Das Telegramm war am Morgen eingetroffen und knapp gehalten: Paket wohlbehalten in Frankfurt angekommen.
»Ehrhardt hat es tatsächlich geschafft«, sagte Franz, und seine Erleichterung war hörbar. »Wir müssen mit Kutisker sprechen, was jetzt geschehen soll.«
»Nein«, widersprach ihm Konter. »Wir brauchen zunächst eine Wohnung für Annuscheit.«
»Eine Wohnung? Mit gutem Ausblick und vielleicht noch mit Haushälterin?« Franz war aufgestanden und tigerte im Salon seiner neuen Bleibe am Kupfergraben auf und ab. Seine Worte hallten von den hohen Wänden und Decken wider. Bis auf ein paar alte Stühle, den Tisch und eine Anrichte waren die Räume noch leer. Susanne hatte entschieden, dass erst die Maler anrücken sollten. Jetzt lebte Franz also quasi auf zwei Baustellen. In ihrer alten Bleibe in der Naunynstraße war bereits das Umzugsunternehmen dabei, alles einzupacken. Die edlen Kognakschwenker waren in den Tiefen von Pappkartons verschwunden. Seine Lieblingstasse hatte ein unachtsamer Packer zerbrochen. Schlechte Planung, denn im Moment waren Handwerker nur schwer zu bekommen, so dass hüben wie drüben keine Gemütlichkeit zu erwarten war.
»Warum warten? Wozu die Wohnung?«, fragte er. »Kutisker sagte, dass er ihn sehen will, sobald er hier ist. Soll er sich doch darum kümmern, wo sein Freund unterkommt.«
»Denk doch mal nach, Franz! Wenn jemand herausfindet, dass der Mann Iwan Kutisker entlasten könnte, wäre er sofort in Gefahr. Vielleicht ist er es jetzt schon. Kutisker selbst hat mehrere anonyme Drohungen erhalten. Annuscheit wird nämlich seinen ehemaligen Arbeitgeber entlasten, indem er viele andere Leute belastet. Da wird sich die Begeisterung über sein Auftauchen in Grenzen halten. Wie schnell könnte er da vor die U‑Bahn oder vom neuen Funkturm fallen?«
»Dann wird dir Kutisker aber nichts sagen, Paul«, gab Franz zu bedenken.
»Im Gegenteil. Wir lassen ihn ein wenig zappeln. Wir können sogar drohen, dass wir Annuscheit selbst in die Mangel nehmen. Ich befürchte eher, dass Kutisker sich nicht an sein Wort hält, wenn wir ihm seinen Buchhalter einfach so übergeben.«
»Ist was dran«, murmelte Franz. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Ist Walter Annuscheit eigentlich auch Jude? Wie Kutisker?«
»Keine Ahnung. Und welche Rolle spielt das?«
»Ich könnte Gershom bitten, ob er den Kerl bei seinen Leuten unterbringt. Im Scheunenviertel finden nicht einmal wir ihn wieder. Wäre ein gutes Versteck. Aber er würde dort zu schnell auffallen, wenn er keiner von ihnen ist.«
»Behält er die Hose eben an«, erwiderte Konter in genervtem Tonfall. »Jude oder nicht. Wen stört es?«
»Du warst noch nicht oft in der Grenadierstraße, nicht wahr? Nicht nur die Lockenträger würden Annuscheit sofort als Fremden erkennen. Die Leute leben da in ihrer eigenen Welt. Sie spüren, wenn jemand fremd ist.«
Paul Konter winkte ab. Franz hatte recht, aber er mochte es nicht, belehrt zu werden. Natürlich kannte er die Gegend. Grenadierstraße und Dragonerstraße bildeten mit ihren Querzügen eine Art Rechteck, das von unzähligen, winzigen Gassen ohne Namen durchzogen schien. Darin hausten – man musste es so nennen – Familien, die seit Mitte des vorherigen Jahrhunderts durch Pogrome aus dem Osten vertrieben worden waren. Sie hatten eine Art winziges Schtetl geschaffen, eine Nebenwelt, in der sie ihre uralten Traditionen bewahrten. Solche Quartiere wurden in anderen Städten gern »Judenviertel« genannt. Berlin gab sich da zwar aufgeschlossener. Aber dennoch hatte es in den letzten Jahren immer wieder Übergriffe eines aufgestachelten Pöbels gegen diese Menschen gegeben. Folglich mochten sie es nicht, wenn Fremde in ihre Sphäre eindrangen.
»Du hast recht, wahrscheinlich ist es die beste Option, die wir im Moment haben«, befand Konter, nachdem er kurze Zeit überlegt hatte. »Auf da Silva ist Verlass. Bei der Polizei hätte vielleicht etwas aus ihm werden können.«
Franz Sass verkniff sich ein Lächeln. Konter war anfangs überhaupt nicht gut zu sprechen gewesen auf den gewieften Detektiv, dessen Familie aus Spanien stammte und jüdische Wurzeln hatte. Gershom da Silva war in letzter Zeit ein paarmal schneller und besser informiert gewesen als die Polizei. Allerdings belebte Konkurrenz nun einmal das Geschäft. Offenbar ergänzten sich die beiden Ermittler gut. Sie hatten zwar jeweils ihre eigenen Methoden bei der Wahrheitssuche, aber ihr Rechtsempfinden war ähnlich fein ausgeprägt. Ein Umstand, den der ältere Kripobeamte natürlich nicht ohne Weiteres eingestehen würde.
»Ich werde ihn fragen«, meinte Franz. »Annuscheit muss eben auf dem Zimmer bleiben. Es ist ja nur für ein paar Tage. Gershom soll den Leuten einfach sagen, dass er sich von einem rheumatischen Fieber erholt. Und wenn er nur zu einer Person Kontakt hat, können wir ihn problemlos eine Woche verstecken, ohne dass jemand Wind davon bekommt.«
»Gut. Die Zeit sollte reichen, um Kutisker zum Einlenken zu bewegen.«
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Walter Annuscheit war deutlich jünger als sein Arbeitgeber und vermuteter Liebhaber Kutisker. Franz fragte sich, ob es echte Zuneigung gewesen war, die beide Männer zusammengeführt haben mochte. Sicherlich, es gab auch hundert andere Gründe für eine derartige Verbindung. Gerade in dieser unsicheren Zeit. Tänzer, Kellner, Gerichtsassessoren, Studenten. Er kannte eine Menge ehrgeiziger Burschen, die der Aussicht auf schnelles Geld und beruflichen Aufstieg nicht widerstanden und sich den Avancen älterer Männer hingegeben hatten. Für manche war es auch blanke Not, die sie zu diesem Schritt trieb. Die Mieten in der Stadt schossen in die Höhe. Einfache Arbeit wurde schlecht bezahlt. Sofern dann noch Eltern oder Geschwister unterstützt werden mussten, reichte der Wochenlohn nie. Mit der Vorstellung, dass Männer Männer liebten, hatte Franz an sich keinerlei Probleme. Schließlich war auch sein Bruder Georg schwul. Aber wenn nicht das Herz entschied, wenn Vierzehnjährige sich verkauften oder von betuchten, notgeilen Herren verführt wurden, wenn Zwang, Gewalt oder Armut die Gründe für eine solche Beziehung waren, dann verstand er keinen Spaß.
»Herr Sass! Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Walter Annuscheit. »Herr Ehrhardt war so freundlich, mich in ein paar Dinge einzuweihen. Man möchte schließlich wissen, mit wem man es zu tun hat. Es ist sehr umsichtig von Ihnen, mich zunächst etwas abzuschirmen. Wer weiß, ob Iwan beobachtet wird.«
»Er sitzt im Gefängnis«, entgegnete Franz ungerührt. »Da wird man meistens beobachtet. Aber wir wollten unbedingt sicherstellen, dass nicht ein Hitzkopf auf die Idee kommt, Ihnen etwas anzutun. Außerdem möchte der Anwalt von Herrn Kutisker sicherstellen, dass Sie nicht ebenfalls verhaftet werden.« Mit dieser Art von Wahrheitsbeugung hatte Franz keinerlei Probleme.
Sie saßen in einem zugigen Dachgeschosszimmer, das durch einen Werkstattofen notdürftig beheizt wurde. Franz hatte Kontakt zu da Silva aufgenommen, und bereits am nächsten Tag war eine Unterkunft über der Fleischerei Silberberg an der Ecke Hirtenstraße vorbereitet worden. Franz liebte zwar den Luxus, den seine Arbeit fürs Syndicat sicherstellte. Aber immer noch fühlte er sich den einfachen Menschen in den Arbeitergegenden oder eben hier im Scheunenviertel tiefer verbunden als jedem Geldschnösel aus dem Neuen Westen. Sie erinnerten ihn an seine eigene Herkunft. Er war in einer Familie mit sechs Kindern groß geworden. Und die Wohnung in Moabit hatte nur zwei Zimmer gehabt. Die gastfreundlichen Vermieter, die im Erdgeschoss ein Fleischergeschäft betrieben, hatten beiden Männern eben eine Goldene Joich, die traditionell jüdische Hühnerbrühe, aufs Zimmer bringen lassen. Sie galt als Allheilmittel und machte in diesem Augenblick allen Unbill des Berliner Winterwetters umgehend vergessen.
»Wann kann ich Iwan sehen?«, fragte Annuscheit.
»Ich möchte Ihnen nichts vormachen«, erwiderte Franz. »Ihr Auftraggeber und Freund schuldet mir nicht nur Geld. Er schuldet uns Informationen. Wir müssen sicherstellen, dass er sie uns gibt. Sie verstehen?«
»Ich bin also Ihr Gefangener?«
Franz hatte einen ängstlichen, vertrockneten Zahlenkasper erwartet. Stattdessen wirkte der Buchhalter zwar etwas ramponiert, aber er trat in jenem englischen Stil auf, der beim Bildungsbürgertum gerade in Mode war. Und er wirkte durchaus selbstsicher. Immerhin bedeutete es, dass Franz nicht befürchten musste, der zart gebaute Mann könnte jeden Moment in Ohnmacht fallen.
»Selbstverständlich nicht, Herr Annuscheit«, gab er zurück. »Sie sind unser wohlbehüteter Gast.«
»Was kann ich tun, um Sie davon zu überzeugen, dass wir es ehrlich meinen?«
»Halten Sie im Moment einfach die Füße still. Sollte die Polizei Fragen an Sie haben, dann antworten Sie ehrlich und ohne Hintergedanken. Umso schneller ist die Sache für Sie erledigt.«
»Die Polizei?«, fragte Annuscheit erstaunt und ließ seinen Löffel in die Hühnersuppe fallen.
»Nicht, was Sie denken. Es geht um den komplizierten Mordfall an einem russischen Diplomaten. Herr Kutisker versprach, ein paar Dinge aufzuklären. Hintergrundwissen, wenn Sie so wollen. Ich denke, man wird Sie gar nicht behelligen.« Er bedeutete Annuscheit, sich zu beruhigen und weiterzuessen. »Herr Kutisker ist übrigens nicht gut auf Sie zu sprechen«, meinte er nach einer Weile. »Ich glaube, er nimmt es Ihnen übel, dass Sie nach seiner Verhaftung derart schnell abgehauen sind.«
»Ich war in Panik.«
»Die Polen waren offenbar auch nicht sehr nett zu Ihnen. Schläge und schlechtes Essen, nicht wahr?«
»Sie dachten, ich wäre Deutscher. Meinen Pass haben sie für eine Fälschung gehalten. Es ist wie bei der Buchhaltung. Man sieht, was man sehen will.«
»Ich versichere Ihnen, dass Ihr Freund froh sein wird, dass Sie ihn entlasten können.«
»Entlasten?« Walter Annuscheit lachte. »Ich glaube kaum, dass ich ihn entlasten kann. Iwan hat viele ungesetzliche Machenschaften zu verantworten. Das Schiff ist längst auf den Eisberg geprallt, wenn Sie so wollen. Die Titanic sinkt bereits. Und Iwan möchte nicht zusehen, dass andere in den Booten sitzen, während er jämmerlich ertrinkt. Wenn er schon absäuft, dann will er andere mit sich in die Tiefe reißen. Vielleicht ist es nicht der edelste Charakterzug, aber immerhin ein verständlicher.«
»Ein guter Freund braucht Informationen von Ihnen.« Franz hatte beschlossen, die Angelegenheit für Konter gleich mit zur Sprache zu bringen. Es konnte nicht schaden, wenn er die Informationen besäße, die die Polizei so dringend brauchte. Und Konter wäre ihm dann etwas schuldig. Er wollte jetzt zum Punkt kommen. Die Zeit drängte.
»Ich bespreche die Einzelheiten nur mit Iwan«, sagte Walter Annuscheit mit einem Anflug von Trotz in der Stimme. Er schob seine Brille hoch und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Aber das verbogene Gestell, die abstehenden Haare und seine viel zu kurze Hose untergruben sofort jegliche Autorität.
»Hören Sie zu, Annuscheit.« Franz funkelte den Mann an. Er konnte weder mit Undankbarkeit noch Verstocktheit sonderlich gut umgehen. »Wir hätten Sie in dem Grenzzuchthaus verrecken lassen können. Die Polen haben Ihnen noch nicht einmal einen Anwalt zugestanden. Und von einem Prozesstermin wollen wir gar nicht reden. Also kommen Sie mir nicht mit Spielchen oder Forderungen!«
»Sie haben auf Iwans Anweisung hin meine Befreiung erwirkt«, erwiderte Annuscheit steif. »Ich denke, er wird Sie gut dafür bezahlen. Folglich habe ich es ihm zu verdanken, dass ich wieder in Berlin bin. Nicht Ihnen oder Ihren Leuten.«
»Sie wissen, was Ihr Freund von Ihnen will?« Franz wechselte lieber das Thema, bevor er etwas sagte oder tat, was er später bereuen musste.
»Ich habe die Geschäftsbücher geführt.« Annuscheit nickte. »Meine Aussage als Zeuge kann viele bedeutsame Männer in Bedrängnis bringen. Oder sogar in den Abgrund reißen. Wie ich bereits sagte.«
»Ich denke, Kutisker zieht sicherlich eine Vereinbarung dem Abgrund vor. Absprachen mit dem Oberreichsanwalt oder sogar politische Einflussnahme. Ist es das, was er plant? Was meinen Sie?«
»Deshalb muss ich mit ihm sprechen«, sagte der Buchhalter und nickte. »Woher soll ich wissen, ob Sie nicht erst bei Iwan absahnen und danach bei denen, die ich belasten kann? Sie könnten ein doppeltes Spiel spielen und mich Iwans Widersachern ausliefern.«
Der Mann hatte offenbar doch mehr Schneid als vermutet. Er war schlau und sprach seine Bedenken offen aus. Und Franz musste zugeben, dass er nicht ganz unrecht hatte. Solche Vorbehalte waren in einer Welt, in der ein Handschlag nicht mehr zählte, durchaus angebracht. Franz nahm sich vor, den Kerl keinesfalls zu unterschätzen.
»Kommen Sie, Mann!« Franz versuchte es mit Konters Methode. Zuckerbrot und Peitsche. Mal hart, mal herzlich. »Ich verlange nicht, dass Sie mir Ihre Dokumente übergeben. Ich will nur ein paar Informationen. Quasi als Zeichen Ihrer Dankbarkeit. Wenn Sie es jedoch darauf anlegen, kann ich Ihnen auch das Leben schwer machen.«
»Woher wissen Sie überhaupt von den Dokumenten?«, fragte Annuscheit verblüfft.
»Kutisker hat Aufzeichnungen erwähnt, die Sie über gewisse, bedeutsame Personen geführt haben. Also, was bieten Sie mir an?«
»Was genau wollen Sie wissen?«, fragte der Buchhalter und nestelte verlegen an den Knöpfen seiner Weste herum.
»Alles über das Rote Erbe.« Franz wagte einfach einen Schuss ins Blaue. Er hatte nur ein paar Dinge aus den Gesprächen zwischen Katja und Toni aufgeschnappt. Aber Konter wäre begeistert, wenn er jetzt die Informationen bekäme, nach denen er seit über einem Monat suchte. Überrumpelung und Täuschung waren Taktiken junger Menschen.
Annuscheit zuckte merklich zusammen, als hätte ihn eine Peitsche getroffen. Erneut schob er nervös die Brille höher auf die Nase. Jedoch rutschte sie sofort wieder tiefer. Er schwitzte.
»Die politischen Gruppen in Moskau. Stalin. Die Tscheka. Mir können Sie nichts vormachen«, bedrängte Franz ihn weiter, ohne selbst genau zu wissen, wovon er sprach. »Geht es um das Vermögen der Exilrussen?«
»Mehr noch.« Annuscheit nickte verunsichert. »Um das Geld aller Opfer dieser unseligen Revolution. Viele bedeutende Familien konnten sich selbst nicht retten, haben jedoch in den letzten Monaten des Zarenreichs riesige Summen ins Ausland geschafft.«
»Ich weiß auch, dass die Sowjets damit ihre Schulden im Ausland bezahlen wollen.«
»Richtig, es gibt eine Gruppe, die das Geld zu diesem Zweck nutzen will«, sagte Annuscheit. »Aber ein paar Leute haben andere Pläne. Sie wollen damit die Weltrevolution bezahlen. Realisten gegen Phantasten könnte man sagen.«
»Mir egal. Jedenfalls sammeln offenbar Agenten der UdSSR in ganz Europa das Geld ihrer ehemaligen Landsleute ein.«
»Um alles zu verstehen, müssen Sie die beiden Seiten kennen, die in Moskau derzeit um die alleinige Macht kämpfen«, sagte Annuscheit. »Josef Stalin scheint im Moment die Oberhand zu haben. Immerhin ist er Sekretär des Zentralkomitees und damit in einer sehr starken Position.«
»Und er braucht das Geld für die russischen Schulden«, unterbrach ihn Franz ungeduldig.
»Hören Sie mir doch zu, Herr Sass! Stalin will vor allem, dass sein größter Rivale um die Macht keinesfalls an die Mittel herankommt. Leo Trotzki und seine Anhänger würden nämlich gern die zentrale Stellung Moskaus und damit Stalins Basis infrage stellen.«
»Verfügt dieser Trotzki über viele Männer?«
»Keiner weiß es genau«, antwortete Annuscheit. »In den anderen Ländern, aber auch in der russischen Provinz wartet man ab und beobachtet, wer wohl gewinnen wird. Schließlich steht man ungern auf der Seite des Verlierers.«
»Wer die Moneten hat, steht endgültig auf der Sonnenseite. Jetzt begreife ich.«
Franz hatte eine ganz eigene Auffassung von Politik. Und die sowjetischen Machenschaften in Hinblick auf dieses Rote Erbe bestätigten ihn darin, dass Politik letztlich eine andere Form des Unternehmertums war. Bei der es auch nur um Macht und Geld ging.
»Kennen Sie Leute, die mit der Sache zu tun haben?«, fragte er.
»Ich habe bereits mehr gesagt, als ich wollte. Sie sehen, dass Herr Kutisker und ich Ihnen eine Menge anzubieten haben. Die Namen von Vermögensverwaltern und Juristen, Politikern und Bankiers, die sich für Ihre Dienste fürstlich entlohnen ließen.« Der Buchhalter schüttelte energisch den Kopf. Er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach. »Ich schlage vor, Sie beenden die Fragerei und bringen mich jetzt mit Iwan zusammen.«
Franz überlegte und schenkte von dem Kaffee ein, den die Frau des Vermieters ihnen zu Beginn des Treffens gebracht hatte. Aber das Zeug war mittlerweile lauwarm und bitter geworden. Walter Annuscheit war ein Mann, wie es sie millionenfach in Europa gab. Nicht besonders mutig, doch auch nicht übermäßig feige. Er war nicht wirklich erfolgreich, aber er musste sich auch nicht schämen für das, was er erreicht hatte. Kein Lebemann, jedoch zumindest bemüht, nicht in den Mühlen des Alltags zermahlen zu werden. Zwischenmänner hatte seine Tante solche Kerle mal genannt. Sie waren im Leben irgendwo zwischen Nichts und Allem angekommen. Und fanden sich mehr oder weniger damit ab.
»Sie verhören den Boten, Herr Sass«, meinte Annuscheit nach einer Weile. »Fragen Sie den König! Ich weiß wirklich nicht alles. Herr Kutisker wird Ihnen über das Rote Erbe und die Hintermänner sicherlich Genaueres sagen können.«
»Wo sind die Unterlagen, die Ihr Freund unbedingt haben will?«, fragte Franz plötzlich. »Wo haben Sie sie versteckt? Ich denke, dass Kapitän Ehrhardt Sie bereits gefilzt hat. Aber im Knast bei den Polen werden Sie sie wohl kaum dabeigehabt haben.«
»Ich muss mit Iwan sprechen«, beharrte Annuscheit zum wiederholten Male auf seiner Forderung. »Ich muss mich absichern.«
»Schluss mit den Spielchen«, rief Franz und tat bewusst ärgerlicher, als er war. »Glauben Sie, ich lasse Sie zu Kutisker, ohne etwas in der Hand zu haben? Erstens will ich das Geld für diese Aktion. Wenn er mich nicht bezahlt, werde ich ihn kaum verklagen können. Zweitens will ich die Informationen, die Kutisker mir und der Polizei versprochen hat. Mit Ihrer Befreiung habe ich mich weit aus dem Fenster gelehnt und bin quasi in Vorleistung gegangen. Dass Sie hier sitzen, ist von meiner Seite Vertrauensbeweis genug. Jetzt sind Sie dran, Annuscheit. Sonst geht es morgen wieder nach Ostpolen. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, doch! Sie sprechen laut genug.« Walter Annuscheit schien angestrengt zu überlegen und seine Möglichkeiten abzuwägen. Er wirkte zwar nicht eingeschüchtert, aber offenbar war er schlau genug, seine Position realistisch einzuschätzen. »Also gut«, fuhr er fort. »Meine alte Wohnung. Im Keller habe ich ein kleines Versteck. Ich musste vor einem Jahr so schnell verschwinden, dass ich keine Zeit mehr hatte, die Papiere an mich zu nehmen oder anderweitig unterzubringen. Gehen wir hin und holen das Zeug. Und wenn Iwan Ihnen alles gesagt hat, was Sie wissen wollen, geben Sie mir die Unterlagen zurück.«
»Sie unterhalten Ihre Wohnung noch?«, fragte Franz erstaunt.
»Iwan hatte für mich vorgesorgt.« Annuscheit wirkte leicht verlegen. »Wir standen uns nahe, müssen Sie wissen. Auf sehr freundschaftliche Weise. Ich habe das kleine Haus mit seiner Hilfe vor zwei Jahren erworben. Die Hauswirtin sorgt für die Vermietung der Zimmer. Und ich habe Sie in einem Brief angewiesen, meine Wohnung nicht aufzulösen.«
Franz wog seine Möglichkeiten ab. Er hatte Annuscheit da, wo er ihn haben wollte. Doch trotz des Zugeständnisses konnte Annuscheit ihn immer noch hinters Licht führen. Vielleicht waren die Dokumente, die er jetzt herausrücken wollte, ohne Wert. Vielleicht hatte er die wichtigen Sachen woanders versteckt. Aber was blieb ihm jetzt anderes, als sich auf seinen Instinkt zu verlassen? Sicher, er konnte dem Mann mit üblen Konsequenzen drohen. Von schlimmer Prügel über gebrochene Finger bis zum Spreetauchen gab es ein ganzes Repertoire von einschüchternden Perspektiven. Aber diese Art von Überzeugung lag Franz nicht.
»Gut«, sagte er schließlich. »Gehen wir!«
Annuscheits alte Bleibe lag nordöstlich des Stettiner Bahnhofs unweit des Humboldthains. Sie stiegen in der Nähe des Schönhauser Tors in ein Taxi und kamen an den belebten Straßen und chaotisch anmutenden Plätzen der Spandauer und Oranienburger Vorstadt vorbei. Franz hatte befürchtet, sein Begleiter könnte bei der meist langsamen Fahrt oder beim Halt an einer Kreuzung die Gelegenheit nutzen, zu türmen. Deshalb saß er mit ihm im Fond des Wagens und hatte Annuscheit aufgefordert, die Schnürsenkel beider Schuhe zusammenzubinden.
»Vorsicht ist besser als Hinterherlaufen«, sagte er und überhörte die Proteste des Mannes.
Das Wohnhaus an der Ecke Bernauer und Ruppiner Straße war kurz vor der Jahrhundertwende errichtet worden. Ein Eisenwarenhändler nahm beinahe das gesamte Straßengeschoss ein. Linker Hand befand sich das Treppenhaus. Franz ging dicht hinter Annuscheit, um ihn notfalls an Mantel oder Arm packen zu können. Natürlich zogen sie neugierige Blicke auf sich. Berlin war unweit von Mitte in seinen einzelnen Ortsteilen immer noch Dorf geblieben. Eine Alte drohte fast aus dem Fenster zu fallen, als sie ihnen mit immer länger werdendem Hals hinterhergaffte. Und mehrere Gardinen hinter Glasscheiben bewegten sich wie von Geisterhand. Zu allem Überfluss stand ein Lieferant vor dem Geschäft, rauchte und beobachtete sie gelangweilt. Franz bereute bereits, die Sache nicht unauffälliger geplant zu haben. Die beiden Männer traten in den Hausflur und drängten sich sogleich in den seitlichen Abzweig, der zum Kellergeschoss führte. Franz war beruhigt, als er sah, dass Annuscheit im Halbdunkel zielsicher nach einem kaum erkennbaren Drehschalter griff. Unten angekommen zögerte sein Begleiter keinen Moment und wusste genau, welchen Weg sie nehmen mussten. Damit schien klar, dass Annuscheit ihn nicht angelogen hatte. Er kannte sich hier eindeutig aus.
»Hoffentlich ist das Abteil nicht mit einem neuen Schloss versehen worden.«
»Keine Sorge«, erwiderte Franz. Er hatte vorsorglich immer ein paar einfache Sperrhaken in der Brieftasche. Er erwartete zwar nicht, in diesem Keller einen Tresor von Kärcher vorzufinden, aber die mächtigen Vorhängeschlösser waren manchmal ebenfalls widerspenstig.
Walter Annuscheit führte ihn zielsicher zu einem Gang, der am Kohlelager vorbeiführte. Die Schütte stand offen, und einen Moment lang blendete das Licht, das von draußen hereinfiel. Es roch wie in allen Mietshäusern der Stadt. Erdig mit einer schärferen Note von Pilzbefall. Entweder waren irgendwo Lebensmittel vergammelt, oder aber das Zeug wucherte an den feuchten Wänden.
»Hier ist es«, meinte sein Begleiter, und Franz blickte auf einen typischen Verschlag, der mit einer Tür versehen war, die nur aus ein paar Holzlatten und dem bodennahen Drahtgeflecht bestand.
Annuscheit griff in eine Lücke zwischen den Steinen, die kaum sichtbar knapp unterhalb der Decke lag. Er zog einen Schlüssel daraus hervor und steckte ihn ins Schloss. Vergeblich versuchte er mehrmals, den Schlüssel zu drehen.
»Jemand muss es getauscht haben«, sagte er resigniert.
Franz warf einen kurzen Blick auf das massive Eisenschloss, dessen großer Bügel einen Riegel sicherte. Gute Qualität, wie man sie verwendete, wenn mehr als Kartoffeln oder ein paar Briketts im Kellerverschlag lagen. Er hatte Respekt vor jeder Art von Sicherungsmechanismus. Und er verspürte immer den Drang, sich mit dieser Mechanik zu messen. Er zog einen robusten, passenden Dietrich hervor. Man hätte die klapprigen Hölzer sicherlich auch eintreten können, aber ein solches Vorgehen war eines Sass unwürdig. Und der Lärm zudem unnötig. Bereits nach wenigen Sekunden hakte er das Schloss aus und schob den Bügelgriff des Riegels zur Seite. Als er die Tür öffnete, lag vor ihm ein schwarzes Nichts. Der Kellerraum schien kein Fenster zu haben. Er nahm seine Vohwinkel-Taschenleuchte und wies Walter Annuscheit an, hineinzugehen. Offenbar wusste dieser genau, was er suchte, denn er schob ein vollkommen verdrecktes Regal zur Seite. Franz befürchtete, es könnte jeden Augenblick umstürzen.
»Leuchten Sie hierher«, sagte der Buchhalter und werkelte an einer größeren Lüftungsklappe herum, deren Angeln verrostet waren. Anstatt sie zu bewegen, nahm er Franz den Dietrich aus der Hand und kratzte damit am losen Mörtel um einen Mauerstein. Dann zog er den Ziegel samt Klappe nach vorn. »Ich habe Sie nicht belogen. Hier drin ist es.« Er spähte in den Hohlraum, dann griff er hinein. »Was zum Teufel?«, rief er plötzlich. »Wie konnte das passieren? Alles feucht! Sehen Sie sich diese Sauerei an!«
Franz trat vor. Er hoffte inständig, dass nicht alle Papiere verloren waren. Schimmelbefall konnte Dokumente komplett zerfressen. Tinte und Nässe vertrugen sich ebenfalls nur schlecht. Nicht auszudenken, wenn alles umsonst gewesen war! Er nahm seine Vohwinkel und richtete den Lichtkegel direkt auf das Versteck. Nichts. Dann hörte er plötzlich hinter sich ein Geräusch und konnte gerade noch die Hand schützend vors Gesicht halten, als das Regal krachend auf ihn stürzte. Ihm entglitt die Leuchte, die am Boden aufschlug und sofort erlosch. Als er sich fluchend gegen die Holzbretter stemmte, rutschte er auf dem schmierigem Bodenbelag aus und verlor das Gleichgewicht endgültig. Er nahm Annuscheits Schemen wahr, der sich zur Tür bewegte. Er wollte fluchen, aber der Dreck aus zwei Jahrzehnten hatte sich auf sein Gesicht gelegt, so dass er nur ein Husten und Krächzen zustande brachte, als er den Mund öffnete. Als er nach endlosen Sekunden wieder auf die Beine kam, gab er dem Regal einen Stoß, so dass es scheppernd durch den Raum flog. Er tastete nach seiner Taschenleuchte und hatte Glück. Das Glas war nicht zerbrochen, und einen Moment später gab ihm das Licht wieder Orientierung. Wutentbrannt trat er an die Lattentür. Und blickte zwischen den Hölzern hindurch wie ein Häftling durch sein Gitterfenster. Offenbar hatte Annuscheit den Riegel vorgeschoben. Und die Lücken zwischen den Holzlatten waren zu schmal, um mit der Hand hindurch greifen zu können. Franz schrie dem Entflohenen ein paar deftige Schimpfwörter hinterher, von denen er gar nicht wusste, dass er sie kannte. Dann nahm er kurz Anlauf und warf sich gegen die Tür. Sein Bruder Georg, muskelbepackt und doppelt so breit wie er, hätte wahrscheinlich nur Niesen müssen und das Ding wäre in Ehrfurcht zerborsten. Franz hingegen prallte am Holz zurück, als wäre er in einem Irrenhaus gegen die sprichwörtliche Gummiwand gelaufen. Beim dritten Versuch verspürte er einen heftigen Schmerz am Oberarm und musste einsehen, dass er es mit dieser Mischung aus blinder Wut und roher Gewalt nicht schaffen würde. Gerade wollte er sich nach einem Werkzeug umsehen, das er zum Stemmen oder Hebeln verwenden könnte, als er schwere Schritte im Kelleraufgang hörte. Im Schein seiner Leuchte erkannte er gleich darauf den Stern auf einem Tschako. Dann standen zwei jüngere Schutzpolizisten vor dem Verschlag und musterten ihn. Er saß in der Falle.
»Es ist nicht so, wie Sie denken!«, sagte er. »Der Täter muss Ihnen entgegengekommen sein. Beeilen Sie sich, sonst entkommt der Mann!«
»So?«, erwiderte ein Wachtmeister und grinste Franz durch das Holzgitter an. »Ich glaube eher, wir haben ihn bereits.«
»Mensch, werdet ihr Kerle schon so geboren? Oder kriegt eure Birne durch die Dienstmütze zu wenig Licht und Luft? Ich bin reingelegt worden, verdammt!«