»Genosse Sass! Lange nicht gesehen«, rief Wilhelm Pieck. Sein Büro in der Zentrale der KPD am Hackeschen Markt war wie immer spartanisch eingerichtet. Franz hatte bei jedem seiner seltenen Besuche den Eindruck, der Mann wäre quasi auf dem Sprung. Tatsächlich hatte Pieck, Gründungsmitglied der Partei, in den letzten Jahren verschiedene Funktionen innegehabt, die ihn auch oft nach Moskau geführt hatten. Jetzt war er Mitglied des Zentralkomitees der KPD und Leiter der Roten Hilfe, die in einer Art ideologischer Konkurrenz zum Roten Kreuz stand.

»Einen Wodka?«, fragte der Mann mit dem ergrauenden Bürstenschnitt. Sein Äußeres entsprach nicht dem Klischee des revolutionären Arbeitervertreters. Er hob sich damit deutlich ab von dem beinahe modischen Trend, den der neue Vorsitzende Ernst Thälmann mit Hamburger Schippermütze und etwas zu eng sitzendem, billig bei Karstadt erworbenem Sonntagszwirn geprägt hatte. Alles in allem wirkte Pieck in seinem Auftreten eher wie ein biederer, kaiserlicher Beamter. Es war drei Uhr nachmittags, und er zog zwei Gläser aus der Schreibtischschublade. Dann öffnete er den großen Aktenschrank, in dem mehrere Flaschen standen. Darauf klebten schiefe, offenbar handgeschriebene Etiketten, die den Inhalt als Mariinsk Vodka auswiesen. Franz blickte skeptisch, fühlte er sich doch eher an Opas selbst gebrannten Kartoffelschnaps erinnert.

»Das Gesöff macht wahrscheinlich jeden Nicht-Kommunisten blind«, meinte er und lächelte säuerlich.

»Du hast ja keine Ahnung! Ein Geschenk der Genossen aus Moskau«, erklärte Pieck. »Das Zeug ist unglaublich. Schmeckt nach Weihnachtsgebäck und edlen Gewürzen. Wurde mit dem reinsten Wasser aus Sibirien gebrannt!«

Pieck war seit ihrem letzten Treffen etwas fülliger geworden. Sein Anzug war aus bestem Tuch gefertigt. Auf seinem Tisch stand ein riesiger Aschenbecher, an dessen Rand eine halb gerauchte Zigarre lehnte. Zwar keine Cohiba, aber die Banderole sah dennoch edel aus.

Die Zeiten brüderlicher Solidarität in Armut sind offenbar vorbei, dachte Franz. Aber wieso nicht? Urvater Karl Marx war schließlich auch ein Habenichts gewesen, der es sich auf Kosten seines Freundes Engels hatte gut gehen lassen. Das geflügelte Wort vom Typus des feiernden Salonbolschewisten machte bereits die Runde in den konservativen Zeitungen. Männer wie Pieck schienen diese Vorurteile zu bestätigen. Andererseits, wer sagte denn, dass ein stolzer Arbeiter nur in zerrissenen Lumpen glaubwürdig wäre?

»Was grinst du, Genosse Sass? Kannst es kaum erwarten, von dem guten Tropfen zu kosten, nicht wahr?« Offenbar deutete Pieck das Lächeln seines Besuchers falsch.

»Danke, nein«, sagte Franz. Er wollte keine Zeit verlieren und musste einen klaren Kopf bewahren. Pieck war nicht sein Freund. Und er war gerissen. »Sie haben sicherlich von dem toten Diplomaten gehört, der vor etwa zwei Monaten in den Ufa-Studios gefunden wurde? Wissen Sie vielleicht mehr darüber, Wilhelm?«

»Wie kommst du darauf, Genosse Sass?«

»Jeder weiß doch, dass die deutschen Kommunisten eng mit der sowjetischen Botschaft und Moskau zusammenarbeiten. Der Tote sollte offenbar den Regisseur Eisenstein auf Linie bringen. Da wird es doch Gerüchte geben. Und wahrscheinlich haben Sie sogar Weisung von der Zentrale erhalten.«

»Über die ich natürlich umgehend mit dir spreche. Da wir alte Kampfgenossen sind.« Pieck wirkte amüsiert. Er schenkte sich ein halbes Glas Wodka ein. »Worauf willst du hinaus? Es sind bereits über zwei Monate vergangen, der Täter ist nicht gefasst. Und eigentlich betrachtet die UdSSR das Ableben dieses Mannes als ihre innere Angelegenheit.«

»Ableben trifft den Sachverhalt wohl nicht ganz«, sagte Franz. »Es war Mord, Wilhelm. Und ich verlange ja nicht, dass Sie mir Staatsgeheimnisse verraten.«

»Wie ich bereits sagte, jede Einmischung in den Fall verletzt die Souveränität der Sowjetunion.«

»Ein guter Freund braucht Informationen«, versuchte es Franz erneut. »Es gibt Gerüchte, die Ihrer Partei schaden könnten, wenn man sie nicht aus der Welt schafft. Manchmal reichen sie sogar aus, um Hausdurchsuchungen zu rechtfertigen. Die Reichsanwaltschaft sucht doch ständig Gründe, Ihnen und Ihren Leuten auf die Füße zu treten.«

»Was willst du?« Pieck sprach die Worte gedehnt und fixierte Franz. Einen kurzen Moment lang hatte er seine freundliche Fassade eingebüßt. Dann lachte er wieder und trank, als wäre tatsächlich nur sibirisches Wasser im Glas. »Ein Freund? Der Freund in Staatsdiensten nehme ich an?« Er griff nach einem Stück Papier und zog einen Schweizer Füllfederhalter aus der Innentasche seiner Weste. »Ich habe ebenfalls einen guten Freund. Er ist unglücklicherweise in eine Gruppe Streikender geraten und wurde verhaftet. Vielleicht kann dein Freund meinem Freund behilflich sein?«

Das war Pieck. Geben und Nehmen. Das Gesetz der Straße. In dieser Hinsicht ähnelten sich er und Franz, verstanden einander sogar. Beide hatten in ihrem Leben Zeiten erlebt, in denen ihnen nichts geschenkt wurde. Folglich hatten sie auch nichts zu verschenken.

»Ich sehe, was ich tun kann.« Franz steckte den Zettel mit dem Namen darauf in seine Brieftasche. »Also?«

»Bobrow war ein Läufer.«

Franz sah den Politiker fragend an und legte den Kopf schräg. Ihm war nicht nach Spielchen und Geheimniskrämerei zumute. Er wusste, dass die Russen sich gern Geschichten erzählten, Decknamen zulegten und sich in Heimlichtuerei übten.

»Sprechen Sie bitte nicht in Rätseln, Wilhelm«, meinte er.

»Läufer nennen wir jene Parteigenossen, die zwischen den vielen Mitgliedern des Zentralkomitees vermitteln. Man weiß schließlich nie, wer am Fernsprecher mithört oder wer die Briefe liest. Also nutzen wir Boten, eben die Läufer. Sie sind ein bisschen wie die Melder im Krieg, die zwischen vorn und hinten umherhuschten. Von Graben zu Graben. Von Bunker zu Bunker. In den Parlamenten gibt es sie übrigens auch. Über sie tauschen sich die Fraktionen und Interessengruppen aus, ohne dass jemand allzu sehr aus der Deckung kommen muss. Viele wichtige Abkommen wurden auf diese Weise schon ausgehandelt, bevor die Verantwortlichen überhaupt das erste Wort miteinander wechseln mussten. Läufer sind eigentlich unantastbar, da sie für viele Seiten von Nutzen sind und unnötige Konflikte durch frühzeitige Absprachen verhindern können.«

»Seltsame Form, Politik zu betreiben.«

»Keineswegs. Bereits im antiken Griechenland und auch in der römischen Republik gab es sie. Sie vermittelten Kompromisse in der Polis oder auf dem Forum Romanum. Und wie gesagt, im Reichstag ist es nicht anders. Wir Sowjets gehen nur ehrlicher mit diesem Phänomen um.«

»Was hat es mit diesem Komitee auf sich, Wilhelm? Sind Sie auch ein Mitglied dort?«

Pieck lachte wieder. »Ich? Im Moskauer Zentralkomitee? Nein, ich wurde lediglich ins deutsche ZK gewählt.« Er suchte offenbar nach einem Vergleich. »Am ehesten ist das ZK ein politischer Zwitter, eine Art Parlament und gleichzeitig auch die Regierung. Ein ganz neues Modell, dazu geschaffen, den revolutionären Geist von unten nach oben zu tragen. Wir haben diese Struktur zwar jetzt für die KPD übernommen, aber mit Moskau ist sie nicht zu vergleichen.«

»Solche Läufer werden auch ins Ausland geschickt? Um einem Regisseur eine einfache Botschaft zu überbringen?« Franz klang wenig überzeugt. »Ein enormer Aufwand.«

»So einfach kann die Botschaft nicht gewesen sein, wenn ein Läufer notwendig war. Männer wie Bobrow spielen zwar nicht in der obersten Liga. Sie treffen keine Entscheidungen, aber sie sind dennoch wichtig. Sie machen oft Karriere. Soviel ich weiß, hatte er sich bereits für Aufgaben im Politbüro qualifiziert.«

»Kommen Sie, Wilhelm. Nerven Sie mich nicht mit dieser Geschichtsstunde. Was ist das wieder für ein Büro?«

»Das Zentralkomitee ist zu groß, und die Mitglieder kommen aus allen Ecken des Landes. Man braucht ein kleines Gremium, das zwischen den Parteitagen die Entscheidungen trifft. Das Politbüro. Bobrow gehörte zu den Vertrauten eines wichtigen Mitglieds. Josef Stalin.«

Franz rieb sich die Schläfen und notierte ein paar Fakten. Politik verursachte ihm Kopfschmerzen. Wann immer er bisher damit zu tun gehabt hatte, war es um Lug, Betrug – und sogar Mord – gegangen.

»Stalin will die Sowjetunion radikal umbauen«, fuhr Pieck fort. »Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft. Er will den neuen, sowjetischen Menschen erschaffen. Ein Staat, der in Zukunft dann allen anderen Ländern als Modell gelten kann.«

»Ich bin froh, dass es nicht nur bei uns Wirrköpfe und Phantasten gibt«, sagte Franz.

»Nicht alle sind mit seinen Plänen zufrieden«, sagte Pieck.

Franz glaubte, den Hauch eines Zögerns zu verspüren. Er hob die Augenbrauen, schwieg jedoch.

»Genosse Stalin hat einen großen Widersacher«, fuhr der kommunistische Funktionär fort. »Einen Mann namens Leo Trotzki, der lange Zeit der Vertraute unseres verehrten Genossen Lenin war. Der Mann verliert zwar zunehmend an Einfluss in Moskau, hat allerdings eine große Anhängerschaft in Europa.«

»Er will diese Weltrevolution?«

»Wenn du es so nennen willst, bitte. Fakt ist, dass viele Sozialisten und Kommunisten im Westen darauf hoffen, dass sie ebenfalls bald zuschlagen und die alten Systeme beseitigen können. Sie wollen nicht länger warten und vertröstet werden. Dieser Kritik muss sich Stalin stellen. Und vielen dieser Leute gilt Trotzki als eine Art Prophet einer weltumspannenden Revolution.«

»Auf welcher Seite stehen Eisenstein und Bobrow?«, fragte Franz.

»Wer weiß das heute schon so genau?«, antwortete Pieck salomonisch und hob die Schultern. »Als Läufer muss Bobrow ein Mann Stalins gewesen sein, da er den Auftrag hatte, Eisenstein zu überzeugen, nach Moskau zurückzukehren.«

»Könnte er ein doppeltes Spiel gespielt haben?«

»Jeder Mann ist dazu fähig. Ein Verbündeter von heute kann morgen dein ärgster Feind sein.«

»Also geht es nur darum, wer zu wem hält?«, fragte Franz. »Wer wen unterstützt oder bekämpft?«

»Stalin braucht Verbündete. Denn sein Plan hat einen großen Haken«, erwiderte Pieck. »In der Sowjetunion wird er vielleicht bestimmen können, wie die Uhren ticken. Sofern er sich endgültig durchsetzt. Aber das Land betreibt weiterhin Handel mit anderen Ländern. Mit den alten, kapitalistischen Ländern. Mit dem Klassenfeind, wenn man so will. Wenn sich die UdSSR auf dem internationalen Parkett bewegen will, muss sie für gewisse Zeit nach den Regeln ihrer Gegner spielen.«

»Es geht ums Geld«, unterbrach ihn Franz.

»Ganz genau. Stalin will im Moment unbedingt Frieden, denn ein neuerlicher Krieg würde Russland zerreißen. Er braucht Technik, Industriewaren, Waffen, Wissenschaftler, um das Land aufzubauen. Die Rechnungen müssen bezahlt werden.«

»Könnte eine Aktion, die die Russen Rotes Erbe nennen, damit zu tun haben? Will die Sowjetunion auf diese Weise an das nötige Geld herankommen?«

Franz beobachtete genau, wie sein Gegenüber etwas zu lässig nach dem leeren Glas griff, sich dann anders entschied und scheinbar gelangweilt mit der erkalteten Zigarre spielte. Er war sicher, dass Pieck sich bemühte, seine Gefühle zu verbergen.

»Kommen Sie, Wilhelm, ein paar Informationen. Niemand erfährt davon. Und die Polizei könnte Ihnen zu gegebener Zeit nützlich sein. Denken Sie nur an die Razzien.«

»Rotes Erbe war ein Mythos«, meinte der Kommunist, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. »Ein Mythos wie der Gral. Manche Genossen klammerten sich an die Vorstellung, dass der sagenumwobene Schatz der Zaren alle Probleme lösen würde.« Er entzündete die Zigarre und blies Rauchwolken in den Raum. »Dann plötzlich wurde aus dem Mythos ein Plan. Schlaue Köpfe in Moskau dachten nicht mehr an den einen großen Schatz, sondern an die vielen kleinen Reichtümer der Emigranten und Getöteten.«

»Das Rote Erbe ist also die Summe aller Gelder, die die Sowjets für sich einfordern? Einen Zarenschatz hat es nie gegeben?«

Pieck nickte.

Regelmäßig waren in den vergangenen Jahren Berichte in den Magazinen und Zeitungen über einen sagenhaften Schatz der Romanows aufgetaucht. Angeblich hatte der Zar Berge von Gold und Juwelen gehortet. Eine unterirdische Stadt spukte durch die Hirne der Reporter und Leser. Und Gänge, die von einer Kammer zur nächsten führten. Kilometerlang. Immer dann, wenn ansonsten Nachrichtenebbe herrschte, wurden die Gerüchte von findigen Blättern angeheizt. Mal war es Anastasia, die Zarentochter, die im Brandenburgischen Nebel aufgetaucht war und ihre Brillanten am Hals und in Koffern durch die Nacht trug. Dann wieder war von dem abgedankten, deutschen Kaiser Wilhelm die Rede, der mit dem toten Zar Nikolaus verwandt war und angeblich tausend Kisten mit Gold in Holland auf seinem Landsitz vergraben hatte.

»Diese Gerüchte waren allesamt Unsinn«, meinte Pieck nach einiger Zeit. »Und dennoch … in jeder Legende steckt immer auch ein Fünkchen Wahrheit. Denn die Konterrevolutionäre und Exilanten haben dem russischen Volk riesige Summen entwendet. Das ist der Schatz, um den es hier geht. Übereinstimmend und unabhängig voneinander berichten die Informanten über Verbindungen in Deutschland, der Schweiz, in Schweden und Finnland.«

»Wer sind diese Informanten?«, fragte Franz. »Die Leute von der Geheimpolizei? Ist die Tscheka in Deutschland aktiv?«

»Vorsicht, Sass!«, zischte Pieck. »Manche Fragen stellst du besser nicht.«

Pieck musterte seinen jungen Besucher eindringlich. Franz Sass kannte einige pikante Details. Pieck hatte vor einigen Jahren Kontakte zu den Freikorps gehabt. Und seine Rolle in der KPD war stets umstritten geblieben, seit der Verdacht aufgekommen war, er hätte Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an ihre Mörder verraten, um sein eigenes Leben zu retten. Manche hatten damals sogar vermutet, er wäre ein bezahlter Spitzel oder Agent konservativer Kreise. Andererseits war er für viele Seiten ein unentbehrlicher Strippenzieher, der alle Welt zu kennen schien. Plötzlich kam Franz ein Gedanke. Pieck konnte selbst ein solcher Läufer sein. Vielleicht war er nicht nur zu Schulungen in Moskau gewesen. Ebenso gut mochte er dort Berichte abgeliefert und zwischen den Gruppen vermittelt haben.

»Kommen Sie, Wilhelm«, meinte er. »Alle wissen, dass Sie mit Raubein Thälmann nicht warm werden. Da könnte es von Vorteil sein, anderswo ein paar Eisen im Feuer zu haben. Sie meinen allen Ernstes, dass es im Ausland Geld gibt, auf das dieses Politikerbüro scharf ist?«

»Politbüro. Ja. Die Sowjetunion sieht sich als rechtmäßiger Eigentümer allen russischen Besitzes. Im Inland und im Ausland. Egal, ob die Leute leben oder bereits tot sind. Alles gehört allen.«

»Rotes Erbe.« Franz überlegte. Es war sofort klar, dass die Sichtweise der Kommunisten ganz sicher nicht jedem gefiel. Am wenigsten den reichen Emigranten selbst. »Kennen Sie Einzelheiten? Was könnte Eisenstein damit zu tun haben? Warum der Bote?«

»Was weiß ich? Frag ihn selbst. Seit Lenins Tod geht es in der Sowjetunion zu wie in einem Bienenstock. Rein und raus. Alles summt. Und einige stechen zu, wenn sie sich bedroht fühlen. Wenn man aufs falsche Pferd setzt, könnte man tief fallen. Vielleicht weiß Clara etwas.« Als Franz ihn fragend ansah, fügte Pieck hinzu: »Clara Zetkin. Sie ist meine Nachfolgerin bei der Roten Hilfe. Und so etwas wie eine Grande Dame der Partei. Und wie bei alten Hexen üblich, weiß sie viel über jeden. Aber Vorsicht bei ihr.«

Franz sah auf seine Notizen und fügte den Namen hinzu. Er hatte von der betagten Zetkin gelesen, die streitbar und recht wortgewandt ihren männlichen Parteigenossen Paroli bot. Sollte sich Konter doch um sie kümmern.

»Auf welcher Seite steht Felix Dserschinski?«, fragte Franz, als sein Blick auf den letzten Namen der Liste fiel, die ihm Konter mitgegeben hatte. Fast hätte er vergessen, dass der Kripobeamte ihn gebeten hatte, sich bei Pieck nach dem Namen zu erkundigen. »Angeblich hat Bobrow ihn im Gespräch mit Eisenstein erwähnt?«

»Mensch, Genosse Sass, sieh dich bloß vor!« Pieck war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden. Seine deutlich erkennbare Anspannung stand in Widerspruch zu dem gedämpften Ton, in dem er sprach. »Kommst hier rein, und ich denke, dass du nur ein paar harmlose Fragen stellen willst. Unversehens sitzen wir hier in einem politischen Sperrfeuer und rennen durch die Minenfelder der übelsten Intrigen.« Der Parteifunktionär wirkte beunruhigt, ging zur Tür seines Zimmers und spähte auf den Flur hinaus, bevor er weitersprach. »Der Kerl, von dem du sprichst, ist vielleicht gefährlicher als Stalin selbst. Denn Dserschinski hat den gesamten Polizei- und Agentenapparat hinter sich. Er hat in Russland die Tscheka ins Leben gerufen. Viele Genossen sagen, dass er die eigentliche Macht in Händen hält. Der Mann ist gnadenlos und unberechenbar.«

»Angeblich hat Bobrow eine Nachricht Dserschinskis an Eisenstein überbracht. Im Auftrag Stalins.«

»Wie ich bereits sagte, Genosse Stalin kämpft mit harten Bandagen um die Führung in der Partei und ihren Gremien. Wenn der Regisseur von Panzerkreuzer Potemkin zur Aufführung des Films nicht in Moskau erschienen wäre, hätten seine Gegner es als Schwäche der Führungsriege ausgelegt.« Pieck nickte. »Wenn er Bobrow geschickt hat und er Dserschinski erwähnte, dann meint er es ernst. Sehr ernst.«

»Denken Sie, Eisenstein hat es begriffen?«

»Davon gehe ich aus. Er wäre sonst vermutlich ebenfalls tot.«

˚˚˚

Nachdenklich verließ Franz die KPD-Zentrale. Er wusste jetzt mehr von dieser Angelegenheit, als ihm lieb war. Wann immer das Syndicat in den letzten Jahren Geschäfte in der Stadt machte, stieß es irgendwann auf politische Seilschaften, geheime Interessen und Absprachen. Dabei deckten sich die Honoratioren, Bankiers und Industriellen gegenseitig und schreckten auch vor gravierenden Maßnahmen nicht zurück. Franz hatte in Italien entschieden, sich von diesen Verwicklungen zukünftig fernzuhalten. Und jetzt deutete Pieck an, dass die russische Geheimpolizei bei diesem Mord ihre Finger im Spiel gehabt haben könnte. Seine Hand zitterte leicht, als er sich eine Zigarette ansteckte. Er brauchte jetzt unbedingt etwas Ruhe. Damit war es allerdings im Berliner Zentrum nicht weit her. Der Lärm des Straßenverkehrs, der Tram und Schnellbahnen, das Rufen und Gedränge vor den Auslagen der Geschäfte waren allgegenwärtig vom Hackeschen bis zum Spittelmarkt, von der Friedrichstraße am Schloss vorbei bis zum Alexanderplatz. Er entschied sich deshalb für die kleine Grünfläche, die nördlich der Schlossinsel am Spreeufer lag. Er betrat den gepflegten Garten des Hohenzollernmuseums über den Eingang am Monbijou-Platz. Zwischen den Gerüsten der Baustelle des neuen Pergamon-Museums hindurch konnte er das Gründerzeithaus am Kupfergraben ausmachen, in dem Susanne und er ihre neue Wohnung bezogen hatten.

»Ham Se vielleecht een Jroschen für eenen armen Krüppel, Herr Direktor?«, fragte eine Stimme, nachdem Franz einen Augenblick die Augen geschlossen hatte.

Die Bettelei auf den Straßen war in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Die erste Zeit nach dem Krieg hatten die Passanten in der Innenstadt beinahe einen Slalom zwischen den Bedürftigen laufen müssen, die ihnen ihre Hände und Hüte entgegenstreckten. Franz seufzte und suchte in seiner Manteltasche nach Kleingeld, noch bevor er den Bittsteller überhaupt ansah. Als er ihm zwei Groschen zustecken wollte, hielt er plötzlich erstaunt inne.

»Uli?«, rief er, als der den Mann erkannte, der gegen die tief stehende Sonne vor ihm stand. »Stift-Uli? Bist du das? Mensch, ick jloob et nich. Ick bins, Franz!«

»Wat? Franz?«, rief der Schnorrer. »Der Sass! Ick denke, mir frisiert der Affe.«

Der Mann sah abgerissen und krank aus. In seinem Gesicht erkannte Franz die typischen, unschönen, ledrigen Narben, die eine Hauttuberkulose hinterlassen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich damit in irgendwelchen feuchten Wohnhöhlen angesteckt. Jedoch war sein eigentlich jugendlicher, ehemals durchtrainierter Körper offenbar kräftig genug gewesen, die tödliche Lungen-Tbc abzuwehren.

»Was ist mit deinem Arm?« Franz besann sich und vermied das Berlinerische, das ihn immer anfiel, wenn er aufgeregt oder wütend war.

»Nüscht.« Uli grinste und fummelte an seiner Jacke herum, bis sich der leere, linke Ärmel wieder mit Leben füllte. »Een Krüppel muss doch verkrüppelt ausseen, wa?«

Stift-Uli hieß eigentlich Ulrich Steiger. Er und Franz waren noch vor Ende des Kriegs in derselben Straßenclique gewesen, die Max Sass angeführt hatte. Beide Jungs waren das, was sie damals »ewige Feinde« genannt hatten. Franz hatte dem Kerl im Streit die Nase gebrochen, obwohl er Prügeleien hasste. Im Gegenzug war ihm durch einen gezielten Hieb ein Eckzahn abhandengekommen, den er aber mittlerweile durch Gold hatte ersetzen lassen. Er war in diesem Augenblick auf seltsame Weise erleichtert, den früheren Rivalen und Kumpel wiederzutreffen. Selbst zu Wohlstand gekommen, schmerzte es, Steiger zu sehen, der am Ende zu sein schien, obwohl er ebenfalls gerade Mitte zwanzig war.

»Komm, Uli, ich lade dich ins Open House ein«, schlug er vor. »Suppe, Wurst und zwee Molle. Was sagst du?«

Das Open House in der Stallschreiber Straße war das erste Lokal gewesen, das die Sass-Brüder gleich nach dem Krieg eröffnet hatten. Es lief weiterhin wie geschmiert, da sich viele Stammgäste dankbar daran erinnerten, dass ihnen die Brüder mit billiger Bouillon und altbackener Schrippe oft den gröbsten Hunger gestillt hatten. Jahrelang hatte es Franz auch immer wieder hierhergezogen, weil er sich in dem Lokal und unter den Gästen irgendwie immer noch zu Hause fühlte. Die Einfachheit der Speisen und Gespräche machte den Kopf frei für das Wesentliche. In letzter Zeit jedoch hatten ihn die typischen Sorgen eines Blaffke – größere Wohnung, schickeres Auto, noch mehr Geld – davon abgehalten, die große Kellerkneipe aufzusuchen. Die Angestellten erkannten natürlich sofort ihren Chef und wollten ihm und seinem Begleiter eine ruhige Ecke freimachen. Er jedoch winkte ab, sog beinahe freudig den Duft von Bratenfett, Scheuerkalk und verschüttetem Bier ein. Sie setzten sich in eine Bank zu den anderen Gästen, und Franz bestellte vier Molle.

»Eine fürn Durst, eine fürs Herz.« Ulrich Steiger lachte. »Bist doch noch der Alte jeblieben.«

»Hast du noch Kontakt zu den anderen Burschen?«, fragte Franz. Die Jungs der Bruderschaft, seiner ehemaligen Clique, waren jetzt sämtlich erwachsen. Oder tot. Bis vor einem Jahr hatte er noch zwei gekannt, die sich für ihn hin und wieder auf der Straße umgehört hatten. Aber auch diese Verbindung zu seiner alten Welt war mittlerweile abgerissen.

»Een paar Burschen kenn ick noch«, entgegnete Steiger. »Willst wieder unser Bulle sein?« Er lachte.

Nein, ich brauche nur Leute, mit denen ich mal trinken kann, dachte Franz wehmütig. Ohne mich für alles rechtfertigen oder bei allem einen doppelten Boden vermuten zu müssen. Ehrliche Säufer waren manchmal die besseren Menschen.

Sie saßen mehr als drei Stunden im Open House, redeten über alte Zeiten und sangen Die schöne Adrienne hat eine Hochantenne und Ich hab das Fräulein Helen baden sehen. Schnell stimmten die anderen Gäste ein. Nach vier Buletten und acht Molle schlief Steiger, den Kopf auf Arme und Tischplatte gelegt, schließlich zufrieden ein.