Josephine Baker zu Gast in Berlin. Entblößt und von dunkler Hautfarbe. Ein blanker Busen brachte zwar keinen Dackel mehr hinter dem Ofen hervor, aber für viele im kolonialen Denken verhaftete Herren war eine tanzende Afroamerikanerin doch zu viel. Dabei schien der vermeintliche Skandal eher ein Skandal um seiner selbst willen zu sein. Inszeniert und bigott befeuert durch eine durchschaubare Oberflächlichkeit der Alltagspresse. Wie der Hund nach seinem Knochen griffen Hugenbergs rechte Schreiberlinge und die konservativen Apologeten, die den Untergang des Abendlandes prophezeiten, bereitwillig nach den – nackten – Details. Und das biedere Publikum sog jede Nachricht gierig auf, gab sich lüstern entsetzt und ergötzte sich am Spuk, der eigentlich keiner war.

Baker hatte an dem ganzen Theater durchaus ihren eigenen Spaß, führte sie doch die weiße Herrenrasse in den Staaten und Europa gehörig vor, hielt den vermeintlichen Götzen einen Spiegel vor. Und sie reduzierte sie auf eben das, was den dunkelhäutigen Menschen, den »Negern«, allzu gern als Eigenschaft zugeschrieben wurde. Die hohe Gesellschaft erlag nämlich einer gierigen Triebhaftigkeit des Primitiven. Etwas zurückhaltender betrachtet, waren zwei Dinge an Josephine Baker erstaunlich. Eine androgyne Anmutung, die die Phantasie aller Geschlechter anzuregen schien. Und ein Drang zur Bewegung, der offenbar nie völlig ermüdete. Jene zappeligen Verrenkungen beim Charleston, die zu früheren Zeiten die Verurteilung als Besessene oder ein Wegsperren als Irre zur Folge gehabt hätten.

Die Damen des Syndicats hatten sich bereits zwei Mal das Vergnügen im Nelson-Theater gegönnt. Alle Vorstellungen waren restlos ausverkauft, das Publikum tobte wie zu den besten Zeiten von Anita Berber. Bei mehreren Sonntagstreffen der Familie war Josephine Baker das Thema Nummer Eins, und alle Teilhaber unterhielten sich angeregt über ihre Empfindungen.

»Die Reporter werfen ihr vor, dass sie triebgesteuert und primitiv tanzt und damit den Ausdruckstanz als Kunstform in den Schmutz zieht«, meinte Anna Bäumer, die als Tänzerin La Veuve Noire seit Jahren selbst Erfolge auf Berliner Bühnen feierte. »Als würde sie nicht ebenfalls Gefühle ausdrücken und ansprechen. Da sieht man mal, wie dämlich dieser Begriff ist.« Dass Anna die einstmals schüchterne, misshandelte Frau eines durchgeknallten und prügelnden Frontsoldaten gewesen war, würde ein Unwissender jetzt nie und nimmer glauben. Sie saß mit einem kurzen, zudem geschlitzten Kleid am Tisch in Tonis Wintergarten. Ihre Beine schienen im Nirgendwo zu beginnen. Und im verheißungsvollen Irgendwo zu enden. Eine Schulter blieb im Stil einer römischen Toga frei. Dazu ein asymmetrischer Kurzhaarschnitt, dessen Tolle sie immer wieder aufreizend aus dem Gesicht strich. Die Sache wurde für Männer, die sie auf der Straße oder in den Klubs sahen, natürlich dadurch nicht besser, dass sie alle wussten: Anna hatte nur Augen für Katja. Männer waren für die Schwarze Witwe etwa so interessant wie Modemagazine. Ganz nett, für ein paar Anregungen gut. Aber wenn man seinen eigenen Stil gefunden hatte, waren sie eben entbehrlich.

»Schmierfinken«, stimmte Toni ihr zu. »Natürlich drückt sie mit ihrem Tanz etwas aus. Man muss sich nur die unruhig auf ihren Stühlen herumrutschenden Herren ansehen. Da regen sich doch ganz sicher Gefühle.«

»Sehr bezeichnend, dass sich die Moralapostel darüber das Maul zerreißen«, sagte Katja. »Dabei offenbart die Baker nur, was jeder Frau ohnehin klar ist. Gefühle bestimmen unser gesamtes Handeln. Und es geht eben auch um das, was diese Moralisten niedere Triebe nennen. Der Rest ist Makulatur. Die dünne Tapete der Regeln, Gebote und des sogenannten Anstands wird von dieser Frau heruntergerissen.«

»Und wie verlogen dein Hugi darüber schreibt«, sagte Anna und warf ihrer Lebensgefährtin einen Seitenblick zu. »Seine Reporter nennen diesen Tanz unverfroren einen Siegeszug des Urmenschen.«

»Erstens, meine Liebe, er ist nicht mein Hugi.« Jeder wusste, dass Alfred Hugenberg, der mächtige Verleger und Industrielle, in Katja eine Art Ziehtochter sah. Es gelang ihm nicht recht, in der deutschen Hauptstadt Fuß zu fassen, weder wirtschaftlich noch politisch oder gesellschaftlich. Und er sah sich nach der Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten um die Lebensaufgabe betrogen, die ihm seiner Meinung nach selbst zugestanden hätte. Und auf seltsame – für alle unverständliche – Weise schien Katja diesem bornierten, erzkonservativen Menschen das Gefühl jener neuen urbanen Gewandtheit zu geben, die ihm, dem im Kaisermief stecken Gebliebenen, eigentlich vollkommen fehlte. »Und zweitens hat er ja recht«, fuhr sie fort. »Primitiv bedeutet doch vor allem unverstellt und ehrlich. Dieser ganze aufgesetzte Zinnober, dieses Etepetete-Gehabe fällt weg. Und darunter erscheint ein menschliches Wesen. Stellt euch vor, Paul oder Franz würden im Tutu über die Bühne springen und sich von allen Konventionen befreien.« Sie lachte auf. »Endlich könntet ihr mal eure wahren Gefühle herauslassen. Männer sind so fürchterlich verklemmt.«

»Die Italiener sind da ganz anders«, bestätigte Susanne, verdrehte die Augen und seufzte, als bedauerte sie, nicht im Süden geblieben zu sein.

»Schön, dass ihr wieder einmal über uns herziehen konntet«, maulte Paul Konter. »Männer sind wohl nur die dummen Idioten, die das Geld verdienen, das die Damen bei Wertheim und Gerson wieder ausgeben.« Er sah Susanne vorwurfsvoll an. »Oder in Italien. Wie gut, dass ihr keine Vorurteile habt, meine Lieben.«

Sofort setzte ein lauter, wenn auch nicht ganz ernst gemeinter Protest ein, in dessen Folge Konter mehrere Zuckerwürfel an den Kopf geworfen wurden.

»Ich habe vielleicht eine Möglichkeit gefunden, wie wir doch noch an Kutiskers Buchhalter herankommen«, meinte er, als sich der Tumult endlich gelegt hatte.

Katja stieß sich bei dem Versuch, ihren Sohn festzuhalten, den Kopf an der Tischkante. Er war sofort bereit gewesen, die Zuckerstücke aufzusammeln, die zu Boden gefallen waren. Und in seinem Mund vor weiterem Zugriff zu bewahren.

»Hast du einen Verdacht, wo Annuscheit sein könnte?«, fragte sie und rieb sich den Hinterkopf.

»Nicht direkt, aber ich habe mit einem Freund gesprochen.« Konter nickte. »Es gibt da eine seltsame Figur im Dunstkreis des Auswärtigen Amts. Ein gewisser Graf Kessler«, fuhr Konter fort. »Der Mann bringt offenbar mit Kunst und Reisen sein Erbe durch. Und nebenbei versucht er sich immer wieder als Diplomat. Im Moment hat er eine Sondermission beim Völkerbund.«

»Du meinst Harry?«, unterbrach ihn Katja und klatschte sofort begeistert in die Hände.

»Woher kennst du ihn?«, fragte Konter, aber er ahnte bereits die Antwort. Schließlich zeigte sich Katja zu jeder Gelegenheit auf den Berliner Feierlichkeiten. Mit einer Romanowa als Gast ließ sich immer noch prächtig angeben, selbst wenn allen klar war, dass Katjas Familie nichts mit dem Zaren zu tun gehabt hatte.

»Ein Empfang beim Oberbürgermeister«, bestätigte sie auch prompt seine Vermutung. »Es war vor zwei Jahren, glaube ich. Seitdem ist er mir immer wieder auf Festen begegnet. Ein ziemlich bunter Vogel.«

»Mein Bekannter arbeitet beim Außenamt«, fuhr Konter fort. »Er meint, dass Kessler allerlei Beziehungen nach London, Paris und Moskau hat. Und er kennt offenbar die Leute, die Kutisker erwähnt hat. Ich muss mit ihm sprechen.«

»Keine Sorge, da kann ich etwas für dich tun«, sagte Katja. »Anna und ich sind demnächst bei Vollmoeller eingeladen. Erst gehen wir ins Theater, dann treffen wir uns zum Plaudern bei ihm in der Wohnung am Pariser Platz. An diesem Abend wird auch Harry Kessler erwartet. Ich denke, dass ich Toni und dich noch auf die Gästeliste bringen könnte.«

»Ich mag Karls Gedichte. Und er hat Geschmack.« Toni nickte, und damit war das Ganze eigentlich bereits beschlossene Sache. »Er sieht zwar aus wie ein Bibliothekar, aber stille Wasser sind bekanntlich tief.«

»Gut, dann kann ich Kessler bei der Gelegenheit fragen, ob er etwas weiß. Oder ob er sich umhören kann«, sagte Konter.

»Weshalb sollte er uns helfen?«, fragte Franz.

»Er ist ein Bekannter von Botschafter Solf«, meinte Konter und lächelte vielsagend. »Und Solf ist immer noch gut auf uns zu sprechen.«

»Er ist doch immer noch in Japan, nicht wahr?«, fragte Franz erstaunt.

»Alles bereits erledigt.« Konter blickte zufrieden in die Runde. »Ich habe ihm telegrafiert. Er wird Kessler bitten, uns behilflich zu sein.«

˚˚˚

Für den frühen Nachmittag hatte Franz einen Ausflug geplant. Seit zwei Wochen war er Feuer und Flamme für eine Immobilie am Stadtrand, deren Erwerb endlich der Startschuss für sein Casino-Projekt sein sollte. Das Wetter hatte sich seit dem Treffen bei Toni am Vormittag stabilisiert, so dass er keine Ausreden mehr gelten ließ. Er wollte zunächst Susanne, Toni und Josef Sternwein überzeugen, und so fuhren sie zu viert in Richtung Westen. Die Stadt wurde gleich hinter Schmargendorf immer ländlicher. Vor Schlachtensee standen sogar Kühe auf der Straße.

»Verkauft dir ein Bauer seinen Stall«, witzelte Susanne. Sie war genervt, da Franz seit Wochen bei jeder Gelegenheit über seine Pläne sprach.

Nach etwa einer halben Stunde kamen sie über die Königstraße an den Jungfernsee. Kurz vor der Glienicker Brücke, die Berlin von Potsdam trennte, bog Franz in einen winzigen Waldweg ab und hielt dort an.

»Beeindruckend«, meinte Toni. »Dafür versäume ich also die Kaffeezeit?«

»Das Gebäude ist ideal«, schwärmte Franz. »Ihr werdet sehen. Wir gehen zu Fuß zur Brücke, dann bekommt ihr einen besseren Eindruck.«

»Schön, dann habe ich wenigstens einen Grund, mir ein Paar neue Schuhe auf deine Kosten machen zu lassen.«

Wenige Minuten später stand Franz mit Susanne, seiner Tante und Josef Sternwein am Ufer von Havel und Jungfernsee. Das Gebiet kurz vor der Brücke, die nach Potsdam führte, wirkte verlassen.

»Die Besitzer haben die Ländereien etwas vernachlässigt«, gab Franz zu. Ein Umstand, der auch kaum zu übersehen war.

»Und die Gebäude wohl auch.« Sternwein zeigte auf ein heruntergekommenes Herrenhaus, das zwischen Bäumen, die vielleicht mal Prachtexemplare in einem Park gewesen waren, zu erkennen war.

Der Vorfrühling ließ in Berlin wieder einmal auf sich warten. Es zog ein eisiger Wind übers Wasser, der der allgemeinen Stimmung nicht zuträglich war. Am Ufer gegenüber schien gerade ein Graupelschauer niederzugehen, während die vier in der kaum wärmenden Februarsonne standen und auf verlassene Bootsstege blickten.

»Ihr müsst es euch ansehen! Es ist die perfekte Immobilie in perfekter Lage.«

Franz nötigte seine Begleiter zu einem Spaziergang entlang des Ufers. Nach kurzer Zeit kamen sie zu einem kleineren, klassizistisch anmutenden Gebäude mit zwei Geschossen und Dachterrasse. Rechts und links, dem Ufer zugewandt, gingen davon zwei Pergolen ab, an deren Säulen und Bögen Rosen rankten, die jetzt allerdings ein trauriges Bild abgaben. Ein heftiger Wind blies aus West über den Jungfernsee.

»Kalt.« Mehr sagte Susanne nicht.

»Im Sommer sicher schön«, war Tonis trockener Kommentar.

»Da ist aber einiges, was dringend gemacht werden muss.« Sternwein schüttelte den Kopf.

»Ich habe bereits mit der Liegenschaft der Stadt gesprochen. Der Kaufpreis beträgt vierzigtausend Mark.«

»Für das gesamte Anwesen?«, fragte der Kaufmann ungläubig und schien nun doch interessiert.

»Nein, nur für dieses kleinere Gebäude am Wasser nebst Grundstück, Zufahrt und Seezugang. Man nennt es übrigens bereits seit seiner Erbauung vor über hundert Jahren das Casino Glienicke. Was denkt ihr? Wenn das kein Zeichen der Vorsehung ist! Casino, versteht ihr?« Er sprach das Wort mit italienischer Betonung aus und zwinkerte Susanne zu. Es schien ihm allerdings, als wäre ihre Reise nach Neapel schon Ewigkeiten her.

»Capannone träfe es wohl eher.« Sie lachte. »Die Bude ist kein Casino, kein niedliches Häuschen. Es ist ein Capannone, ein heruntergekommener Schuppen. Josef hat ganz recht, da muss man eine Menge machen.«

»Allerdings kann die Stadt erst verkaufen, wenn die Enteignungsfrage geklärt ist.« Franz ging nicht auf die Stichelei ein. Er wollte sich die Hochstimmung nicht verderben lassen. »Die adligen Besitzer sträuben sich wie alle anderen im Reich.«

»Sie verhandeln also über die Eier einer Henne, die noch gar nicht geboren ist? Typisch Berlin«, erwiderte Sternwein. »Außerdem habe ich dir doch erklärt, dass du in der Stadt keine Lizenz für ein Spielcasino bekommen wirst.«

»Die Aussicht ist wirklich phantastisch«, rief Toni plötzlich. Sie stand unter einer Pergola und blickte auf den See.

»Wir könnten es als Sommerfrische nutzen«, schlug Susanne vor. »Vierzigtausend scheint mir ein Spottpreis zu sein.«

»Plus das Fünffache, um es einigermaßen auf Vordermann zu bringen«, meinte Sternwein. »Für die hochtrabenden Pläne mit dem Casino müsste man eher mit drei- oder vierhunderttausend Mark rechnen.«

»Habt ihr euch alle gegen mich verschworen?« rief Franz jetzt empört. »Ihr elenden Miesmacher! Seit ich euch von meinen Plänen berichtet habe, mäkelt ihr daran herum. Ihr könnt euch gehackt legen!« Er winkte ab wie ein kleiner Junge, der nicht mehr mitspielen wollte.

»Wir sind Realisten«, erwiderte Sternwein ungerührt.

»Ihr habt keinen Sinn für größere Zusammenhänge und seht die Möglichkeiten nicht, die sich uns hier bieten!«

»Es ist ein Groschengrab.«

Franz hatte sich hinter eine Mauer geduckt und fluchte laut, als der scharfe Wind ihm jetzt zum wiederholten Mal ein Zündholz ausblies. Seine Makedon Orient bebte kalt an seinen Lippen, als er unverrichteter Dinge wieder neben den anderen stand. Sternwein und die beiden Frauen schwiegen. Ihnen war klar, dass Franz kurz davor war, zu explodieren.

»Wir könnten doch einfach einen Klub aufmachen«, schlug Sternwein vor, um das aufziehende Gewitter noch abzuwenden. »Klub Berlin Exklusiv. Oder so ähnlich. In Potsdam wohnt das Geld. Und die Filmleute aus Babelsberg hätten es auch nicht weit.«

»Members only«, fügte Susanne beschwichtigend hinzu und nickte. »Gute Idee. Solides Geschäft.«

Im nächsten Moment biss sie sich auf die Unterlippe. Members only war die Idee von Ian McCullen gewesen, als das Syndicat ihm die Leitung der Lokale übertragen hatte. Der Ire hatte damals vorgeschlagen, die englische Klub-Manier nach Berlin zu bringen. Im Klub Berlin am Ku’damm konnte sich das Syndicat mittlerweile vor Anfragen nach einer Membership kaum retten. Sogar eine Aufnahmegebühr zahlten die betuchten Herren, um Single-Malt-Whisky oder edelsten Cognac zu völlig überhöhten Preisen zu schlürfen. Als Franz jetzt an seinen toten Freund erinnert wurde, trübte sich seine Stimmung noch weiter ein.

»Wir könnten doch ein paar Räume für privates Glücksspiel einrichten«, fuhr Sternwein fort und erhielt von Susanne einen Hieb in die Seite. »Was denn?«, protestierte er. »Dann könnten die Direktoren und Staatssekretäre ein wenig Geld verprassen, und wir bekämen eine Provision.«

»Ich spreche von einem Spielcasino, nicht von einer verlausten Würfelbude!« Franz war im Gesicht rot angelaufen und trat gegen einen viel zu großen Stein, der sich lustlos um nur wenige Zentimeter bewegte. »Mit Tricksereien in den Hinterzimmern können wir niemals die Gelder der Familie Romano unterbringen. Schon gar nicht legal.«

»Wenn ich dich bei der Casino-Eröffnung unterstützen soll, musst du diesen Quatsch mit den Italienern vergessen«, sagte Sternwein. »Du weißt, was beim letzten Mal geschehen ist, als wir uns Geschäftspartner von außen ins Boot geholt haben.«

Der jüdische Kaufmann hatte seinen Lieblingsneffen und zukünftigen Erben bei einem grausamen Attentat auf die Familie seiner Schwester verloren. Zwar machte er Franz nicht dafür verantwortlich, aber er war viel zurückhaltender geworden, wenn es darum ging, sich auf Leute zu verlassen, die er nicht kannte.

»Liest du keine Zeitung?«, fragte er aufgebracht. »In jedem Käseblatt kannst du nachlesen, dass sich die amerikanischen Ganoven ihre Methoden von der italienischen Mafia abgeschaut haben. Jetzt bekommen die Kerle von ihrem Mussolini Gegenwind und suchen sich Idioten, die ihr Geld in Sicherheit bringen. Nein, mein Lieber, nicht mit mir!«

»Erstens ist Neapel nicht das Gebiet der Mafia«, gab Franz zurück. »Und zweitens wird es dadurch erst interessant. Wir handeln doch quasi nur mit Geld. Kein Rauschgift, keine Waffen, keine Mädchen. Nur Geld. Wie bei den Banken.«

»Paul hat Bedenken, und Josef ist dagegen«, meinte Toni. »Ich schließe mich ihnen an. Wir kennen uns doch mit diesen Geschäften gar nicht aus.« Sie blinzelte ins Licht und hielt ihre vergoldete Zigarettenspitze in einen Sonnenstrahl, der zwischen den winterlichen Rosenranken hindurch fiel.

»Und was meinst du?«, wandte sich Franz an seine Gefährtin. Sein Tonfall hatte etwas unangenehm Forderndes.

»Tut mir leid, Schatz«, sagte Susanne und ergriff seine Hand. »Ich gebe Josef und Toni recht.« Er wollte sich ihr entwinden, aber sie ließ nicht los. »Ich habe Angst. Einfach nur eine Heidenangst. Ich weiß, was ihr alle denkt. Die Rote Susi ist innerlich hart geworden nach ihrer Krankheit. Und die Sache mit dem Kind hat sie auch nicht überwunden«. Ihr traten Tränen in die Augen. »Aber die Wahrheit ist, dass ich einen weiteren Verlust nicht ertragen könnte! Du hast gesehen, was mit Josefs Neffen geschehen ist. Wir haben in den letzten Jahren einfach zu viel verloren, Franz. Das Geldverdienen wirkte bis zu der Vereinbarung mit den Chinesen und Amerikanern so einfach. Ein paar Hinterzimmer mit Würfel- und Kartenspiel, Tanzaufführungen, der Verkauf von Schwarzgebranntem, Zigarettenschmuggel, Klantes Lizenzen bei den Pferdewetten, dann das Boxgeschäft. Aber jetzt ist plötzlich alles kompliziert und gefährlich. Ich habe einfach nur Angst um dich.« Sie sah erst Franz an, danach auch Toni und Josef. »Um euch alle.«

»Herrgott!« Franz riss sich los und stampfte mit dem Fuß auf wie ein Kleinkind. Wieder einmal hatte er das Gefühl, in einer Zwickmühle zu stecken. Warum konnte das Leben nicht einfacher sein? In Italien hatte es wunderbar geklappt. Und hier hatte er den Eindruck, dass er gerade den einen Fuß aus dem Matsch zog und mit dem anderen schon wieder tiefer drinsteckte. Er sah Susannes Tränen, aber irgendetwas in seinem Inneren schien ihn daran zu hindern, sie einfach in den Arm zu nehmen. Und er hasste sich dafür. »Dann stimmen wir eben im großen Rahmen ab«, sagte er stattdessen trotzig. »Ihr begreift nicht, worum es mir geht.«

»Wir müssen ohnehin abstimmen«, sagte seine Tante, sah ihn vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. »Und jetzt hältst du besser den Mund, mein Lieber.« Sie legte der sichtlich verzweifelten Susanne den Arm um die Schultern.

Bevor die Situation außer Kontrolle geriet, zog Sternwein einen silbernen Flachmann aus der Manteltasche und hielt ihn Franz direkt unter die Nase.

»Nimm zwei Schluck, bevor du auch nur ein Wort sagst. Jetzt sofort!«, zischte er seinem jüngeren Geschäftspartner ins Ohr. Der Kaufmann und Geldverleiher kannte die Sass-Brüder seit ihrer Cliquenzeit. Sie waren ihm damals sofort ans Herz gewachsen, da sie ihn an seine eigene Jugend, seine Träume und seine Kraft erinnert hatten. Ohne Sternweins Geld, Ideen und Protektion in der direkten Nachkriegszeit wären Franz und sein ältester Bruder Max wohl bei Taschendiebstahl und Zigarettenverkauf zu zwei Pfennig hängen geblieben.

»Vielleicht ist es Zeit, dich daran zu erinnern, wo du hingehörst«, fuhr er fort. »Wer deine Familie ist. Siehst du nicht, was du Susanne damit antust? Kein Geld der Welt ist es wert, das eigene Glück mit Füßen zu treten.«

Ohne ein weiteres Wort machte sich Franz auf den Rückweg zu seinem Automobil. Auch die Fahrt zurück nach Charlottenburg verlief in eisigem Schweigen. Susanne wollte die Nacht über bei Toni bleiben, so dass Franz eine Stunde später einsam und gedankenverloren vor seinem Wagen stand. Sollte er in die Wohnung am Kupfergraben? In den Club 21 oder gleich ins Open House? Ohne länger darüber nachzugrübeln, lenkte er den Wagen in Richtung Norden. Auf dem Wedding, in einer kleinen, aufgegebenen Fabrikhalle trainierte Erwin Volkmar. Der junge Boxer und Franz verstanden sich gut. Volkmar hatte einige wichtige Aufgaben für das Syndicat übernommen, seit Georg Sass, der für die Sicherheit der Klubs und Teilhaber zuständig war, mit Frau und Kind und der Zigeunerfamilie Harussel in die Bisselheide gezogen war und nur noch selten in die Stadt kam. Franz verabscheute körperliche Gewalt, aber manche Geschäfte erforderten eben jenen Nachdruck, mit dem Volkmar die Ansprüche des Syndicats durchzusetzen wusste. Er war der Mann fürs Grobe.

»Du willst, dass ich dich vermöble?«, fragte sein Bekannter entgeistert, nachdem Franz begonnen hatte, sich umzuziehen.

»Du suchst doch immer Leute, die mit dir trainieren«, erwiderte Franz.

»Trainieren, ja. Aber du hast doch vom Boxen keine Ahnung.«

Franz gab dem Trainingshelfer fünf Mark und wies ihn an, ihm die Hände zu verbinden, wie er es bei Volkmar schon hundert Mal gesehen hatte. Dann bekam er einen Kopfschutz aus Leder und einen Zahnschutz.

»Du bist verrückt«, meinte Volkmar unschlüssig.

Franz tänzelte um ihn herum und schlug mehrmals auf ihn ein. Schließlich gelang es ihm doch, den Berliner Amateurmeister in Rage zu versetzen. Volkmar verpasste ihm drei oder vier schmerzhafte Schläge. Franz stöhnte, gab aber nicht auf. Erwin Volkmar blickte hilflos zu den anderen Boxern, die mittlerweile am Ring standen und bei der Hinrichtung zusehen wollten. Plötzlich traf ihn eine Rechte ungedeckt am Kieferwinkel. Blitze schossen durch Volkmars Kopf. Er wich zurück, hob instinktiv seine Deckung. Einen Moment später schoss seine eigene Rechte nach vorn. Auf den Punkt. Franz schien in seiner Bewegung zu erstarren, seine Augen blickten ins Leere. Als sein Körper begriff, dass der Verstand gerade die Kontrolle über ihn verloren hatte, sackten erst die Arme nach unten, dann knickten die Beine weg. Obwohl Franz von diesem Moment an nichts mehr mitbekam, erinnerte er sich später an eine wohltuende, fast gnädige Schwärze. Keine Gedanken, kein Gerede, keine Pläne, kein Ringen um Anerkennung. Nur Lichter aus. Ruhe.