»Ihr Popo, mit Respekt zu vermelden, ist ein schokoladener Grieß-Flammerie an Beweglichkeit.« Toni lachte. »Hört euch diesen Unsinn an!« Sie legte eine Zeitung zur Seite, in der sie gerade geblättert und einen Artikel über Josephine Baker gefunden hatte.

Sie saß mit Katja und Anna im Ankleideraum. Der Russin war es, wie versprochen, gelungen, Toni und Paul bei Vollmoeller auf die Gästeliste seiner nächsten Abendgesellschaft setzen zu lassen. Toni blätterte wieder in der neuesten Ausgabe des Querschnitt, während die beiden anderen Frauen sich für den Abend herausputzten. Ein Artikel des Magazins beschäftigte sich ausführlich mit den ersten Auftritten Bakers in der Stadt.

»Jede Wette, dass der Schreiberling bereits jenseits der fünfzig ist«, sagte Anna. »Wenn Männer beim Anblick schöner Körper ans Essen denken, dann werden sie alt.«

»Wie hast du Vollmoeller überredet?«, fragte Toni.

»Ich habe ihn einfach gefragt«, meinte Katja und tat, als wäre es vollkommen normal, an einer der exklusivsten Privatsoireen der Stadt teilnehmen und auch noch Freunde einladen zu dürfen. Vollmoeller war bekannt dafür, dass er Langweilern reihenweise Absagen erteilte. »Karl erinnerte sich an dich und war begeistert von der Idee. Du weißt, der Abend in der Akademie.« Sie hielt inne.

Die drei Frauen schwiegen verlegen. Vor einigen Jahren war Coco Chanel in der Stadt gewesen. Toni hatte mit Vollmoeller und einigen Bekannten deren Modenschau in der Akademie der Künste besucht, als unerwartet ihre verschollen geglaubte Tochter Valerie auf die Bühne gestolpert war. Alle wussten, dass diese Art von Erinnerungen wehtat.

»Es tut mir leid«, sagte Katja. »Ich wollte keine alten Wunden aufreißen.«

Bevor Schweigen und Verlegenheit zu unangenehm wurden, klopfte es an der Tür.

»Wenn ihr so weitermacht, verpassen wir alles«, erklang Paul Konters gedämpfte Stimme. Er vermied es, in das Boudoir der Damen hineinzuspähen, seitdem ihm Toni vor langer Zeit einen Flakon an den Kopf geworfen hatte. »Die Sonne geht bald schon wieder auf.«

»Immer diese Ungeduld«, flüsterte Toni und verdrehte die Augen. »Ich hoffe, du hast deine Brieftasche dabei, mon grand herós«, sagte sie dann laut. »Es wird nämlich teuer heute Nacht. Erst das Nelsons, dann der Wintergarten

Konter murmelte etwas Unverständliches. Er war bekannt für eine gewisse – höflich ausgedrückt – Zurückhaltung beim Geldausgeben. Obwohl er als Teilhaber des Syndicats mittlerweile zu einigem Vermögen gekommen war, saß er bildlich gesprochen darauf wie der Drache auf seinem Goldschatz. Toni lächelte die beiden jüngeren Frauen wissend an.

»Er hätte gern Franz dabeigehabt«, sagte sie. »Allein mit uns fürchtet er wohl, übervorteilt zu werden.«

»Er wird es überstehen«, meinte Katja. »Aber ich wollte Vollmoellers Großmut auch nicht überfordern. Außerdem sollten Susi und Franz sich erst einmal wieder einkriegen. Ich hätte keine Lust, den Abend mit einem Miesepeter und einer Zimtziege zu verbringen.«

»Hat ihm Susi das blaue Auge verpasst?«, fragte Anna.

»Er hat sich wohl geprügelt.« Toni schüttelte verständnislos den Kopf. »Sogar sein Goldzahn ist herausgeflogen. Jetzt sieht er aus wie der letzte Ganove vom Spittel.«

Als die Frauen endlich den Ankleideraum verließen, wartete Konter bereits im Mantel mit dem Hut in der Hand. Er blickte ungeduldig auf die Uhr.

»Wir sollten noch einen Pfefferminzlikör nehmen, bevor wir gehen«, schlug Toni vor. »Und du musst Paul noch ein paar Dinge über diesen Kessler erzählen, Katja. Ist er wirklich ein Graf?«

»Ja, aber er bildet sich nicht viel darauf ein. Er ist ein recht lockerer Kerl, man muss ihn nur zu nehmen wissen.«

»Was muss ich beachten?«, fragte Konter.

»Harry Kessler ist überall und nirgends«, erwiderte Katja. »Hohe Diplomatie und Staatsempfänge. Unters Fußvolk mischt er sich nicht häufig. Allerdings erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand ein paar Geschichten.«

»Mach es nicht so spannend«, mischte sich Toni wieder ein. »Irgendwann werden Klatsch und Tratsch in dieser Welt ohnehin wichtiger sein als Pauls berüchtigte Fakten. Also, was erzählt man sich über ihn?«

»Er gibt sich als ein Dandy der Bohème. Wo ich bin, ist es wichtig, könnte sein Motto sein. Er möchte wohl gern in der Welt der Diplomatie Anerkennung finden und in einem Atemzug mit Stresemann genannt werden. Aber der große Wurf ist ihm bisher nicht gelungen. Bei dem Thema ist er übrigens sehr empfindlich. Verkneif dir einfach jede Bemerkung in dieser Hinsicht. Irgendwie sitzt er auch zwischen den Stühlen. Er tritt für einen sozialen Ausgleich ein und fordert besseren Schutz und höhere Löhne für Arbeiter. Den Linken ist er allerdings wegen seiner Abstammung und seines Vermögens suspekt. Und mit seinesgleichen hat er es sich verdorben, weil er mit dem Sozialismus liebäugelt.«

»Klingt doch interessant und recht sympathisch«, meinte Anna. »Zwischen den Stühlen sitzen und nicht wirklich zu einer Seite gehören. Kommt mir bekannt vor.«

»Mein Bekannter beim Außenministerium sagt, dass Kessler an einer politischen Tagung am Sonntag teilnehmen wird«, sagte Konter. »Auch Botschafter Solf hat mir dies auf Anfrage telegrafisch bestätigt. Leider konnte er kein Treffen mit ihm arrangieren, deutete aber an, dass Graf Kessler solche Gelegenheiten gern nutzt, um das Berliner Nachtleben zu genießen.«

»Er und Vollmoeller sind dicke Freunde. Ziemlich sicher wird er heute Abend dabei sein«, ergänzte Katja.

»Recht vage, wenn ihr mich fragt«, sagte Konter. »Und wenn er nicht kommt? Oder wenn er sich dann bereits zwei weiße Linien durch die Nase gezogen hat? Vielleicht will er auch gar nicht mit mir sprechen, der große Herr Geheimdiplomat.«

˚˚˚

Karl Gustav Vollmöller durfte man mit Fug und Recht als weitgereisten Tausendsassa bezeichnen. Während einer seiner Auslandsaufenthalte hatte er entschieden, den allzu biederen Gustav aus seinem Namen zu streichen und den Umlaut gegen OE zu tauschen. Sein Äußeres ließ dabei eher auf eine Mischung aus langweiligem Staatsbediensteten und ewigem Studenten schließen. Das dünne Haar trug er vorn als einen mit Haaröl festgekleisterten Scheitel, die runde Brille in einfachem Drahtgestell schien einzig dazu gedacht, seine unruhig hin und her huschenden Augen in Glaskäfigen zu bändigen. Der Gesichtsausdruck wirkte gelangweilt, und es umgab ihn eine Aura des Mimosenhaften. Seine etwas zu fleischigen Finger hielten scheinbar immer eine Zigarette. Seine bevorzugte Marke war Garbáty. Die seltene Sorte mit Hanfanteil, die nur im Fabrikverkauf erhältlich war. Vollmoeller gehörte zu jenen Menschen, die sich lediglich für eine Sache begeistern mussten, um es dann darin auch zu einer gewissen Meisterschaft zu bringen. Ihn faszinierte vieles, der Reiz des Neuen war sein Lebenselixier. Er war Rennfahrer und Flugzeugbauer gewesen, hatte in der Archäologie und beim Film gearbeitet. Er kannte derart viele Leute, dass andere darüber eine Enzyklopädie hätten schreiben können, reiste durch Amerika, wohnte zeitweise in Venedig. Und er hatte noch eine Wohnung am Pariser Platz. Wenn ihn Reporter nach seiner Nationalität befragten, antwortete er nur mit »Bürger«.

Der Mann war natürlich per Du mit jedem, der in der Kunstwelt Berlins von Bedeutung war. Rudolf Nelson, der sein gleichnamiges Theater am Ku’damm hatte, gewährte ihm und seinem Anhang stets freien Eintritt. Max Reinhardt, der Berlin eigentlich für immer den Rücken gekehrt hatte, folgte immer wieder den Einladungen des engen Freundes. So auch an diesem Abend. Im Schlepptau befanden sich wie immer viele junge Künstlerinnen, die Karl Vollmoeller gern förderte. Er hatte vor Kurzem eine Verleumdungsklage verloren, nachdem eine Zeitung behauptet hatte, der Mäzen würde sich »mit Hingabe und aller Kraft, die seinen Lenden innewohne, um die Gleichberechtigung deutscher Schauspielerinnen bemühen«. Katja hatte ihn in letzter Zeit häufiger in den Babelsberg-Studios gesehen. Es gingen Gerüchte, er wäre ein Spion von Metro-Goldwyn-Meyer. Hollywood neidete der Ufa ihre großen Erfolge und warb in letzter Zeit viele Talente ab.

Für Toni und Paul war der erste Teil des Abends im Nelson-Theater an der Ecke Ku’damm und Fasanenstraße quasi ein Heimspiel. Sie wohnten nur einen Katzensprung entfernt am Charlottenpark, und die angesagtesten Klubs, aber auch die edleren Lokale des Syndicats tummelten sich alle hier im umsatzstarken Neuen Westen. Rudolf Nelson hatte seit jeher einen Riecher für Attraktionen und Skandale. Seit kurzer Zeit gastierte nun schon Josephine Baker in seinem Theater, und er hätte jeden Abend doppelt so viele Karten verkaufen können. Die dunkelhäutige, blutjunge Frau begeisterte das Publikum mit ihrem außergewöhnlichen Tanz und einer frivolen Revuenummer aus Paris.

»Ich kann Tanzdarbietungen schon nicht mehr sehen«, meinte Konter, nachdem er an der Abendkasse zweihundert Mark für die Tischplätze in der ersten Reihe hingeblättert hatte.

»Klar, dass du mit deinen beiden Holzbeinen auf diese Leute neidisch bist.«

Nelson hatte veranlasst, dass der Bereich vor dem Einlass wegen des ekelhaften Spätwinterwetters mit Gestänge und Glasplatten überdacht war. Jemand hatte dort ein Grammophon aufgestellt, und mehrere junge Leute zappelten herum, als hätten sie Ameisen in ihren Kleidern und Anzügen. Konter stöhnte und verdrehte die Augen. Der Theaterdiener führte die beiden Besucher kurz darauf zu Vollmoellers Tisch. Eigentlich handelte es sich um drei Rundtische, die ein Handwerker unter den Platten zusammengefügt und am Boden festgeschraubt hatte, so dass sie unverrückbar waren.

»Frau Sass! Schön, Sie wiederzusehen«, begrüßte sie ihr Gastgeber, der gerade mit Rudolf Nelson geplaudert hatte. Der dicke Theaterregisseur hatte mit seiner Zigarre den Bühnenbereich schon derart eingenebelt, dass Konter meinte, eine Horde Schweine würde hier auftreten können, ohne dass die Zuschauer eine Chance hätten, es zu bemerken.

Sie wurden einer Menge Leute vorgestellt. Toni kannte Max Reinhardt und dessen Arbeit aus Zeitungsartikeln und fand sofort Gesprächsstoff. Konter hingegen mühte sich mit Oscar Huldschinsky ab, einem greisenhaften, leicht sklerotischen Unternehmer, der zudem halbblind war und nur jedes dritte Wort verstand. Beide Männer wandten sich nach ein paar Minuten und dem Austausch nichtssagender Floskeln genervt voneinander ab. Einen besseren Draht fand Konter hingegen zu einer Mittzwanzigerin, die über eine seltsam morbide Anziehungskraft verfügte. Ihre Hüften waren etwas zu ausladend, obwohl sie ansonsten schlank war. Das Gesicht schien ihm ein wenig zu eckig, die Augen standen zu weit auseinander. Trotz oder gerade wegen dieser winzigen Makel, die eine Frau aus Fleisch und Blut von einer Göttin unterschieden, zog sie die Blicke aller anwesenden Herren magisch an.

Natürlich, ging es Konter durch den Kopf, nachdem er ihr fasziniert zugehört und sie eingehend betrachtet hatte. Die Augen! Ihr Blau war nicht wässrig, sondern voll und dunkel. Es zwang einen Betrachter in unbekannte Tiefen. Diese Augen ähnelten zwei Lagunen. Der kunstvoll aufgetragene Kajal und ein silbrig glänzendes Puder über den Wangen rahmten diese verhängnisvolle Versuchung.

»Na, mein Lieber, fressen Sie mir Marlene nicht auf!«, rief Vollmoeller belustigt und riss Konter aus seinen Träumen. »Wir anderen wollen ebenfalls ein Stück vom Kuchen. Sie sollten ihre Singende Säge hören, ein Traum von Melancholie. Ja, Marlene weiß mit jedem Instrument umzugehen. Nicht wahr, meine Liebe?« Er tätschelte ihr bestrumpftes Knie.

»Du bist ein Ferkel, Kalli.« Sie versetzte ihm einen Hieb in die Seite.

»Sind sie doch alle«, schlug Toni in die gleiche Kerbe, und ihr Partner wich vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Kessler ist noch nicht aufgekreuzt«, flüsterte er ihr einen Moment später enttäuscht zu.

»Sie vermissen Harry?«, fragte Karl Vollmoeller, der ihn dennoch gehört hatte. »Keine Sorge, die neue Revue wird er sicherlich nicht verpassen wollen. Gegen das, was heute kommt, sind die Tiller Girls ein Verein fußlahmer Betschwestern.«

Als hätte er nur auf seine Ankündigung gewartet, trat in diesem Moment ein Herr in elegantem Frack an ihre Tische.

»Harry! Gerade eben sprachen wir von dir«, gegrüßte ihn Vollmoeller, und der neue Gast winkte den anderen Anwesenden zwanglos zu. »Setz dich, es geht jeden Moment los.«

Konter hatte noch etwas Zeit, den Neuankömmling zu mustern. Kessler musste Ende fünfzig sein, das Haar trug er kurz, da es bereits weit zurückgewichen war. Sein Auftreten verwirrte den Polizisten, der Menschen berufsbedingt gern einordnen wollte. Kessler zeigte eine Mischung aus aristokratischer Haltung und burschikoser Offenheit. Bevor Konter entscheiden konnte, ob er ihn jetzt schon ansprechen sollte, wurde zum zweiten Mal geläutet. Hektisch bestellten die Herren an den vielen Tischen noch einmal Wein oder Sekt und entzündeten eine letzte Zigarette. Es hatte im Vorfeld einige Gerüchte gegeben, dass Bakers Darbietung noch einmal überarbeitet worden war. Alles sollte noch raffinierter, noch erotischer werden.

»Hat Herr Nelson die Berber noch mal herumgekriegt? Wird sie vielleicht heute zusammen mit unserer braunen Schönheit tanzen?«, fragte Toni in die Runde, und alle lachten nervös. »In Hamburg hat sie neulich einen Kerl auf der Bühne verprügelt, und die Leute dachten, es gehört zur Schau. Alle haben gelacht, und keiner hat etwas getan.«

»Ich hörte, dass sie ihre Gagen jetzt wohl nur noch in Form von Nasenpuder bekommt«, warf Marlene ein. »Im Eldorado ist nach ihren Auftritten fast immer Randale. Ich glaube nicht, dass Rudolf sich das antun will.«

Plötzlich wurde das Licht im Publikumsbereich gedämpft, und ein Orchester trat von beiden Seiten vor die Bühne. Das Klavier schien ebenso in den Saal zu schweben wie das Schlagzeug. Dann kamen die Saxophone, Klarinetten und Trompeten. Es wurde vollkommen dunkel, und ein leiser Rhythmus wie von fernen Trommeln erhob sich, um schließlich vom tiefen Seufzen der Bläser unterbrochen zu werden. Ein Lichtkegel flammte auf, suchte und fand die Akteurin des Abends, die auf einer Schaukel in schwindelerregender Höhe saß.

»O, eine schwarze Schönheit. Wie originell«, flüsterte ein Gast Vollmoellers. Es war der verkalkte, alte Mann, mit dem sich Konter anfangs unterhalten und dessen Namen er bereits wieder vergessen hatte. Offenbar hatte er noch nie von Frau Baker gehört.

Alle Klischees bedienend stürzte sich die dunkelhäutige Tänzerin unter dem Aufschrei einiger schreckhafter Zuschauer nach vorn, um an einer Kunstliane hängend in der Mitte der Bühne herabgelassen zu werden. Sie schien es bewusst darauf anzulegen, als eine Karikatur jener afrikanischen Wilden aufzutreten, wie sie in den billigeren Filmen der Ufa hundertfach gezeigt wurden.

»Sind das …?«, fragte Marlene.

»Bananen, ganz recht«, gab Harry Kessler sichtlich entzückt zurück. »Und darunter ist nichts, wenn mich mein scharfes Auge nicht trügt.«

Die Darstellerin trug ein Röckchen, das man kaum so nennen konnte. Um die Hüfte räkelten sich mehr als ein Dutzend stilisierte Bananen, die mal schlaff nach unten und mal erigiert in die Höhe wiesen. Um den Hals trug sie eine Perlenkette, die einen Hauch von Büstenhalter in Position zu halten schien. Das leise Klappern riesiger Ohrringe, Arm- und Beinreifen war in der vorderen Reihe zu hören, wenn sich die Frau bewegte. Und das tat sie nun. Zuerst waren es nur die Augen, die sie derart extensiv rollen ließ, als vermesse sie damit den Weltglobus. Dunkle Sterne funkelten in reinstem Weiß. Dabei hatte die junge Frau sich mit zu einem O geformten Beinen, auf die sie ihre Arme stützte, in eine Art Sprungposition begeben. Als lauerte sie auf den Moment, der ihr am günstigsten schien. Plötzlich zuckten die Augen nur noch in der Vertikalen, und kurz danach fiel ihr übriger Körper in diese Bewegung ein. Der Orchestersturm brach im Viervierteltakt los. Und mit ihm explodierte ein Vulkan. Es gab keine Verrenkung, die diese Frau in der nächsten halben Stunde nicht vollführte. Mehrmals mussten ihr dabei die Knochen gebrochen sein, mutmaßte manch Zuschauer. Und alles, wirklich alles passte sich perfekt in den rauschhaften Rhythmus ein, der den Saal erfüllte. Schon hatten die ersten Besucher begonnen, sich im Sitzen zaghaft an einigen Bewegungen zu versuchen. Der Swing war in Berlin hier und da bereits gespielt worden, aber dies war neu. Dieser Tanz war eine Infektion, gegen die es kein Heilmittel gab. Ein Bann, den nur die Hohepriesterin auf der Bühne brechen konnte.

˚˚˚

»Herr von Kessler, ich möchte Sie um ein paar Minuten Ihrer Zeit bitten. Ich hatte über Botschafter Solf anfragen lassen«, begann Konter das Gespräch und räusperte sich. Er ärgerte sich über seine hölzern wirkende Verlegenheit.

Vollmoellers Entourage hatte sich mittlerweile in dessen Wohnung am Pariser Platz zurückgezogen, um ein wenig zu rauchen, zu trinken und zu koksen. Konter hatte nun das Gefühl, in altbackener Weise bei diesem Gespräch die Initiative übernehmen zu müssen. Schließlich wollte er Informationen von dem Mann. Der Abend war bereits zur Nacht geworden, sie waren nach der Vorstellung noch ins Varieté Wintergarten gezogen, um dort zu essen. Irgendwie hatte Konter bisher keine Möglichkeit gefunden, mit Kessler unter vier Augen zu sprechen.

»Nennen Sie mich Harry, bitte. Titel und Prädikat bedeuten mir nur im Kontakt mit jenen Leuten etwas, denen sie etwas bedeuten.« Er lachte. »Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er hatte bereits zu viel getrunken.

»Also gut«, erwiderte Konter. »Wenn Sie meinen, Harry. Sie wissen, dass ich bei der Kriminalpolizei arbeite?«

»Es ist meine Berufung, etwas zu wissen, noch bevor andere es überhaupt erahnen können.«

Schwätzer, dachte Konter, aber er lächelte pflichtbewusst über das leidlich gelungene Bonmot.

»Sie sind bei Gennat«, fuhr Kessler fort. »Respekt. Was kann ich für Sie tun?«

Immerhin ein Schwätzer, der gleich zur Sache kommt. Jetzt war Konters Lächeln echt.

»Wir ermitteln seit einiger Zeit in dem Mordfall an einem russischen Diplomaten«, sagte er. »Ein gewisser Bobrow wurde vor etwa drei Monaten getötet, nachdem er Sergej Eisenstein eine Nachricht überbracht hatte. Wir haben Grund zu der Annahme, dass diplomatische Kreise und die russische Geheimpolizei in die Sache verwickelt sind.«

»Drei Monate? Sie sind offenbar hartnäckig, Herr Konter.« Kessler entzündete lächelnd eine Zigarette. »Im Ernst, ich habe von dem Fall gehört.«

»Tatsächlich?«, fragte der Kripobeamte erstaunt. »Ich dachte, dass sie häufig im Ausland sind. Da finden Sie Zeit für derartige Nebensächlichkeiten?«

»Ich arbeite im Sinne unseres Außenministers darauf hin, dass Deutschland in den Völkerbund aufgenommen wird«, sagte Kessler nicht ohne Stolz. »Hierfür benötigen wir die Unterstützung aller Siegerstaaten. Ein verärgertes Russland wäre unserer Sache nicht dienlich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Außenamt hat ein großes Interesse daran, die Wellen in der Sache Bobrow nicht hochschlagen zu lassen. Anders ausgedrückt, man war froh, dass die Sache im Sande verlaufen war. Offenbar weiß man nichts davon, dass sich ein Terrier wie Sie an der Sache festgebissen hat.«

Konter entschied, die Bemerkung eher als Kompliment zu sehen. Obwohl er als Ermittler auf Kriegsfuß mit den Vierbeinern stand. Nur Postboten wurden häufiger von Hunden attackiert als Ermittler.

»Wissen Sie etwas über eine Aktion, die die Sowjets Rotes Erbe nennen?«, fragte er. Zwar hatten Piecks Angaben, die Franz ihm übermittelt hatte, seine Vermutungen bestätigt. Aber es konnte nicht schaden, auch Kessler in dieser Sache zu befragen.

»Natürlich. Die UdSSR benötigt Geld für ihren Welthandel. Also beabsichtigt der gute Stalin, eine Art Kassensturz zu machen. Und er greift seinen geflohenen Landsleuten in die Taschen.«

»Es geht dabei um eine Menge Geld, nicht wahr? Können Sie bestätigen, dass es sich nicht nur um Hirngespinste handelt?«

»Viele Millionen.« Kessler nickte. »Aber die genaue Summe kennt niemand.«

»Wie muss ich mir das vorstellen? Die russischen Agenten bitten höflich darum, dass ihre im Exil lebenden Landsleute ihr Vermögen nach Moskau transferieren?«

»Wohl kaum. Die GPU ist in dieser Hinsicht skrupellos. Sie werden die Leute aufspüren, ihnen das Geld abpressen und sie dann vielleicht sogar beseitigen.«

»Und die Reichsregierung sieht tatenlos zu, wenn Menschen in diesem Land Opfer dieser Verbrechen werden?«

»Es gibt in der Politik höhere Güter als Menschenleben.« Kessler wurde plötzlich sehr ernst. »Auch wenn ich dies persönlich bedauere. »Das Deutsche Reich braucht Verbündete. Die Sowjetunion wird billige Rohstoffe an uns verkaufen. Man ist aus diesen Gründen auf politischer Ebene offenbar bereit, über Sünden hinwegzusehen, die man für moralisch lässlich hält.«

Konter spürte Wut in sich aufsteigen, zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben. Schließlich war Kessler nur ein Akteur unter vielen in dieser zynischen Welt.

»Was geschieht mit dem Geld?«, fragte er.

»Wir vermuten, dass es über die Botschaften nach Moskau gelangt. Stalin ist misstrauisch. Banken sind ohnehin der ideologische Hauptfeind des Kommunismus. Aber er fürchtet wohl, dass seine Gegner das Geld in die Hände bekommen könnten und gegen ihn verwenden.«

»Trotzki«, stellte Konter fest, auch um zu zeigen, dass er wenigstens einige Dinge bereits wusste.

»Sein stärkster Widersacher.« Kessler nickte.

»Die Kripo hat einen Zeugen, der Informationen über die wichtigsten Verbindungen in dieser Angelegenheit besitzt.« Konter hatte sich eine kurze, unverfängliche Zusammenfassung der Aussagen Kutiskers zurechtgelegt, die er nun vortrug.

»Interessant. Sie arbeiten mit diesem Halunken zusammen?«, meinte Kessler, nachdem er sich die Geschichte angehört hatte. »Ihnen ist klar, dass Ihr Zeuge eine Bedrohung für die Stabilität unseres Staates ist?«

»Die Tatsache, dass seine Aussagen für einige Politiker und Geschäftsleute unangenehm wären, sollte uns nicht davon abhalten, ihn anzuhören.«

»Da gebe ich Ihnen recht. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann befindet sich der Zeuge allerdings nicht in Ihrer Obhut.«

»Leider nein. Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Mann von sowjetischen Agenten entführt wurde.«

»Er wäre für die Russen in der Tat von großem Nutzen«, meinte Kessler. »Und die Gefahr für das Reich wäre dadurch keineswegs geringer. Viele Entscheidungsträger wären auf Jahre hinaus erpressbar.«

»Kutisker erwähnte mir gegenüber Alexander Parvus.«

»Parvus war ein Träumer, der tatsächlich glaubte, dass sich die Grausamkeiten der Revolution zum Guten wenden würden«, sagte Kessler. »Er hatte in Deutschland Feinde, weil man ihm die Schuld für Lenins Erfolg in die Schuhe geschoben hat. Und er hatte in der Sowjetunion Feinde, da er von der reinen Lehre einer weltumspannenden Revolution nicht ablassen wollte.«

»Kennen Sie jemanden, der mit mir sprechen würde?«, fragte Konter. »Vielleicht jemand, der Trotzki unterstützt. Ich bin in Besitz einer sehr heiklen Tonaufnahme, die beweist, dass Lenin kurz vor seinem Tod verhindern wollte, dass Stalin die Macht übernimmt.« Konter berichtete Kessler von dem Fund der Phonographen-Walze.

»Sie sollten vorsichtig sein, Paul. Stalin würde behaupten, dass es sich um eine Fälschung handelt. Außerdem scheint er ein sehr zorniger und nachtragender Mann zu sein. Auch einem Polizisten könnte schnell etwas zustoßen.«

»Bitte, gibt es jemanden, mit dem ich sprechen könnte?«

»Sie haben ihn bereits erwähnt. Parvus.«

»Der Mann ist tot. Was soll das?« Konter fuhr den Mann regelrecht an. Langsam nervte ihn die leicht blasierte Art, die offenbar in Diplomatenkreisen der gute Ton war.

»Natürlich nicht der alte Parvus.« Kessler schüttelte den Kopf. »Sprechen Sie mit seinem Sohn. Er heißt allerdings Jewgeni Gnedin. Parvus war ein Deckname seines Vaters. Und Sie haben Glück, Paul. Gnedin arbeitet meines Wissens als Attaché an der hiesigen Botschaft. Sofern Sie an ihn herankommen und sofern er bereit ist, mit Ihnen zu sprechen, dann ist er Ihr Mann. Halten Sie mich aber da heraus.«

Demonstrativ griff Kessler nach einer Kognakflasche und schenkte sich daraus ein. Es war klar, dass er das Gespräch über dieses Thema für beendet hielt.

»Der gute Sergej Eisenstein«, sagte er mehr zu sich selbst. »Es wundert mich, dass er sich gestern Abend das Spektakel bei Nelson hat entgehen lassen. Er liebt die Dekadenz des Westens. Sie ist für ihn die Quelle seiner Inspiration.«

Auch Konter hatte eben nach einem Glas gegriffen, hielt jetzt aber inne.

»Eisenstein ist wieder in der Stadt?«, fragte er.

Kessler nickte nur und wandte sich endgültig ab. Konter war überrascht, wie viel er aus Kessler herausbekommen hatte. Er dachte bereits über das weitere Vorgehen nach, als er sich zu Toni und Katja gesellte.

»Die Dietrich wird gleich auf ihrer Säge fiedeln«, meinte Toni. »Da kannst du ihr ja mit den Augen wieder unter den Rock krabbeln.«

»Nicht doch, meine Zuckerschnecke«, gab Konter in gespielter Entrüstung zurück. »Und wäre ich der einzige Mann auf der Welt, ich hätte doch nur Augen für dich.«

»Dein Glück, dass du das sagst.«

Jewgeni Gnedin, dachte Konter zufrieden. Und Eisenstein in der Stadt. Plötzlich kam ihm eine weitere Idee. Er sah sich in Vollmoellers riesiger Wohnung um, konnte den Grafen jedoch nirgendwo entdecken. Schließlich fand er ihn im Raucherzimmer. Hier war die Luft erstaunlicherweise noch recht gut. Kessler saß auf einem Stuhl und hatte diesen glasigen, gehetzten Blick, den der Polizist zur Genüge kannte. Das Koks war mittlerweile fast zu einer Pflicht bei jeder Feier geworden. Immerhin hatte es einen Vorteil. Betrunkene schwafelten oft nur dummes Zeug, Koksköppe hingegen sahen sich als Götter, denen niemand etwas anhaben konnte. Sie überschätzten sich maßlos. Manch Verdächtiger hatte sich im berauschten Zustand um Kopf und Kragen geredet.

»Ich möchte Ihnen etwas anbieten, dass die Amerikaner einen Deal nennen, Harry.«

Konter wollte zeigen, dass er der muffigen Mentalität kaiserlicher Amtsstuben entwachsen war, indem er den Begriff nutzte, den er bei den Geschäften des Syndicats mit den Mobstern aus New York aufgeschnappt hatte.

»Schießen Sie los.« Graf Kessler formte mit seinen Fingern eine Pistole und zielte auf Konter. Dabei kicherte er.

»Es wird doch einen neuen Vertrag mit den Russen geben, habe ich recht?«, fragte Konter scheinheilig.

»Klar, steht in den Zeitungen. Das Berliner Abkommen als Neuauflage des Vertrags von Rapallo.« Kessler gähnte. »Was soll die Frage?«

»Wenn Sie mir helfen, meinen Zeugen Annuscheit zu finden, dann könnte es sich für Sie lohnen.«

Kessler richtete sich in seinem Ledersessel auf und sah den Kripobeamten fragend an.

»Überlegen Sie, Harry. Kutisker und Annuscheit sind im Besitz von Unterlagen, mit denen Sie viele Leute in der Hand hätten. Kutisker behauptet, mehrere Dutzend hochrangiger Politiker hätten sein Geld genommen. Und Annuscheit hat es bestätigt. Mit diesem Wissen wären Sie der König auf dem diplomatischen Parkett.«

In Kessler Augen blitzte etwas auf. Er stand auf, kam auf den Kommissar zu und sah ihm aus kurzer Distanz in die Augen.

»Halten Sie mich für einen Lump, der andere erpresst?«

»Ich sagte König«, gab Konter zurück und versuchte, gelassen zu klingen. Wenn diese Sache in die Hose ging, dann würde ihn Kessler hinauswerfen lassen. »Ein König setzt sein Wissen zum Wohle der Untertanen ein. Zum Wohle des Reichs.«

Schwafelei, dachte er nur. Aber Kessler schien anzubeißen. Er lief unruhig im Raum auf und ab. Seine Augenlider flatterten, und er knetete seine Hände.

»Was erwarten Sie als Gegenleistung?«, fragte er, als Konter bereits dachte, er hätte den Faden verloren.

»Ich brauche alle Informationen, die Sie zum Roten Erbe haben. Ich will, dass Sie Ihren Bekannten Eisenstein anrufen und ihm sagen, dass er mir endlich reinen Wein einschenken soll. Und ich muss mit diesem Gnedin sprechen. Fädeln Sie etwas ein. Sie sind der König des Parketts, Harry!«

Graf Kessler sah sich im Raum um, als hätte er eben erst bemerkt, dass er hier war. Er griff nach einem Buch im Regal. Und stellte es zurück. Dann nahm er eine Zigarre aus Vollmoellers Humidor. Und legte sie wieder hinein.

»Ich dachte immer, die Berliner Ganoven müssten sich nicht vor unserer Polizei fürchten«, sagte er schließlich. »Aber offenkundig habe ich mich geirrt. Ich sehe, was ich tun kann. Sie hören von mir.« Er blickte zur Standuhr. »Nun muss ich mich allerdings um die Pagen kümmern.«

»Pagen«, wiederholte Konter leise, nachdem der Mann den Raum verlassen hatte. Er war kein Kind von Traurigkeit. Mit seiner Bande auf dem Wedding hatte er schon vor vierzig Jahren nichts anbrennen lassen. Aber damals hatte bereits ein Blick von unterhalb der Brücke auf die nackten Fesseln einer hübschen Frau genügt, um die Jungs zum Schwärmen zu bringen. Das neue Berlin hingegen überschritt alle Grenzen dort, wo es sie vorfand. Es war schwer, dem Galopp der Amoralität zu folgen. Anstand schien nur noch etwas für alte Säcke wie ihn zu sein. Die eben zu langsam waren. Die man längst überholt hatte. Vollmoeller hatte ihm vorhin noch versichert, dass die vermeintlichen Knaben, die die Gesellschaft in der Wohnung erwarteten und dann bedienten, volljährig waren. Dann hatte sich herausgestellt, dass es eigentlich junge Frauen in Herrenkleidung waren. Allesamt von einer Anmutung und einem Körperbau, die eine Unterscheidung zwischen weiblich und männlich fast unmöglich machte. Konter schien es zudem recht fraglich, dass ihr Gastgeber es mit der Altersprüfung sonderlich genau genommen hatte. Gerade als er sich entschieden hatte, einzuschreiten, war alles wieder ganz anders. Denn offenbar lag der Reiz des Spiels nur im Reiz selbst. Karl Vollmoeller hatte allen Bediensteten untersagt, sich von den Gästen zum Äußersten verführen, überreden oder erpressen zu lassen.

»Ich werde wohl langsam zu alt für diesen Kram«, meinte Konter resignierend. »Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Mir scheint, dass du für das Wesentliche gerade im besten Alter bist«, entgegnete Toni. »Im Übrigen würde ich dir ohnehin raten, nicht jeden Kram mitzumachen.«

In diesem Augenblick betrat Josephine Baker das Zimmer. Vollkommen nackt tastete sie verschlafen nach der großen silbernen Schatulle, in der sich in einzelnen Fächern verschiedene Zigarettenmarken befanden. Offenbar kannte sie sich hier bereits gut aus. Sie nahm je eine Packung Drumheads und Gauloises heraus und stand derart lange davor, dass eine Betrachterin glauben konnte, es hinge ihr Leben von dieser Entscheidung ab.

»O, what the hell!«, rief sie, als Toni leise hüstelte, um sich bemerkbar zu machen. »You are the guys, Karl’s spoken nicely of.« Dann wandte sie sich vertraulich an Toni und legte ihre Hand an den Mund. »Is that your ol’ daddy? Or Grandpa?« Sie kicherte.

»Wir verstehen Sie leider nicht, Frau Baker«, erwiderte Konter, aber er ahnte, dass die Frauen gerade einen Witz auf seine Kosten machten.

»No English?«, fragte sie erstaunt.

Konter wunderte sich immer wieder, dass alle Amerikaner meinten, die Welt müsse ihre Sprache sprechen. Selbst dieser Gangster Dutch Schultz, der letztes Jahr in der Stadt aufgetaucht war, hatte nur auf Englisch herumgebrüllt und sich aufgeführt, als wäre er in Berlin zu Hause.

»Quelqu’un parle français?«

»Mais oui, bien sûr!« Tonis Gesicht hellte sich sofort auf. Und Konter war augenblicklich abgemeldet. Leicht verstimmt musste er mitansehen, wie beide Frauen sich auf französische Weise herzten. Dann plauderten sie munter fünf Minuten, ohne dass sie Notiz von ihm nahmen. Ein Umstand, der ihn ebenso kränkte wie die Tatsache, dass es keine einfache Overstolz-Zigarette in der Holzbox auf dem Tisch gab. Er brauchte jetzt etwas Bodenständiges. Schließlich nahm er eine Nil. Sie hießen »Die Starken«, wenn ihnen Hanfblüten zugemischt waren, wie in diesem Fall. Die Duftnote war herb. Er hatte bereits zu viel getrunken, aber Konter hielt die Gerüchte, die sich um diese Rauchwaren rankten, für stark übertrieben. Was machte es schon, wenn er noch ein wenig Indischen Hanf probierte? Er nahm ein paar tiefe Züge, hatte allerdings den Eindruck, dass ihn die Zigarette überhaupt nicht entspannte. Weshalb waren diese Glimmstängel dreimal so teuer? Wahrscheinlich war er einfach nicht der Typ für so etwas. Nur schwache Geister erlagen solchen Genüssen. Er verspürte lediglich ein starkes Verlangen. Und einige Bilder gingen ihm durch den Kopf. Die dunkelhäutige Schönheit zusammen mit Toni. Zu dritt. Miss Baker war immer noch nackt. Bei Toni hingegen war alles sittsam bedeckt. Aber ein Mann wie er konnte das schnell ändern. Er war ein Mann der Tat. Es wäre ohnehin einfacher, die eine zu entkleiden, als die andere anzuziehen. Er war praktisch veranlagt. Handwerklich durchaus geschickt. Er rauchte zu Ende und summte leise vor sich hin.

»C’est ma petite queue de souris«, meinte Toni schließlich und stellte Paul vor. Er wollte fragen, was sie über ihn gesagt hatte, entschied sich jedoch anders.

»Un barbare qui vole les vierges!« Josephine Baker vollführte eine Theaterverbeugung vor ihm. Dann schnurrte sie ihn an wie eine satte Raubkatze.

Konter verspürte irgendetwas, das sich zwischen Verärgerung, Lust und Unsicherheit verorten ließ. In solchen Momenten waren seit der Antike Weltreiche zugrunde gegangen. Oder sie wurden erschaffen.

»Ja. Danke, Frau … Ich meine, Miss Baker. Ich … Es war eine sehr schöne Vorstellung. Neben der Erheiterung gab es auch dunkle Momente …« Er biss sich auf die Lippe. Dunkle Momente. Sehr witzig. Wie passend. So ein Unsinn! »Sie waren … also sind … Ihresgleichen liegt so etwas im Blut, nicht wahr?«

»Bitte, Paulchen, halt den Mund«, unterbrach ihn Toni und amüsierte sich offenbar prächtig angesichts seiner pennälerhaften Verklemmtheit. »Vielleicht gäbe es den Kaiser noch, und es wäre nicht zu diesem unseligen Krieg gekommen, wenn wir Frauen uns früher aus den engen Korsetts befreit hätten und Josephines Beispiel gefolgt wären.«

Eine nette Vorstellung, fand Konter und griff nach einer weiteren Nil. Vielleicht brauchte ein Mann wie er zwei davon, um etwas zu verspüren.

Die Afroamerikanerin hatte sich unbekleidet auf einen Salonsessel gesetzt und beobachtete das tuschelnde, deutsche Paar aufmerksam. Dabei schien sie durchaus ihren Spaß zu haben. Natürlich war sie sich ihrer eigenen Reize bewusst, aber die gesamte Szenerie hatte etwas Unwirkliches. Paul Konter war benommen und beschämt zugleich. Bis gestern hatte er sich für abgebrüht gehalten. Hatte geglaubt, dass ihn auf der Straße und im Leben nichts mehr überraschen konnte. Nun hatte er sich unter jene eingereiht, die lüstern sabbernd eine menschliche Attraktion begafften. Er hatte die abfälligen Bemerkungen mancher Besucher im Nelson-Theater gehört. Die Baker war für viele nur eine Wilde, eine Buschschönheit, die den weißen Menschen damit überraschte, dass sie tanzen und auf zwei Beinen stehen konnte.

»Mach dir nichts draus«, sagte Toni plötzlich, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Sie weiß sehr wohl, wer sie ist und weshalb sie so wirkt, wie sie wirkt. Als sie noch ein sehr junges Mädchen war, wurde sie in Amerika von Schaustellern als ›Tanzendes Äffchen‹ angekündigt. Sie wurde eingesperrt. Ihr Körper und ihre Seele waren eingepfercht. Sie hat mir erzählt, wie sie sich aus ihrem Käfig endgültig befreit hat.«

»Tut mir leid«, meinte Konter unbeholfen.

»Nein, wir tun ihr leid, Paul. Denn in Wahrheit sitzen wir noch immer in unserem Käfig!«

Josephine Baker lächelte ihn an.