Es roch nach Schwefel. Druwe hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, aber der Gestank, der an faule Eier und Darmgase erinnerte, verursachte ihm Übelkeit. Wieder einmal hatte es auf dem Fabrikgelände von Sander & Co. gebrannt. Das Unternehmen war darauf spezialisiert, den »Ausschuss«, das übrig gebliebene, nicht verwertete Filmmaterial der Ufa zu vernichten. Erst im vergangenen Juli waren hier zwei Arbeiter bei einem Feuer getötet worden. Nur dem beherzten Eingreifen eines Hauptmanns der Feuerwehr war es damals zu verdanken gewesen, dass nicht die gesamte Oranienburger Vorstadt in Flammen aufgegangen war. Er war kurzerhand mit einem Magirus-Lastkraftwagen, den er auf der Straße angehalten hatte, in ein hölzernes Nachbargebäude gefahren, und hatte der Feuerwehr damit einen Durchgang geschaffen. Nur durch diese ungewöhnliche, spontane Abrissmaßnahme konnte die Ausbreitung des Brands in letzter Sekunde verhindert werden.

»Ihr habt etwas für uns?«, fragte Druwe einen Schupo, der im Innenhof des Gebäudes stand. Seine Stimme klang durch den Stoff dumpf. Und er brauchte etwas Zeit, bis er mit der anderen Hand seinen Kripo-Dienstausweis hervorgeholt hatte.

»Na, dat is wie inne Kokerei da drinne. Viel Verjnüjn, meen Juter«, erwiderte der ältere Streifenpolizist. Der Respekt vor höheren Dienstgraden war in den letzten Jahren vor die Hunde gegangen und ohnehin in Berlin nie sonderlich groß gewesen. »Dit kannste keenem zeijen. Kiek inne Schupp’n und kotz dir dann aus. De Jans, die da liecht, war een paar Stunden zu lange inne Röhre.«

Der Mann zeigte zu einem kleinen Holzhaus, das am hinteren Ende des Innenhofs stand. Druwe ahnte bereits, was ihn nach dieser kurzen Andeutung erwartete. Seine Fronterfahrungen hatten ihn abgestumpft. Und zugleich verfolgten sie ihn in seinen Träumen. Es war, als hätten sich zwei eigentlich zusammengehörige Gefühle voneinander getrennt. Im Alltag konnte ihn kein Erlebnis mehr erschüttern. Wer in die Gesichter Sterbender geblickt, das Röcheln der Gasopfer gehört, die abstrahlende Hitze hervorquellender Därme gespürt und Unmengen von Blut gerochen hatte, der schien für den Polizeialltag abgehärtet. In Wahrheit jedoch hatte sich die Verarbeitung dieser Eindrücke nur in Druwes tiefstes Inneres verlagert. Seine verwundete Seele hatte sich wie eine verschreckte Maus in die hintersten Ecken seines Menschseins verkrochen. Dem Grauen begegnete er jetzt, fast ein Jahrzehnt später, in den Phantasmen seiner nächtlichen Alpträume und den Orgien seines halbwachen Bewusstseins am frühen Morgen. Seine Verlobte kannte sein schreckhaftes Erwachen, sein Rufen, sein Schwitzen und Keuchen. Aber sonst ließ er niemanden teilhaben an diesen unerträglichen Erinnerungen.

»Sehr unglücklich«, meinte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihm. Fordernd, keinen Widerspruch duldend. Der Mann schien es gewohnt, Anweisungen zu erteilen. »Ich glaube, der Kerl wollte dort eine Zigarette rauchen und hat nicht an die Kisten mit Zelluloid gedacht. Die sind dann hochgegangen. Wir haben nichts damit zu tun! Ich möchte nicht, dass unser Unternehmen wieder in die Schlagzeilen gerät. Ich wäre Ihnen deshalb sehr verbunden, wenn Sie die Ermittlung schnell abschließen und die Fahrlässigkeit des Mannes betonen.«

»Und wer sind Sie, bitte?«, fragte Druwe, nachdem er diesem impertinenten Menschen seinen Ausweis kommentarlos unter die Nase gehalten hatte.

»Hans-Peter Mohnberg, der Geschäftsführer«, gab der Mann in beleidigtem Tonfall zurück, als müsste jeder wissen, wer er war. »Ich werde Herrn Sander in Kenntnis setzen.«

»Erst einmal setzen Sie mich in Kenntnis. Also, was wissen Sie über die Sache?«

»Vielleicht war es gar kein Mitarbeiter.« Mohnberg schien dieser Gedanke gerade gekommen zu sein. Und offensichtlich gefiel er ihm. »Ja, es könnte ein Obdachloser gewesen sein, der hier luschern wollte, ob es was zu holen gibt. Klauen wie die Raben, diese Landstreicher. Dann eine Zigarette, und alles ging hoch. Die Firma ist nämlich nicht verantwortlich, wenn Betriebsfremde die Sicherheitsregeln missachten. Ich werde Herrn Sander anrufen.«

»Sie bleiben«, befahl Druwe. Einem Mann, der im Krieg die ungeheuerlichsten Dinge erlebt – und überlebt – hatte, widersprachen die meisten Zivilisten nicht. Ein ungeheurer Vorteil bei der Polizeiarbeit. Auch der Geschäftsführer blieb so plötzlich stehen, als hätte ein imaginärer Marionettenspieler ihn abgestellt.

»Wann wurde der Vorfall bemerkt?«, fragte der Kripobeamte, nachdem Zuständigkeit und Autorität auf diese Weise geklärt schienen.

»Gegen fünf Uhr wurde Feueralarm ausgelöst. Die Frühschicht war gerade eingetroffen, so dass eine schnell eingerichtete Löschkette ein Ausbreiten der Flammen verhindern konnte.«

Druwe sah sich in der näheren Umgebung um. Mit Sand, Löschdecken und Wasser war vor allem der Bereich um den Schuppen herum gesichert worden.

»Man muss das Material ausbrennen lassen.« Mohnberg schien die Frage des Polizisten zu erahnen. »Es ist sinnlos, die Kraft auf das Feuer selbst zu konzentrieren. Wir haben die Bude deshalb aufgegeben und die anderen Gebäude geschützt.«

Der Kriminalpolizist streifte seine Handschuhe über und schob die Schuppentür auf. Hier drin konnte er kaum atmen, die Reste des kalten Qualms stachen ihm in die Augen. Vor einem Jahr hatten die Ermittler in ihrer Ausrüstung endlich Akkumulator-Lampen erhalten, die es ihnen erlaubten, überall gefahrlos Licht zu machen. In dem Raum standen vielleicht zwanzig Blechtonnen. Zwei waren umgestürzt, und Druwe erkannte jede Menge pechschwarze Asche. Er trat wieder vor die Tür, um ein paarmal tief Luft zu holen.

»Sie lagern hier drin Abfälle?«, fragte er den wartenden Geschäftsführer.

»Nach der kontrollierten Veraschung des Zelluloids in den Öfen werden die Reste an vier Orten zwischengelagert, bis sie abgefahren werden.«

»Ist die Asche noch entzündlich?«

»Nein, sie ist völlig ungefährlich.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ähnlich harmlos wie Ofenasche. Alles genau so, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist.«

»Und was hat dann den Brand verursacht?«, fragte Druwe. »Wenn es stimmt, was Sie sagen, hätte doch eine Zigarette hier gar keinen Schaden anrichten können.«

Mohnberg trat verlegen von einem Bein aufs andere, rückte seine Krawatte zurecht und strich sein Hemd glatt.

»Wie erklären Sie sich das?«, drängte Druwe.

»Manchmal werden noch kleinere Mengen Zelluloid gegen Abend angeliefert.« Der Geschäftsführer war deutlich kleinlauter geworden. »Sie werden dann in den Schuppen zwischengelagert, damit die Reinigungsarbeiten in den Hallen nicht gestört werden.«

Jens Druwe stieß die Tür des Abfallschuppens jetzt weit auf, trat erneut ein und öffnete zwei Klappen, so dass die Luft im Inneren etwas besser wurde. Zwischen zwei Blechbehältern fand er schließlich, was er gesucht hatte. Man hätte den verkohlten Leichnam auch leicht mit einem Baumstamm verwechseln können. Es schien, als bestünde der Körper aus dicken Schichten schwarzer Rinde, die jedoch – offenbar durch die Hitze – an einigen Stellen aufgeplatzt war. In diesen Spalten schimmerten Streifen rötlichen Fleischs durch die Schwärze. Der süßliche Geruch war schier unerträglich. Druwe erinnerte sich an einen Unteroffizier, der versucht hatte, ihn und andere junge Soldaten bei Ypern auf den Angriff mit Flammenwerfern vorzubereiten.

»Stellt euch einfach karamellisierte Grillwurst vor, die zu lange auf dem Rost lag«, hatte er damals gesagt.

Druwe riss sich von diesen Gedanken los und zwang sich, die wichtigsten Details aufzunehmen. Am Eingang fand sich ein lederner Schnürschuh, zwar leicht verrußt, aber ansonsten unversehrt. Neben dem stark verkohlten Leichnam lag ein Brillengestell, die Gläser waren in der Hitze gesprungen. Druwe trat dichter heran und tastete den Körper vorsichtig ab. Das verbrannte Fleisch war noch warm.

»Verdammt«, knurrte er plötzlich, als er sich den rechten Handschuh an etwas Spitzem aufriss.

Er ging wieder nach draußen, um die Eindrücke sofort in seinem Notizbuch festzuhalten.

»Sicherlich nur ein Unfall«, versuchte es Mohnberg erneut. »Wir vermissen keinen Arbeiter. Es muss sich um einen Unbefugten handeln. Jemand von außerhalb, nicht wahr?«

Druwe stand nicht der Sinn danach, seine Vermutungen mit dem Mann zu teilen. Aber er hatte starke Zweifel, dass es sich hier um einen Unfall handelte. Das Opfer lag dicht bei den Behältern, in denen sich wahrscheinlich das entzündliche Filmmaterial befunden hatte. Bei einer Verpuffung wäre der Körper mit großer Wahrscheinlichkeit in Richtung Hinterwand geschleudert worden. Und hätte der Brand sich langsamer entwickelt, hätte der Mann sicherlich versucht, noch zu entkommen und läge folglich näher bei der Tür. Aber ein wesentlich wichtigeres Indiz sprach eindeutig gegen einen Unfall. Ein verbrannter Toter, dem eine dünne Metallklinge aus dem seitlichen Brustkorb ragte, war mit Sicherheit eher das Opfer eines handfesten Streits oder sogar einer vorsätzlichen Tat. Druwe blickte auf seinen eingerissenen Gummihandschuh. Er war sicher, dass der Brand absichtlich gelegt worden war, um Spuren zu verwischen. Die Sache fiel eindeutig in die Zuständigkeit der Mordkommission.

Becher wird seine Freude an dem Fall haben, dachte er. An diesem trockenen Braten wird er sich die Zähne ausbeißen. Er hasste den Zynismus, der sich immer öfter in ihm Bahn brach. Vieles im Leben widerte ihn an. Und der Krieg hatte ihm dafür offenbar nur die Augen geöffnet. Es war oft, als blickte er durch ein Brennglas auf die vielen Ameisen um sich herum. Er sah, wie sie schimpften und schufteten, sich abrackerten für ein bisschen Leben. Für ein wenig Glück. Druwe wurde aus seinen Gedanken gerissen, als zwei Kollegen von der Spurensicherung eintrafen und den Tatort mit Bändern absperrten.

»Lassen Sie bitte klären, ob gestern Abend unerwartet eine neue Lieferung gekommen ist und hier über Nacht gelagert wurde«, wies Druwe den Geschäftsführer an, der gerade mit einem Taschentuch seine Schuhe vom Straßenstaub befreite. »Wer hat normalerweise Zugang zu dem Filmmaterial?«

»Sie meinen den Ausschuss?«, fragte Mohnberg. »Wir schützen das Zeug gegen Brand, aber nicht gegen Diebstahl. Es lagert in Blechkisten, die aber nicht verschlossen sind. Alte Filmstreifen klaut schließlich niemand, nicht wahr?«

»Meine Frage war, wer kommt heran. Nicht wie.« Druwe hatte das Bedürfnis, jetzt den Korinthenkacker heraushängen zu lassen. Manchen Leuten musste man klarmachen, dass ihre blasierte Art anderen fürchterlich auf die Nerven ging.

»Eigentlich alle Mitarbeiter.«

»Für Unverständige möchte ich es noch konkreter formulieren, Herr Mohnberg. Könnte ein Unbekannter in Arbeitsmontur hier hereinspazieren und sich Zugang zum Zelluloid verschaffen?«

»Alles ist nach Vorschrift gesichert«, gab der Mann mit einem letzten Aufbäumen von Trotz zurück.

»Herr Mohnberg, bitte!« Druwe wurde laut. Und er wusste, wenn der Kerl erst einmal auf die Idee kam, einen Anwalt hinzuzuziehen, dann war Schluss mit dieser groben Art von Befragung.

»Ja. Wenn Sie so fragen, Herr Kommissar. Wir beschäftigen auch eine Menge Aushilfskräfte, wenn viel zu tun ist. Die Vorarbeiter haben zwar ein Auge auf die Leute, aber wir können nicht jeden Schritt überwachen.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist durchaus denkbar, dass sich jemand unbefugt Zutritt zum Lagerschuppen verschafft hat. Aber ich muss jetzt den Eigentümer, Herrn Sander, von dem Vorfall in Kenntnis setzen. Sie finden mich in meinem Büro im Verwaltungsgebäude nebenan.«

Natürlich, dachte Druwe und erinnerte sich an den schönen Altbau, der vorn an der Straße stand. Der Mann wollte mit dem Gestank und der Brandgefahr nichts zu tun haben. Seine Arbeiter schufteten hinten im Dunkel und Dreck. Doch die Verwaltung und Geschäftsleitung genossen vorn bei guter Luft ihren Vormittagskaffee.

Mittlerweile hatte der Erkennungsdienst offenbar die ersten Arbeiten abgeschlossen, denn ein Kollege trat aus dem Schuppen und fertigte an der frischen Luft ein paar Skizzen an. Druwe trat neugierig an die Absperrung heran. Mit der Abteilung ED hatte die Mordbereitschaft seit Monaten Ärger, da das in Berlin schon überall bekannte »Mordauto«, eine Art rollendes Laboratorium, mehr oder weniger eine Erfindung von Ernst Gennat war und in direkter Konkurrenz zur normalen Spurensicherung stand. Druwes Vorgesetzter hatte endlich erreicht, dass die »Mordbereitschaft« zu Beginn des Jahres in eine vollwertige Abteilung, die erste anerkannte und unabhängig arbeitende Mordinspektion im Reich, umgewandelt worden war. Und er schien keinesfalls bereit, sich die von ihm eingeführten Methoden einer guten Tatortanalyse einfach wieder aus der Hand nehmen zu lassen, damit andere die Lorbeeren dafür einheimsten.

Zwei Köche rühren an einem Brei, dachte Druwe, als er sah, dass sich die Ermittler beider Abteilungen bereits wieder angifteten und um Zuständigkeiten stritten. Da muss sich der Dicke schnell etwas einfallen lassen. Er fertigte selbst eine grobe Tatortskizze an, damit er Konter später Bericht erstatten konnte.

»Es gab zwei Brandnester«, sagte der Kollege vom ED, als Druwe ihn ansprach. Er wies auf die Tonnen und den Bereich um den Leichnam. »Es brannte in einem Behälter. Und es scheint, als wäre der Körper absichtlich mit dem Zelluloid bedeckt worden. Die Menge der Aschereste deutet daraufhin.«

»Was ist mit dem Metallstück, das aus dem Brustkorb ragt?«, fragte Druwe. »Eine Klinge?«

»Ungewöhnlich schmal«, antwortete der Ermittler und nickte. »Vielleicht ist er in etwas Spitzes gestürzt. Er könnte gestolpert sein, als ihm die Sicht und der Atem genommen waren.« Er blickte sich um. »Allerdings haben wir nichts gefunden, was dazu passen könnte.«

»Wurde der Mann vielleicht erstochen, bevor der Brand gelegt wurde?«

»Möglich. Sie sehen ja selbst, Herr Kollege, dass das Ding nur knapp zwei Zentimeter aus dem Körper herausragt. Einzelheiten muss die Gerichtsmedizin klären.«

Druwe nickte zufrieden und fühlte sich bestätigt. Entweder handelte es sich um versuchte Vertuschung eines Totschlagdelikts. Oder es war tatsächlich ein Mordfall.

»Was haben Sie noch gefunden?«, fragte Druwe.

»Der linke Schuh des Opfers lag im Türbereich. Nur verschmutzt, nicht einmal angesengt. Und neben dem Toten lag eine Brille«, sagte der Mitarbeiter und zeigte auf einen kleinen Klapptisch, auf dem der Erkennungsdienst die Beweismittel ablegte. »Wir haben außerdem eine Brieftasche in der Schuppenecke gefunden. Unversehrt.«

»Kann ich sie mir schon ansehen?«, fragte Druwe erstaunt. Von der Kleidung des Mannes war nichts übrig geblieben. Das Auffinden einer Brieftasche grenzte da an ein Wunder.

»Nehmen Sie aber Handschuhe und Spatel.« Sein Kollege nickte und reichte ihm zwei Holzstäbchen.

Druwe trat an den Tisch und begann, an der Brieftasche aus Leder zu hantieren. Es dauerte eine Weile, bis er sie mit seinen Hilfsmitteln aufgeklappt hatte, da das Leder durch die Hitze wellig geworden war. Mehrere, nicht ausgefüllte Schecks der Commerzbank befanden sich in einem Fach, daneben noch etwa zweihundert Mark Bargeld. Jens Druwe lächelte zufrieden. Auch die Kennkarte war da. Natürlich. Schuh, Brille, eine fast unbeschädigte Brieftasche mit Kennkarte. Sein Verstand arbeitete bereits an einer ersten Hypothese. Er fluchte, als er mehrmals abrutschte. So sehr er sich abmühte, es gelang ihm nicht, die Personalpapiere mit den Holzspateln aufzuklappen. Hitze, Ruß und Feuchtigkeit hatten das Papier zusammenkleben lassen.

»Wir machen das im Labor, Herr Kollege«, sagte der ED‑Mitarbeiter und bat ihn, alles in eine Papiertüte zu legen. »Wasserdampf wirkt da Wunder.«

»Ich brauche möglichst schnell den Namen.«

Druwe sah sich nochmals genauer um. Mittlerweile war die Luft drinnen etwas besser geworden. Oder seine Nase hatte sich an den Gestank gewöhnt. Die Schuppentür war nur leicht von innen angekohlt. Offenbar war nur ein Behälter mit den Filmresten in Brand geraten, der Deckel fehlte und lehnte seitlich an einer weiteren Tonne. Die übrigen Abfallbehälter waren verschlossen. Wäre alles in Brand geraten, hätte das Feuer sehr viel größeren Schaden anrichten können, wäre vielleicht sogar durch das Fenster in die Werkhalle nebenan durchgeschlagen.

Kein Unfall, hier wusste jemand genau, was er tat, dachte Druwe. Ein Großbrand wäre nicht nur eine Katastrophe für die Wohngegend gewesen. Er hätte mit ziemlicher Sicherheit auch sämtliche Spuren vernichtet. Er überlegte weiter. Es wäre also für den Täter ein Leichtes gewesen, von dem wahren Geschehen abzulenken. Stattdessen lag es – scheinbar – wie ein offenes Buch vor den Augen der Ermittler. Nein, was sie vorgefunden hatten, ließ nur einen Schluss zu. Der Täter hatte gewollt, dass die Polizei auf gewisse Spuren stieß. Gennat nannte dieses Phänomen die Ablenkung durch das Offensichtliche. Druwe konnte sich zwar noch keinen Reim auf die möglichen Zusammenhänge machen, aber er war dennoch zufrieden. Der Zweifel war der Wind im Segel des Verstandes eines Kriminologen. Ohne ihn kam man nicht voran. Ebenfalls eine von Gennats Weisheiten.

Er ging zum Verwaltungsgebäude, um die Zeit bis zum Eintreffen eines Anwalts oder des Besitzers zu nutzen. Direktor Mohnberg diktierte gerade eine Stellungnahme für die Presse, als Druwe in das Vorzimmer trat.

»Ein schuldhaftes oder fahrlässiges Verhalten unsererseits kann somit ausgeschlossen werden.« Mohnberg hielt inne. »Herr Kommissar! Haben Ihre Leute bereits neue Hinweise?«

»Ich vermute, es war wohl ein Unfall«, murmelte Druwe wie beiläufig. Ihm war nicht danach zumute, sich die Tiraden des Mannes anzuhören. »Sie hatten ganz recht. Ein Obdachloser oder ein Dieb, der im Schuppen eine Zigarette rauchen wollte. Sie können Ihre Erklärung an die Reporter geben.«

»Wie bitte?«, entgegnete der Mann überrascht und zugleich erfreut. »Hervorragende Arbeit. Herr Sander wird zufrieden sein und sich gegenüber dem Polizeipräsidenten erkenntlich zeigen.«

Druwe lehnte den angebotenen Weinbrand ab. Männer wie Mohnberg kannte er zuhauf. Sie dachten in recht einfachen Kategorien. Die Zahlen mussten immer stimmen. Sie ließen den Herrgott einen guten Mann sein, katzbuckelten nach oben und traten nach unten. Und dabei wollten sie ihr eigenes, gutes Auskommen haben. Seine unverfrorene Lüge hinsichtlich des Ermittlungsstands bereitete Druwe keinerlei Gewissensbisse. Er konnte später behaupten, man hätte ihn missverstanden. Bis dahin konnte es von Vorteil sein, den Täter in dem Glauben zu lassen, die Polizei wäre der Täuschung erlegen. Mohnbergs Pressemitteilung konnte in dieser Hinsicht von Vorteil sein.

˚˚˚

»Was haben wir?«, fragte Konter ungeduldig, als Druwe endlich aufs Präsidium zurückgekehrt war. Er hatte selbst zum Tatort fahren wollen, allerdings quälten ihn heftige Zahnschmerzen. Entsprechend unleidlich war er seit Tagen.

»Sander & Co. entsorgen Filmabfälle. Dort ist es wieder zu einem kleinen Brand gekommen«, wollte Druwe seinen Bericht beginnen.

»Mensch, in der Hütte hat es doch erst im Sommer gebrannt«, entfuhr es Konter.

»Ja, zwei Tote, zwanzig verletzte Arbeiter. Aber dieses Mal liegt die Sache offenbar anders.«

»Unglaublich! Jetzt kokelt es schon wieder? Und erneut ein Toter?«

»Ich denke, dass es sich nicht um einen Unfall handelt, Chef. Ich gehe davon aus, dass der Brand absichtlich gelegt wurde.«

»Dieser Zahn bringt mich auch noch um!«

»Nelken, Chef.«

»Was?«

»Nelken helfen gegen Zahnschmerz.«

»Soll ich auf einem Strauß Blumen herumkauen?«, ereiferte sich Konter. »Reden Sie keinen Unsinn, Jens. Los jetzt, der Bericht.«

»Natürlich, Chef. Danke, dass Sie mich daran erinnern. Ich war vom Thema abgekommen.«

Druwe verkniff sich weitere Bemerkungen und schilderte nun ausführlich die Fakten. Zwei Brandstellen, die auf eine Weise gelegt schienen, dass die große Katastrophe ausbleiben musste. Der entstellte, bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichnam. Die abgebrochene Klinge im Brustkorb. Die Beweisstücke am Tatort. Vor allem eine beinahe unversehrte Brieftasche. Die Befragung des Direktors. In seinem Bericht trennte er sorgfältig das Wissen von den Vermutungen. Ganz so, wie Gennat es von seinen Mitarbeitern verlangte.

Konter lief während der Schilderungen auf und ab, rieb sich die Wange. Immer wieder warf er auch einen Blick auf die Zusammenstellung der Erkenntnisse im Fall Bobrow. Zwischen den Notizen gab es große Lücken, und fast überall waren Fragezeichen zu sehen. Schließlich wandte er sich ab und schüttelte den Kopf.

»Es sieht ganz danach aus, als ob der Täter wollte, dass der Leichnam gefunden wird«, sagte er. »Fürchterlich entstellt, aber er musste gefunden werden. Ebenso verhält es sich mit den Indizien. Einen Schnürschuh verliert man nicht mal an der Tür, um sich dann eine Zigarette anzuzünden. Gut, bei der Brille können wir uns nicht sicher sein. Er könnte sie ihm Fallen verloren haben. Aber die Brieftasche liegt in einer Schuppenecke? Gut geschützt vor dem Brand? Ich glaube nicht an derartige Zufälle.«

»Sehe ich ebenso, Chef. Die Dinge wirken eindeutig platziert.« Druwe nickte.

»Wir müssen also von einem Mordfall ausgehen.« Konter zeigte etwas gedankenverloren auf die Aufzeichnungen zum Bobrow-Fall. »Ist das zu fassen? Bereits die dritte Leiche beim Film in kurzer Zeit! Im weitesten Sinn jedenfalls.«

Der Fernsprecher läutete, und Konter schrak zusammen. Das Klingeln schien seinen Zahnschmerz zu verstärken. Als sein Vorgesetzter keine Anstalten machte, nach dem Hörer zu greifen, nahm Druwe ab.

»Nein!«, entfuhr es ihm, nachdem er sich angehört hatte, was der Anrufer zu sagen hatte. Er legte auf.

»Die Spurensicherung konnte die verklebte Kennkarte retten«, sagte er tonlos zu Konter. »Sie gehört Walter Annuscheit.«

Beide Männer sahen sich einige Sekunden lang an. Es schien, als wäre eben der dünne Faden durchtrennt worden, der die Teile ihrer Ermittlung zusammengehalten hatte.

»Verdammt«, stöhnte Konter. »Gerade hatte es ausgesehen, als ergäbe sich ein schemenhaftes Bild, ein Zusammenhang. Bobrow erwähnte kurz vor seinem Tod das Rote Erbe. Iwan Kutisker verspricht uns Informationen darüber, wenn wir ihm helfen, seinen Kopf aus der Schlinge zu bekommen. Aber jetzt wird sein Buchhalter umgebracht? Unser bester Zeuge!«

»Und die einzige echte Spur«, fügte Druwe hinzu.

Sorgsam achtete Druwe deshalb darauf, dass er die folgenden Hypothesen auch sprachlich vom Wissen trennte.

»Die Arbeiter bei Sander müssen strenge Richtlinien beachten. Das Zelluloid brennt wie Zunder, kann sich unter bestimmten Bedingungen sogar selbst entzünden. Filmabfälle werden in verschlossenen Metallbehältern angeliefert. Man schichtet sie in einem vollkommen abgekühlten Ofen auf und verbrennt sie dann kontrolliert. Der Unfall im Sommer war darauf zurückzuführen, dass ein übermüdeter Mitarbeiter die Maschinennutzung falsch eingetragen hatte. Die nächste Schicht dachte, sie würde einen kalten Ofen befüllen. Und dann knallte es. Unfall durch Fahrlässigkeit.«

»Dieses Mal ist es ganz sicher kein Versehen«, stellte Konter fest. »Jemand hat Annuscheit beseitigt.«

»Wäre der Schuppen komplett abgebrannt, oder hätte sich das Feuer stark ausgebreitet, dann wäre wohl nichts von der Leiche und den Papieren übrig geblieben«, gab Druwe zu Bedenken.

»Irgendetwas übersehen wir, Jens.«

»Jemand wollte, dass wir unbedingt erfahren, dass Annuscheit tot ist. Nur dann ergibt der Aufwand einen Sinn.«

Widerwillig betrachtete Druwe die Aufnahmen des Fotografen, die vor zehn Minuten über die Rohrpost gekommen waren und den verkohlten Körper zeigten. Sofort brachte ihm dieser Anblick den typischen, stechend-süßlichen Geruch verbrannten Fleisches wieder in Erinnerung. »Sie verfügen in der Werkhalle seit dem letzten Vorfall über einen Brandwagen«, fuhr er fort. »Zwar haben die Leute beherzt eingegriffen, aber es wirkt nicht so, als wäre vom Täter eine Ausbreitung der Flammen überhaupt beabsichtigt gewesen.«

»Welcher Idiot lässt denn überhaupt zu, dass diese gefährliche Arbeit mitten in einem Wohngebiet ausgeführt werden darf? Was sagt die Bauaufsicht dazu?« Konter wirkte unkonzentriert und verärgert.

»Ich denke, in Schmargendorf oder Westend würden die feinen Herrschaften sich selbiges verbitten«, erwiderte Druwe und zuckte mit den Schultern. »In den Arbeitervierteln kümmert es niemanden.«

Konter brummte etwas Unverständliches und rieb sich den Kiefer. Er wusste, dass sein Assistent im Prinzip recht hatte. Aber mit dessen kühlem Zynismus kam er manchmal nicht gut zurecht.

»Der Tote ist schon in der Gerichtsmedizin? Ihr Schwager arbeitet hoffentlich auch an diesem Fall?«, fragte er schließlich.

»Ich habe ihn sofort angerufen.« Druwe nickte. »So etwas lässt Berthold sich nicht entgehen. Aber ob er in diesem Fall etwas sagen kann? Im Krieg hat er zwar auch mit vielen Brandverletzten zu tun gehabt. Aber Sie hätten den Leichnam sehen sollen, Chef.«

Konter trat zu seinen Aufzeichnungen, die er wie immer auf eine Staffelei gestellt hatte. Beim Trödler besorgte er sich regelmäßig für ein paar Mark eines dieser fürchterlichen Gemälde aus der Zeit des kleinbürgerlichen Biedermeier. Daran heftete er Bögen von Papier, die er sich von einer Druckerei liefern ließ. Unbarmherzig hatte er dieses Mal einem jungen Adonis mit Heftzwecken ein paar Notizen auf den gemalten Körper gerammt. Druwe schmunzelte jedes Mal, wenn er sah, wie sich die Gedanken seines Vorgesetzten derart rüde, rücksichtslos und unerbittlich gegen den Ungeist deutscher Kleinkultur stemmten und zu einem sinnvollen Ganzen formten.

»Wenn Annuscheit beseitigt wurde, stehen wir wieder am Anfang, Jens«, schimpfte er. »Der Mann war unser einziger Schlüssel zu dem Fall!« Er löste einige Zettel von seinem Kunstwerk, um sie dann doch wieder an ihren ursprünglichen Platz zu hängen. »Bobrow kannte Eisenstein. Er sollte ihm eine Warnung Stalins überbringen. Aber er spielte offenbar ein doppeltes Spiel. Dafür sprechen das Schreiben Trotzkis und die Tonaufnahme mit Lenins Willen, die wir gefunden haben. Kutisker schlug vor, dass wir den Täter in den Reihen der Tscheka suchen müssen.«

»Er deutete an, dass es noch Reste der Deutschen Tscheka gibt«, warf Druwe ein.

»Mag sein, auch wenn ich nicht daran glaube«, erwiderte Konter. »Fakt ist, dass Annuscheit unser Druckmittel war, um Kutisker sein Wissen zu entlocken. Er wird annehmen, dass wir unter Druck gesetzt wurden, damit sein Entlastungszeuge beseitigt wird, und kein Wort mehr sagen.«

»Und die Sache wird noch komplizierter«, meinte Druwe. »Sie erinnern sich an diese gelben Diamanten?«

»Natürlich«, entgegnete Konter und zeigte auf eine Notiz, die wie viele andere auch mit Fragezeichen versehen war.

»Unsere Experten sagen, dass die Dinger aus einer Mine im Osten Russlands stammen müssen. Man weiß nicht viel darüber, aber Gerüchten zufolge wird dort ein riesiges Diamantenfeld vermutet. In der Qualität nicht mit den afrikanischen Vorkommen zu vergleichen, trotzdem wertvoll.«

»Also war Bobrow auch noch als Diamantenhändler tätig?«, schnaubte Konter ungehalten.

»Wir sehen die Zusammenhänge nicht«, meinte Druwe.

»Weil wir in die falsche Richtung denken oder etwas Wichtiges übersehen«, erwiderte sein Vorgesetzter. »Unser Toter muss Motive für sein Handeln gehabt haben, die wir nur nicht kennen. Da scheint es zwei Richtungen zu geben. Eine politische Absicht, die mit Stalin und seinen Widersachern zu tun hat.«

»Und da ist eine Geldfrage.« Druwe nickte. »Das Rote Erbe und diese Diamanten.«

»Warten wir den Bericht der Gerichtsmedizin ab«, entschied Konter in resigniertem Tonfall.

»Kopf hoch, Chef! Mein Schwager spricht die Sprache der Toten, und vielleicht verraten sie ihm, wo wir suchen sollen.«

»Die Sprache der Toten? Nun werden Sie mir nicht auch noch prosaisch, Jens. Ihre politischen Ansichten sind bereits reichlich suspekt. Da müssen sie ihre Vorgesetzten nicht auch noch durch halbgare Dichtung verwirren. Sprache der Toten, also wirklich.« Konter schüttelte in gespielter Entrüstung den Kopf, lachte und boxte Druwe freundschaftlich gegen die Schulter. Für seine Verhältnisse eine fast schon intime Geste.