Glitzer, Prunk und Lichtspiele. Das größte Problem war, dass die Gäste alles auf einmal erwarteten. Sie wollten essen, trinken, tanzen, gaffen, reden. Und bei Bedarf eben auch ihre intime Ruhe haben. Das grell-bunte Berliner Amüsemang der einfachen Leute hatte sich mit der in der Oberschicht zur Schau getragenen Zurückhaltung vermählt. Diese besondere Art einer ordinären Exklusivität versprach beste Umsätze. Franz und Erich versuchten allerdings hin und wieder immer noch, sich dem allgegenwärtigen Trend zum Banalen und Deftigen entgegenzustemmen. Sie engagierten Claire Waldoff und – dank der Beziehungen zu Rudolf Nelson – den aufstrebenden Publikumsmagneten Hans Albers. Zudem trat öfters eine etwas unterkühlte Marlene Dietrich mit ihrer Singenden Säge auf, deren Klänge sogar Männer zum Weinen brachte.
»Sehr gelungen, Herr Sass!« Kapitän Ehrhardt erschien auf die Minute zur vereinbarten Zeit. »Wie ich sehe und höre, sind Sie zu einer festen Größe im Geschäft geworden.«
»Es lebt sich«, erwiderte Franz. Er orderte eine Flasche besten französischen Kognaks.
Beide Männer hielten sich nicht mit langem Geplänkel auf. Sie waren keine Freunde, nicht einmal gute Bekannte. In den vergangenen Jahren waren sie jedoch mehrmals auf eine Weise aneinandergeraten, die bei ihnen eine Art gegenseitigen Respekts hinterlassen hatte. Ehrhardt war zusammen mit Kutisker maßgeblich für den Tod von Ian McCullen verantwortlich. Und Franz hatte den Offizier um eine Menge Geld geprellt und war am Scheitern von Ehrhardts politischen Plänen beteiligt gewesen. Sie waren nicht quitt, aber es herrschte ein Patt in ihrer Beziehung. Franz begann deshalb ohne Umschweife, Kutiskers Auftrag zu erläutern.
»Ich soll für einen Geldjuden arbeiten?«, fragte Ehrhardt pikiert. »Noch dazu für das gierigste Schwein Berlins?«
»Ihre Vorurteile interessieren mich nicht, Herr Kapitän. Und machen wir uns nichts vor. Die Gier ist doch ohnehin der Treibstoff in Politik und Wirtschaft. Herr Kutisker war zwar das Schwein, das im Dreck wühlte, aber andere hohe Herren haben danach die Trüffel genossen. Also lassen wir die völkisch-nationale Attitüde und wenden uns dem Geschäft zu.« Franz schenkte Kognak nach. Der Weltkriegsoffizier hatte eine Schwäche für französische Lebensart. »Außerdem würden Sie für mich arbeiten, nicht für Iwan Kutisker. Vielleicht beruhigt das Ihr ohnehin obskures Gewissen.«
»Ich habe Ihre Direktheit immer zu schätzen gewusst, Herr Sass. Wissen Sie, die Engländer lieben das Tennisspiel. Und wir sind wie zwei Spieler auf dem Platz, die sich die Bälle um die Ohren hauen. Mal geht er auf Ihrer Seite ins Aus, mal auf meiner.«
Ehrhardt hob sein Glas und ließ sich dann die Einzelheiten erklären. Die Erwähnung des polnischen Zuchthauses schien ihn zu amüsieren, denn er lachte abfällig.
»Die Leute dort sind unorganisiert«, meinte er abfällig. »Keine Disziplin, keine Ordnung. Der Pole verfügt über kein Gespür dafür. Jeder Gefängnisleiter sieht sich als kleiner Fürst seines Territoriums. Unabhängig. Deshalb ist über Beziehungen von höherer Stelle wenig auszurichten. Man muss die Leute direkt bezahlen und erreicht alles, was man will.« Er schlug mit der Faust in die andere Handfläche. »Wenn nicht, dann hilft eben nur Gewalt. In Ostpolen herrscht das reinste Chaos. Ein Überfall auf ein Gefängnis? Ein paar Tote und ein Entflohener? Es würde niemanden kümmern.«
»Mir wäre die erste Variante angenehmer«, sagte Franz schnell, bevor sich sein Gegenüber allzu sehr in seinen heroischen Visionen verlor. »Kutisker zahlt die Unkosten. Also sollten wir möglichst wenig Aufsehen erregen.«
»Meinetwegen, ich kann es versuchen. Haben Sie ein Foto von dem Kerl, um den es geht?«
Franz zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihn Ehrhardt. Der Kapitän nahm ein Papier daraus hervor und überflog die wichtigsten Angaben zur Person von Walter Annuscheit.
»Gut«, meinte er dann. »Zehntausend. Fünf im Voraus. Zahlbar in Gold. Abrechnung der Unkosten nach Lieferung der Ware.« Er streckte die Hand aus.
»Ich denke, Kutisker wird die Forderung akzeptieren.«
Franz nickte und schlug widerstrebend ein. Er war zufrieden. Wenn die Sache glückte, dann kassierte er seinen Anteil nur für eine Vermittlung. Die Drecksarbeit erledigte Ehrhardt. Sie besprachen noch einige Einzelheiten, und Ehrhardt machte sich Notizen dazu. Die Zahlungsabwicklung sollte über eine Bank in Breslau erfolgen. Ehrhardt war schließlich sogar mit einer recht kurz angesetzten Frist von drei Wochen für die Befreiung des Gefangenen einverstanden.
»Ich gebe per Telegramm Nachricht, wenn das Paket zum Versand bereit ist«, sagte Ehrhardt. »Das Leben geht immer wieder seltsame Wege, nicht wahr?« Offenbar war er nach dem zweiten Kognak sentimental geworden. »Ich bin seit Jahren das erste Mal wieder in der Hauptstadt. Und treffe mich ausgerechnet mit Ihnen! Noch dazu nehme ich mich der Interessen eines Juden an. Eine verrückte Welt ist das.«
Franz verabschiedete sich. Ihm war nicht nach Verbrüderung mit diesem Mann. Und Ehrhardt schien es nicht zu stören, dass er wenig später nur noch die Flasche eines zwanzig Jahre alten Courvoisier als Gesprächspartner hatte.