Graf Kessler hielt überraschend schnell sein Wort. Bereits drei Tage nach dem Abend bei Vollmoeller erhielt Paul Konter ein Telegramm aus Paris.
Gnedin bereit zu Treffen – Kontakt über Mme Stendhal – Unauffällig! – RE Berlin vor Abschluss – HK
Er reichte die Nachricht an Toni weiter. Insgeheim hatte er befürchtet, dass Kessler die Vereinbarung vergessen haben könnte. Konter hatte ihn am Morgen nackt und schlafend – oder bewusstlos – in Vollmoellers Garderobe gefunden. Aber offensichtlich hatte er sich in dem Mann getäuscht.
»Was bedeutet das?«, fragte Toni, die nie verstanden hatte, weshalb man telegraphische Nachrichten derart verstümmelte, nur um ein paar Mark zu sparen.
»Jewgeni Gnedin ist der Sohn von Alexander Parvus. Kutisker hatte angedeutet, dass Parvus für die frühe Revolutionszeit eine Art Steigbügelhalter Lenins war. Und er muss ungeheuer viel gewusst haben über die Figuren auf diesem Schachbrett.«
»Verstehe«, sagte sie. »Parvus ist tot, aber offenbar kennt sein Sohn auch einige Geheimnisse.«
»Genau. Mein Freund Lothar vom Auswärtigen und Graf Kessler haben es bestätigt. Er arbeitet in der Botschaft. Und Kessler vermutet, dass die Gelder, die für Moskau bestimmt sind, dort zwischengelagert werden. Deshalb will ich mit Gnedin sprechen.«
»Und wer ist diese Madame Stendhal?«, fragte Toni.
»Sie heißt eigentlich Harald Trautgott. Er nennt sich aus geschäftlichen Gründen Madame Stendhal und betreibt einen Nachtklub in der Motzstraße.«
»Und weiter?« Toni kannte ihren Gefährten zu gut, als dass sie nicht sein kurzes Zögern bemerkt hätte.
»Er vermittelt eine Betreuung für Männer, die weibliche Begleitung für gesellschaftliche Anlässe brauchen.«
»Doch nicht etwa ein Kuppler? Er betreibt ein Bordell?«, fragte Toni empört.
Auf Drängen aller Teilhaberinnen hatte sich das Syndicat vollkommen aus dem Geschäft der käuflichen Liebesdienste zurückgezogen. Entsprechend sensibel und gereizt reagierten die Damen, wenn das Thema angeschnitten wurde. Denn die neue Freizügigkeit in der Stadt hatte mittlerweile die Zahl der Prostituierten regelrecht explodieren lassen.
»Nein, nein«, beteuerte Konter schnell. »Wie ich sagte, Trautgott hat einen Klub und arbeitet zudem als Vermittler. Die Sitte hat dort alles durchleuchtet. Keine Hinweise auf versteckt betriebene Prostitution.«
»Und da bewirbst du dich jetzt, um diesen Gnedin zu treffen? Ich verstehe gar nichts!«
»Nicht ich.« Paul Konter legte den Kopf leicht schief und lächelte Toni vielsagend an.
»Katja«, rief sie plötzlich. »Natürlich! Sie ist perfekt für eine solche Aufgabe.« Sie stupste ihn mehrmals mit dem Finger an die Brust. »Und du Schuft weißt genau, dass sie es nicht ablehnen wird, weil sie auch noch Spaß daran hat.«
»Ich kläre die Sache mit Trautgott.« Paul Konter nickte zufrieden. »Er ist mir noch etwas schuldig.«
RE Berlin vor Abschluss. Diese Mitteilung bereitete dem Kripobeamten Sorgen. Es konnte nur bedeuten, dass die Russen ihre Ziele hinsichtlich des Roten Erbes in der Hauptstadt weitgehend erreicht hatten. Wenn Kessler recht hatte, dann lagerte das zusammengeraffte Vermögen in der Botschaft. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis man es nach Moskau schaffen würde. Letztlich war Konter das Geld egal. Es war ohnehin Blutgeld, dass die Adligen und Bojaren ihren Untertanen und Leibeigenen in Jahrhunderten abgepresst hatten. Nun war es also in den nicht weniger blutbefleckten Händen der Kommunisten. Aber Konter war sicher, dass mit dem Geld die letzte Möglichkeit, Walter Annuscheit lebend in die Finger zu bekommen, verloren sein würde. Welchen Sinn ergab es, ihn nach der Transaktion noch am Leben zu lassen?
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Konter hatte nicht lange bitten müssen. Harald Trautgott willigte ein, Katja mit Jewgeni Gnedin zusammenzubringen. Er verdiente gutes Geld mit den diplomatischen Korps in der Stadt und hatte hier eine Art Marktlücke erschlossen. Entgegen der Vorurteile wünschten viele Herren der Oberschicht lediglich eine charmante, weibliche Begleitung, mit der sie sich bei den Gesellschaftsabenden schmücken konnten. Wenn sich aus dieser Vermittlung anderes ergab, war dies nicht Trautgotts Angelegenheit. Dennoch war er an guten Beziehungen zur Polizei interessiert, da die Sittenabteilung am Alex bereits seit geraumer Zeit versuchte, ihm an den Karren zu fahren.
»Sie sind mir etwas schuldig, Herr Kommissar«, meinte er, nachdem Konter sein Anliegen geschildert hatte. Mittlerweile genoss der Kripobeamte einen gewissen Ruf in der Berliner Halbwelt. Vor allem jedoch galt er als verlässlich.
»Die Russen gehören zu unseren Stammkunden«, hatte er Konter erklärt. »Privat lieben sie es derb und laut. Aber mit einer Geliebten vom Spittelmarkt, die kaum bis drei zählen kann, dürfen sie nicht zu offiziellen Anlässen erscheinen. Und da komme ich ins Spiel.«
Konter hatte alle Einzelheiten mit ihm abgesprochen. Die Botschaft würde bereits am Wochenende einen Empfang geben. Trautgott wollte der für Jewgeni Gnedin vorgesehenen Dame eine Entschädigung zahlen, und dafür bekäme Katja Romanowa den Platz an der Seite des jungen Attachés.
Mit gemischten Gefühlen war Paul Konter danach zu Katja und Anna gefahren, um sie in seine Pläne einzuweihen. Er befürchtete, dass sie nicht begeistert sein würde, sich mehr oder weniger in die Höhle des Löwen begeben zu müssen. Aber er sah sich getäuscht, denn Katja ließ sich nicht lange bitten und stimmte dem Vorhaben zu.
»Es wird mir ein Vergnügen sein, diese Leute an der Nase herumzuführen. Sie lächeln mir zu, machen Komplimente. Und dabei ahnen sie nicht, wie sehr ich sie verabscheue.«
»Ich muss wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, doch noch an Kutiskers Buchhalter heranzukommen«, erklärte Konter.
Er ging mit ihr noch einmal alle Einzelheiten durch. Trotz Kesslers Vermittlung war letztlich unklar, auf wessen Seite Gnedin stand. Sein enger Kontakt zu Harry Kessler ließ zwar vermuten, dass er sich bereits mit den Ränkespielen der Diplomatie auskannte. Sie kannte kein Richtig oder Falsch. Es gab nur Gewinner und Verlierer.
»Du musst vorsichtig sein, Katja«, warnte Konter. »Taste dich langsam vor. Erwähne Eisenstein, wenn es sich ergibt, aber keinesfalls Bobrow. Wie stand Gnedin zu seinem Vater? Zu Lenin? Sprich aber zunächst nicht von Stalin, es wäre zu auffällig.«
»Willst du vielleicht mitkommen und ihm die Fragen lieber selbst stellen?«, schlug Katja scherzhaft vor. »Damit alles gut läuft?« Sie legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Paul, ich kenne mich mit diesen Leuten aus. Er wird mir verraten, ob seine Mutter Unterkleider unter dem Rock trug, und es nicht einmal merken.«
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»Ich habe Sergej Michailowitsch vor einigen Wochen hier getroffen«, meinte Gnedin, als er mit Katja am Fenster der Botschaft stand.
Sie sahen hinaus auf die Lichter der Prachtstraße Unter den Linden. Auf dem regennassen Asphalt schnitten die vielen Scheinwerfer der Automobile helle Bänder ins Dunkel. Die gediegene Atmosphäre im alten Palais stand in auffälligem Kontrast zum grellen Auftreten seiner jetzigen Besitzer. Das Gebäude verströmte das Flair einer untergegangenen Epoche in einer neuen, rauen Wirklichkeit.
»Sein Film wurde den Botschaftsangehörigen gezeigt, und er war zufällig gerade in der Stadt«, fuhr der junge Diplomat fort. »Unsere Väter kannten sich gut, aber vorher sind wir einander nie begegnet.«
Gnedin war nicht sonderlich attraktiv, das Gesicht ein wenig schief gewachsen, das Haar dünn und die Haltung gebeugt wie bei einem alten Mann. Allerdings vermochte er charmant zu plaudern, so dass Katja und er sich bisher nicht gelangweilt hatten. Der Botschaftsempfang, zu dem Katja die Einladung erhalten hatte, galt irgendeinem politischen Anlass, der im Zusammenhang mit den neuen Verträgen zwischen Deutschland und der Sowjetunion stand.
»Ich habe gelesen, dass Ihr Vater sehr wichtig war für das Gelingen der Revolution«, meinte sie.
»Schon. Aber daran erinnert sich bereits niemand mehr«, erwiderte er, und Katja fand, dass ein Hauch Bitterkeit in seiner Stimme lag. »Es gibt in seiner Biographie ein paar Dinge, die nicht ins Bild der glorreichen Taten passen.«
»Zum Beispiel?«
»Er war jüdischer Abstammung, wurde in Weißrussland geboren, hatte in Deutschland Erfolg als Unternehmer. Und vor allem träumte er von einer schnellen, großen Revolution. Einfach zu viele Punkte, die heutzutage der Führung in Moskau missfallen.«
»Und Sie, Jewgeni? Sie sind sicherlich ein guter und treuer Revolutionär, nicht wahr?« Sie lachte kokett.
»Selbstverständlich.«
Katja scheute sich, vor Mitternacht noch einmal die Themen anzusprechen, die Konter und das Syndicat interessierten. Sie wusste allerdings, dass ein echter Russe jenen Anschein von affektierter Zivilisiertheit, um den sich bei diesen Anlässen alle so sehr bemühten, nur bis zur Geisterstunde ansatzweise aufrechterhalten konnte. Danach tat der Wodka seine Wirkung, durchbrach die Grenzen zum Barbarischen. Sie konnte warten. Ganz bewusst suchte sie die Nähe zu Männern, die aufgrund ihres Alters wahrscheinlich nicht an den Kämpfen der Revolution teilgenommen hatten. Echte Helden schwiegen und rangen mit ihren Dämonen. Nur Maulhelden, die das Grauen nicht erlebt hatten, plapperten. Gerade die jüngeren Diplomaten sahen sich in gewisser Weise betrogen um die Erfahrung, für ihre Sache bluten zu dürfen. Umso mehr waren sie darauf aus, von zukünftigen Taten zu schwärmen.
Katjas Nachname Romanow öffnete natürlich bei Kommunisten nicht gerade die Türen und Herzen. Aber er machte neugierig, war immer wieder ein guter Anlass, Gespräche zu beginnen.
»Sie müssen wissen, Jekaterina«, verriet ein noch pickliger Diplomatensohn. »Das Botschaftsgelände ist Territorium der Sowjetunion. Die deutschen Behörden haben hier keinerlei Befugnis.«
»Nein! Wirklich? Wie interessant!«
«Tatsächlich haben wir sogar unsere eigene Polizei hier«, fuhr der junge Mann fort.
»Nein! Wo?« Katja blickte um. »Ich sehe gar keine Männer in Polizeiuniform.«
»Sie Dummerchen«, prahlte der junge Russe weiter. »Natürlich spreche ich von Leute, die man nicht sofort bemerkt.«
»Sie meinen doch nicht etwa die Tscheka?« Katja tat entsetzt und schlug die Hand vor den Mund. Dann blickte sie sich um, als hoffte sie, einen Agenten der Geheimpolizei erkennen zu können.
»Sie haben ihr Hauptquartier im Keller.« Er nickte und wies mit dem Zeigefinger auf den Boden. »Es sind zwei Ebenen unter uns. Während wir tanzen und trinken, wird dort unten harte Arbeit verrichtet. Zum Wohle der sozialistischen Republiken. Die Arbeit von Revolutionären.« Er sah auf seine Patek Philippe und lächelte nachsichtig. »Ich denke aber, dass die Genossen sich jetzt ein wenig Ruhe gönnen.«
»Verzeihen Sie, Gnädigste«, mischte sich Gnedin in das Gespräch ein und zog den Jüngeren zur Seite. Er stauchte ihn offenbar kurz zusammen und wandte sich wieder seiner Begleiterin zu.
»Er ist ein unverbesserlicher Schwätzer«, meinte er etwas steif. »Aber leider der Sohn des Botschafters.«
»Ich fühle mich gleich viel sicherer, wenn ich weiß, dass Polizei im Haus ist«, sagte Katja.
»Nun ja, die GPU ist eine etwas andere Polizei. Aber lassen wir das.«
»Graf Kessler sprach davon, dass Ihre persönlichen Vorstellungen von einer gelingenden Revolution ein wenig von der offiziellen Haltung abweichen.«
»Er ist ebenfalls ein Schwätzer«, erwiderte Gnedin. »Woher kennen Sie ihn eigentlich?«
»Ich komme viel herum in der Stadt«, erwiderte Katja. »Nach dem Krieg wurde ich oft eingeladen, da man mich für eine entfernte Verwandte des Zaren hielt. Später habe ich erkannt, dass Männer meine Gesellschaft schätzen, und ich konnte gut davon leben. An einem der Abende bei Vollmoeller habe ich schließlich Harry getroffen. Wir verstehen uns gut. Im freundschaftlichen Sinn.«
»Kehren Sie in das Land Ihrer Väter zurück, Jekaterina!«, sagte Gnedin jetzt auffällig laut. »Sie wären begeistert von diesem neuen Russland. Und von den Menschen, die es hervorbringt. Freies Schaffen des Einzelnen zum Wohle aller. Das Ende proletarischer Not und Vereinsamung. Bildung für jedes Kind. Brot für jede Hand. Genosse Stalin verspricht Arbeit, die nicht entfremdet. Ein würdiges Leben, das nicht der Knechtschaft bestimmt ist.«
Katja bemerkte, dass sich ihnen ein Mann genähert hatte, der aufmerksam einige Vasen und Gemälde zu betrachten schien. Sie war sicher, dass die Tscheka auch die eigenen Leute überwachte. Sie wartete, bis der vermeintliche Kunstkenner weitergegangen war.
»Ach, kommen Sie, Jewgeni. Die Versprechen der Werbetafeln und politischen Trommler kenne ich bereits von den deutschen Kommunisten«, entgegnete sie leise. »Plaudern Sie lieber etwas aus dem Nähkästchen. Geben Sie es ruhig zu, Jewgeni. Sie sind unzufrieden.«
Katja war klar, dass sie ein Risiko einging. Die Offenheit konnte auch dazu führen, dass sie vor die Tür gesetzt wurde. Andererseits war Gnedin bislang zu reserviert geblieben. Die Zeit lief ihr davon.
»Kessler hat es mir erzählt«, fuhr sie fort. »Sie kommen mehr nach Ihrem Vater, Jewgeni, als Sie zugeben wollen. Sie sind ein echter Revolutionär. Kein Angeber.« Sie wies auf die im Raum stehenden, russischen Botschaftsangehörigen in ihren Paradeuniformen und Anzügen.
»Gehen wir nach nebenan, meine Liebe.«
Er führte sie in ein kleines Lesezimmer, dessen Luft zwar abgestanden war, aber nicht geschwängert von Qualm und Alkoholdunst.
»Reden wir Klartext«, sagte er, nachdem er die Tür verschlossen hatte. »Was möchten Sie wissen?«
»Trifft es zu, dass in den Kellern die GPU arbeitet?«
»In der ersten, unteren Etage sind Büroräume.« Er nickte. »Dort werden wichtige Informationen über den Klassenfeind zusammengetragen, verschlüsselt und später nach Moskau gekabelt.«
»Und darunter?«
»Technik, ein Verhörraum, ein paar Zellen.«
»Zellen?«, fragte Katja. »Sie haben hier Gefangene?«
»Manchmal.«
»Walter Annuscheit.«
»Hören Sie, Jekaterina. Ich habe bereits zu viel gesagt. Eine schöne Frau sollte ihr Leben genießen und nicht aufs Spiel setzen.«
»Die Bolschewiki haben meine Familie ermordet«, sagte sie in eiskaltem Tonfall. »Nur wegen des Namens. In euren Reihen gab es blutrünstige Idioten, die jeden abgeschlachtet haben, der ihnen verdächtig vorkam.«
»Es tut mir leid. Viele Menschen haben unnötig gelitten.«
»Also, was ist mit Annuscheit?«, beharrte Katja. »Das Wissen dieses Mannes kann die jetzigen Machtstrukturen in Moskau stärken. Genosse Stalin wird dann fester im Sattel sitzen als je zuvor. Wollen Sie das?«
Gnedin zögerte, griff nach einer Zigarette, entzündete sie jedoch nicht. Schließlich stützte er sich mit zu Fäusten geballten Händen auf den kleinen Tisch.
»Es gibt eine Aufnahme von Lenin.« Katja wollte alles auf eine Karte setzen. Entweder gelang es ihr jetzt, den Mann auf ihre Seite zu ziehen. Oder er würde das Gespräch beenden und sie vor die Tür setzen.
»Eine Aufnahme?« Gnedin schien verwirrt. »Vom Genossen Wladimir Iljitsch?«
»Ich habe seine Stimme gehört.« Katja nickte. »Eine Art politisches Testament, das wohl kurz vor seinem Tod auf einem Phonographen aufgenommen wurde.«
»Was sagt er?« Gnedin flüsterte beinahe, schien kaum zu wagen, die Frage zu stellen.
»Er rät den Genossen davon ab, Stalin zu seinem Nachfolger zu machen.«
Katja erschrak, als der Attaché mit beiden Fäusten auf die Tischplatte schlug. Sie war sicher, dass er sie hinauswerfen würde.
»Ich habe es immer geahnt«, sagte er jedoch stattdessen. »Mein Vater hat es wahrscheinlich sogar gewusst!«
»Wollten Lenin und Ihr Vater, dass Trotzki die Macht übernimmt?«
»Trotzki ist ein eitler Wirrkopf, der nur an sich selbst und seinen Platz in der Geschichte denkt«, entgegnete Gnedin. »Aber er wäre dennoch besser für unser Land als der Georgier.«
»Stalin?«
Gnedin nickte und strich sich über die Lippen. Er schien mit sich zu ringen, ob er weitersprechen sollte.
»Im Prinzip haben Sie recht, Jekaterina. Genosse Wladimir Iljitsch und mein Vater wollten, dass die Revolution in alle Länder getragen wird. Jetzt und nicht in dreißig Jahren!«
»Wo ist das Geld, Jewgeni? Das Rote Erbe? Ist es hier in der Botschaft?«
Er nickte wieder, wirkte erschöpft.
»Und Annuscheit? Lebt er?«
»Ja.«
Plötzlich kam Katja ein Gedanke. Lenin und Parvus waren im selben Jahr verstorben. Zufall?
»Die Tscheka hat Ihren Vater auf dem Gewissen«, sagte sie tonlos. »Habe ich recht, Jewgeni? Er wusste zu viel und hätte Stalin eine Menge Ärger bereiten können.«
Er schwieg, aber Katja sah, dass Tränen in seine Augen traten. Sie ging hinaus und kehrte mit einem randvollen Glas Wodka zurück. Gnedin stürzte es in einem Zug hinunter.
»Ich will die Aufnahme hören«, sagte er kurz darauf. »Ich hatte nie die Ehre, den Genossen Wladimir Iljitsch sprechen zu hören.«
»Besuchen Sie mich, Jewgeni. Es wirkt unverfänglich, und ich werde es einrichten, dass die Polizei uns die Aufnahme überlässt.«
»Ich habe meinen Vater verraten«, schluchzte er plötzlich.
Sein Gesicht war rot angelaufen. Katja kannte das Phänomen. Manche Männer wurden erst unter Alkoholeinfluss weicher, erst dann konnten sie endlich über ihre inneren Schatten springen. Und oftmals zerflossen sie auch regelrecht vor Selbstmitleid und Weltschmerz.
»Ich habe offiziell erklären lassen, dass er am Schluss geistig nicht mehr auf der Höhe war. Dass er den Verlockungen des Kapitalismus erlegen war. Ich habe sogar seine Schriften überarbeitet und Briefe gefälscht. Das Zentralkomitee hatte es von mir verlangt, damit ich diese Laufbahn einschlagen kann. Ich habe meinen Vater verraten, um zu überleben.«
»Sie können es wiedergutmachen, Jewgeni«, sagte Katja und nahm den weinenden Mann in den Arm. Sie kam sich etwas schäbig vor, aber ihr schlechtes Gewissen hielt sich doch in Grenzen. »Wir können gemeinsam verhindern, dass Stalin das Geld bekommt. Wir können diesen Annuscheit befreien. Es wird Ihre Rache sein.«
Dass es in Wahrheit ihre Rache war, behielt Katja für sich.
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Am nächsten Morgen – eigentlich war es fast schon früher Nachmittag – musste Katja erst einmal Dampf bei ihrer Lebensgefährtin ablassen. Sie sah fürchterlich mitgenommen aus. In ihrem Schädel schien ein Dampfhammer Abrissarbeiten durchzuführen. Das Problem russischer Feste war es schon immer gewesen, dass man sich den Gelagen kaum entziehen konnte, ohne als Außenseiterin aufzufallen. Katja hatte nach dem fünften Wodka aufgehört zu zählen. Anna Bäumer kannte die Gefühlsausbrüche ihrer Partnerin. Beide Frauen waren noch in einer Zeit erzogen geworden, in der es unüblich gewesen war, über Sorgen, Nöte oder Ärger zu sprechen. Eine Frau hatte ihrem Mann zu dienen, einen Haushalt zu führen und die Kinder großzuziehen. Aber über diesen Punkt der Selbstaufgabe waren beide Frauen längst hinweg. Anna tanzte sich als Veuve Noire auf Berliner Kleinbühnen »den Schmerz von der Seele«, wie sie es nannte. Andere musizierten, malten oder schrieben Gedichte, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Sie wusste jedoch, dass Katja über eine solche Gabe nicht verfügte. Und so hatte sie sich damit abgefunden, hin und wieder eine Art Blitzableiter für die Freundin zu sein.
»Diese Leute feiern Feste, und in ihrer Heimat verhungern die Menschen«, schimpfte Katja.
»War das nicht schon immer so? Mein Otto war vor dem Krieg ein ganz sanfter, zärtlicher Mensch. Er hat mir Gedichte auf Zetteln geschrieben, die er mir morgens zusteckte. Als er von der Front zurückkam, hatte er sich in einen prügelnden Unhold verwandelt. Und die Generäle? Die Politiker? Der Kaiser? Diese Leute saßen doch schon zu allen Zeiten etwas dichter am Feuer, wenn es kalt wurde. Und sie hatten volle Bäuche, wenn für die Massen das Brot zur Neige ging.«
»Eben! Eine Revolution und zwei Millionen Tote später hat sich in Russland nichts verändert!«
»Nun beruhige dich mal endlich.« Langsam wurde es auch Anna zu viel. Sie hatte für ihre Gefährtin ein typisches Katerfrühstück zusammengestellt, aber das störrische Biest in Katjas Schädel ließ sich offenbar auch durch Aspirin, Kaisernatron und einen sauren Hering nicht zähmen. »Geld regiert die Welt. Und Macht macht, was ihr gefällt. Stand neulich in der Vossischen Zeitung, Rubrik Lebensweisheiten. Wir sollten uns damit abfinden, dass wir nicht alles ändern können.«
»Wie feinsinnig. Es geht mir schon viel besser.«
Es läutete, und kurz darauf stand Franz im Wohnungsflur. Anna fand, dass er sogar noch fürchterlicher aussah als die verkaterte Katja. Ringe unter den Augen. Blasse, teigige Haut. Dazu unregelmäßig wachsende Bartstoppeln und das Haar ungepflegt. Und sein blaues Auge schimmerte jetzt eher in Grün und Gelb.
»Warst du wieder mit deiner alten Clique unterwegs?«, fragte sie vorsichtig.
»Eigentlich keine schlechte Idee, aber nein.« Kurz schien es so, als hätte der Gedanke, mit seiner alten Jugendbande wieder um die Häuser zu ziehen, einen Lebensfunken in diesem Haufen Elend entfacht, das auf den Namen Franz hörte.
»Zeit für Kaffee mit viel Kognak«, entschied Anna und wies ihren Besucher an, in die Stube zu gehen. »Setz dich. Und versucht bitte, euch beide nicht an die Gurgel zu gehen, während ich in der Küche bin.«
Sie verspürte keine Lust, sich auch noch eine weitere Tirade anzuhören. Franz und Susanne. Ihre Beziehung war seit fast zwei Jahren ein Thema für große Schriftsteller. Sie konnten nicht miteinander. Und nicht ohne einander. Seit Susanne ihr Kind verloren hatte, war sie – nach einer langen Trauerphase – viel selbstständiger, aber auch kompromissloser geworden. Und Franz rang mit Schuldgefühlen, von denen er selbst nicht wusste, dass sie ihn quälten. Er hatte sich schon in jungen Jahren in seine »Rote Susi« verliebt, die sogar eine Zeit lang am Nollendorfplatz anschaffen gegangen war. Ihm war es egal gewesen, er hatte ihr Ritter und Retter sein wollen. Manchmal wirkte es, als wäre er unsicher, ob nicht eine andere Frau ihn besser verstehen konnte. Unglücklicherweise hatte er dann kurze Zeit ein Auge auf seine Cousine Valerie geworfen. Als Mann glaubte er natürlich, es wäre damals sein Geheimnis geblieben. Aber jede taubstumme und blinde Marktfrau in der Stadt hätte es bemerken können.
»Wie läuft der Umzug?«, hörte sie Katja fragen. Volltreffer, ein ganz heikles Thema. Dabei hatte Anna doch gebeten, sie sollten sich nicht mit Sticheleien beharken.
»Frag nicht. Es ist die Hölle«, erwiderte Franz mit matter Stimme. Der Treffer saß offenbar mittschiffs. Versenkt. Danach schwieg er beharrlich.
Eine halbe Stunde und zwei Muntermacher später hatten sich die Gewitterwolken endlich verzogen. Nun konnte Anna, die selbst Teilhaberin des Syndicats war, das Gespräch in eine sinnvollere Richtung lenken.
»Hat sich der Abend wenigstens gelohnt?«, fragte sie. »Dass du in die Botschaft musstest, war schon schlimm genug. Aber dann noch mit diesen Kerlen trinken?«
»Aber sicher, meine Liebe«, erwiderte Katja. »Vor dir sitzt die Mata Hari von Berlin, die beste Agentin des Reichs!«
»Die Baba Jaga vom Spittelmarkt.« Franz war seitens der Stimmung noch nicht wieder obenauf.
»Satkniss«, fauchte sie zurück. »Halt den Mund und hör einfach zu.«
Sie ignorierte ihn und berichtete von dem Abend. Mit einigem Stolz in der Stimme erwähnte sie, wie sie Gnedins Vertrauen erworben hatte.
»Ein Schuss ins Blaue«, meinte sie. »Sein Vater starb im selben Jahr wie Lenin, dessen begeisterter Anhänger er war. Ich vermutete, dass die Tscheka etwas damit zu tun hatte.«
»Und das hast du ihm ins Gesicht gesagt?«, fragte Anna mit einer Mischung aus Bewunderung und Ungläubigkeit in der Stimme. »In seiner eigenen Botschaft? Du bist verrückt.«
»Er hat angebissen.« Katja nickte. »Wahrscheinlich hat er selbst schon längst diesen Verdacht gehabt. Aber das Beste kommt noch. Stalin hat ihn nach dem Tod des Vaters über einen Boten auffordern lassen, das Familienvermögen der Sowjetunion auszuhändigen.«
»Ein Bote?« Franz wurde munter. »Ein Läufer. Natürlich! Vielleicht war es auch damals Bobrow, der ihm die Nachricht überbracht hat.«
»Keine Ahnung. Jedenfalls hat Gnedin dem Befehl gehorcht. Dann musste er noch eine Erklärung aufsetzen, dass sein Vater geistig verwirrt war. Und zum Dank hat man ihn zum Attaché an der Botschaft gemacht.« Katja lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
»Traurige Geschichte«, meinte Franz bissig. »Aber bringt uns das weiter?«
»Im Keller der Botschaft liegen zwei Millionen Mark in Gold, Edelsteinen, Aktien, Genussscheinen und Schatzanweisungen«, entgegnete Katja in fast beiläufigem Tonfall.
Anna schlug ungläubig die Hände vor den Mund, und Franz goss vor Überraschung den Kaffee auf die Tischdecke statt in die Tasse.
»Und genau dort wird auch ein Buchhalter gefangen gehalten«, fuhr die Russin fort und genoss ihren Triumph. »Geld und Zeuge. Beides liegt zur Abholung bereit.«
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Franz war dermaßen überrascht, dass es ihm für einige Zeit die Sprache verschlug. Das Rote Erbe hatte er anfangs für eine Legende, dann für eine Spinnerei und schließlich für politische Spielchen gehalten. Wenn Katja recht hatte, dann lag jedoch ein Teil davon in den Kellerräumen unter der sowjetischen Botschaft! Mitten in Berlin. Noch war er zu ramponiert, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Aber er spürte dieses Kribbeln unter der Schädeldecke. Als würde ihn dort jemand mit einer Feder kitzeln. Ein untrügliches Zeichen, dass sich ein Plan zusammenbraute. Zuletzt hatte er dieses Gefühl bei Romano in Neapel gehabt. Und davor im Chinesenviertel in Hamburg. Franz witterte in solchen Momenten eine Chance, ein gutes Geschäft. Aber da war noch etwas anderes. Unruhe und Herzklopfen. Als wäre er frisch verliebt. Er konnte das Gefühl nicht richtig fassen.
»Haben wir denn eine Möglichkeit, diesen armen Mann da herauszuholen?«, fragte Anna.
»Vielleicht gegen ein Lösegeld«, meinte Katja, schüttelte dann jedoch sofort den Kopf. »Aber ich glaube, er ist für meine Landsleute viel zu wichtig. Sie behalten ihn da oder bringen ihn unbemerkt nach Moskau.«
»Nicht zu fassen.« Anna blickte ihre Lebensgefährtin an. »Da siehst du, wie gefährlich diese Leute sind. Sie halten Annuscheit fest. Wie in einem Gefängnis. Und dann liegen da noch zwei Millionen Mark herum. Wie in einem Banktresor.«
»Ja!«, rief Franz plötzlich und so laut, dass Katja vor Schreck ihre Zigarettenspitze aus dem Mund fiel. Auch Anna zuckte zusammen. »Ich hab es. Ein Tresor! Das ist die Lösung!« Er sprang auf und klatschte sich auf die Schenkel, als wollte er einen derben Volkstanz beginnen.
»In höherem Alter werden Männer oft wunderlich«, flüsterte Anna und schmunzelte.
»Versteht ihr denn nicht, ihr Hupfdohlen? Wen habt ihr hier vor euch?« Er richtete sich auf und wies mit beiden Händen auf sich. »Na?«
»Könntest du mit dem Kinderkram aufhören und sagen, was du denkst?«, forderte Katja ihn auf.
»Ich werde zusammen mit Joe einen Bruch machen. Wir werden bei den Russen einsteigen! Und Erich kann uns unterstützen. Wie in Hugenbergs Villa. Wir holen die zwei Millionen raus!« Er rieb sich über die Bartstoppeln. »Und Annuscheit natürlich auch.«
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Trotz erheblicher Proteste ließ sich Franz seine gute Laune nicht mehr verderben. Im Lauf des späten Vormittags steigerte sie sich sogar zu einer Euphorie. Und zu jener inneren Leichtigkeit, die er zuletzt in Neapel verspürt hatte. Er fuhr nach dem Frühstück bei Katja und Anna direkt zum Klub Berlin. Dort weckte er seinen jüngsten Bruder, der ein kleines Apartment über dem Lokal bewohnte, unsanft und wollte – wie in alten Zeiten – Kriegsrat halten.
»Wie willst du denn in den Keller reinkommen?«, fragte Erich vollkommen übermüdet, nachdem er einigermaßen begriffen hatte, was sein Bruder aufgeregt vorgetragen hatte. Meistens schlief er bis eins, da er oftmals selbst die allerletzten Nachtschwärmer gegen vier Uhr morgens vor die Tür setzte. »Du weißt noch nicht einmal, ob da unten wirklich ein Tresor ist«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Vielleicht wollte der Russe nur angeben. Diese Leute leiden irgendwie unter Minderwertigkeitsgefühlen.«
»Diese Fragen können wir noch klären«, erwiderte Franz aufgekratzt. »Zwei Millionen, Erich! Weißt du, was das bedeutet?«
»Erklär du es mir.«
»Ich steige aus! Mir ist das alles zu viel. Die ganzen Verpflichtungen im Syndicat, der Papierkram, das juristische Geplänkel mit Renger, die Zulieferer und arroganten Stadtvertreter. Ständig ist irgendetwas. Ich muss mich um alles kümmern.«
»Verstehe« erwiderte Erich gedehnt. Er wusste, dass sein Bruder gern mal seine lustigen fünf Minuten hatte. Er erinnerte sich, dass seine Mutter oft davon gesprochen hatte, wenn ihr Sohn schon als Knirps wieder einmal mit einem Plan nach Hause gekommen war, wie er die Stadt erobern konnte.
»Ihr werdet sehen. Die Sache mit dem Casino ziehe ich allein auf. Keine ewigen Beratungen und Einwände mehr.« Er äffte einige Stimmen und Argumente der anderen Teilhaber nach. »Romano besorgt mir und Susanne ein kleines Haus an der Amalfi-Küste, in dem wir jedes Jahr den Frühling verbringen werden. Das Casino Glienicke wird genügend Moneten abwerfen, dass ich mich ansonsten zur Ruhe setzen kann.«
»Du hast einen Sockenschuss, Franz. Ich hole dir mal etwas Starkes.«
»Bist du bei dem Bruch dabei, Erich?«
»Du weißt doch noch gar nichts über die Botschaft.«
»Egal, wird sich alles klären. Bist du dabei?« Franz sah seinem Bruder direkt in die Augen. »Meine Chance, endlich mein Ding zu machen. Und deine Chance, mit Toni in Zukunft das Syndicat zu leiten. Gib es zu, das wolltest du immer. Also, was sagst du?«
Erich nickte nur, aber sein Blick verriet, dass er skeptisch blieb. Franz hingegen war zufrieden. Später würde er noch Joachim Fischer aufsuchen und überzeugen müssen. Sein Freund hatte sich zwar nach eigenen Angaben zur Ruhe gesetzt, doch die Gelegenheit, einen Panzerschrank in der sowjetischen Botschaft zu knacken, würde er sich ganz gewiss nicht entgehen lassen. Bevor sich Erich richtig sammeln konnte, war sein Bruder bereits wieder auf dem Sprung.
»Ich muss es machen wie Georg«, sagte er, als er das Lokal verließ. »Ich brauche ein wenig Abstand. Ich werde Susanne sagen, dass ich mir in Zukunft mehr Zeit für sie nehme.«
Auf dem kurzen Weg vom Wittenbergplatz nach Hause wäre Franz zweimal beinahe mit anderen Wagen zusammengestoßen. Er fand, dass das Autofahren in der Stadt zunehmend weniger Spaß machte. Seitdem diese seltsamen Kleinwagen für jedermann auf den Markt gekommen waren, herrschte ein nahezu mörderischer Verkehr auf den Straßen. Er parkte den Wagen am Hegelplatz und war wenige Minuten später bereits in seiner Wohnung. Die Straße Am Kupfergraben lag quasi im alten Ur‑Berlin. Von der geräumigen Stube und dem Salon aus hatten sie unverbaubaren Blick auf die nördliche Spreeinsel mit dem Pergamon-Museum. Historischer ging es kaum noch. Pfeifend betrat der die »Baustelle«, wie er die Wohnung erst im Scherz, später mit zunehmendem Zorn genannt hatte.
Geschmack hat sie, aber eben auch hohe Ansprüche, dachte er gerade, als Susanne ihn aus seinen Gedanken riss. Sie saß auf einem Stuhl, der seit der Lieferung vor zwei Monaten noch in Jute eingeschlagen war, damit die Arbeiter ihn nicht beschmutzten. Der Tisch war noch in der Manufaktur, so dass ihnen als Ersatz eine leere Kabelrolle von Siemens & Halske diente, die Franz dem Vorarbeiter bei Reparaturen am U‑Bahnhof Schlesisches Tor für ein paar Mark abgeschwatzt hatte. Plötzlich empfand er das Chaos, die aufgestemmten Wände und den rohen Estrich gar nicht mehr als abstoßend. Er fühlte jene Unbekümmertheit in sich, die ihm kurz nach der Italienreise gleich wieder abhandengekommen war. Er genoss den Ausblick und die kühle Frühlingsluft mit einem Schuss typischer Spreewürze, in die sich der Duft von feuchtem Gips und Kaseinfarbe mischte.
»Ich möchte ein paar Dinge in unserem Leben ändern«, begann er das Gespräch.
Er schilderte seine Pläne, und Susanne hörte geduldig zu.
»Es muss möglich sein, das Leben einfacher zu gestalten«, meinte er abschließend. »Seit Jahren bin ich überall und nirgends. Vor allem habe ich nie Zeit für uns.«
Sie nickte, und er sah die Tränen in ihren Augen schimmern. Mit Gefühlsausbrüchen aller Art, vor allem weiblichen, konnte er nur schlecht umgehen. Unbeholfen nahm er einfach ihre Hand und streichelte sie.
»Ich kann verstehen, was du meinst, Franz. Aber macht die Zusammenarbeit mit den Italienern das Leben denn wirklich einfacher? Denk an die Chinesen oder Amerikaner, da hast du auch gedacht, du hättest das große Los gezogen.«
»Ich kann mich auf eine Sache konzentrieren«, versuchte er erneut, sie zu überzeugen.
»Und dafür willst du ein Risiko eingehen, dass deinen Tod bedeuten kann?«, erwiderte sie. »Hätten Sie dich damals in der Villa von Hugenberg geschnappt, dann wärst du schlimmstenfalls im Gefängnis gelandet. Wenn die Russen dich in die Finger bekommen, werden sie dich …« Sie schluchzte.
»Ich muss es tun. Ich kann nicht erklären, weshalb. Aber mich hat Joachims Arbeit immer fasziniert. Da ist ein Reiz, den mir die ewigen Besprechungen, die Zahlen und Bücher oder Mauscheleien nicht geben können.«
»Ich weiß.«
»Danach ist Schluss. Ich verspreche es. Das Geld von den Russen. Das Casino. Wir stellen jemanden ein wie Erich, der die Geschäfte für uns leitet. Und dann genießen wir das Leben, Susi.«
Sie besaßen in ihrer Wohnung noch keinen Fernsprecher. Kurze Zeit hatte es einen provisorischen Apparat gegeben, den zwei Postbeamte mit dem Hinweis, dies wäre unzulässig, wieder entfernt hatten. Es war wie in einer Kafka-Geschichte. Damit die Reichspost den Antrag bearbeitete, mussten sie erst hier gemeldet sein. Eine Meldung war jedoch erst nach Einzug möglich. Und der Einzug nach dem Abschluss der Renovierung. Folglich musste sich Franz jetzt auf den Weg zur Postzentrale an der Dorotheenstraße machen, um bei Joachim Fischer anzurufen. Der Mann ließ es sich in einem kleinen Haus in Neukölln gut gehen, das er sich von seinen Einnahmen als »Fachmann für Schlossertechnik« – so gab er es auf Fragebögen an – gekauft hatte. Franz war derart aufgedreht, dass er seinen Freund am liebsten sofort aufgesucht hätte. Aber Fischer hatte andere Pläne für den Nachmittag. Sie verabredeten sich für den Folgetag. Leicht enttäuscht und in gewisser Weise wieder geerdet, kehrte Franz in die Wohnung zurück. Susanne wusste, dass er sich in manchen Situationen wie ein kleiner Junge verhielt. Sie sah oft die Burschen, die sich beim Konditor die Nase an der Scheibe platt drückten. Wenn sie fünf Pfennig verdient hatten, dann gab es kein Halten mehr. Hinein und Kuchenbruch gekauft. Und sofort in den Mund damit. Franz war da nicht anders.
»Vielleicht sollte ich mit Paul sprechen«, meinte er. »Er wird zufrieden sein, wenn er erfährt, dass ich ihm seinen einzigen Zeugen doch noch liefern kann.«
»Nichts da«, entgegnete Susanne resolut. »Wahrscheinlich weiß er noch gar nicht, was Katja herausgefunden hat. Du stiftest nur Verwirrung. Sprich morgen oder übermorgen mit ihm.«
»Wann soll ich es den anderen sagen?«, fragte er. »Sie müssen erfahren, dass ich aufhören will. Wir brauchen ein Treffen. Sofort, nicht erst nächsten Sonntag.«
»Du wartest bis zum nächsten Treffen«, entschied sie. »Atme bis dahin tief durch. Und vor allem kannst du alles noch einmal durchdenken. Schnellschüsse treffen nie.«
Er protestierte und merkte, wie sein Hochgefühl langsam nachließ. Er ging auf den schmalen Balkon, um zu rauchen. Vier Makedon später kehrte er mürrisch zurück.
»Abwarten. Überdenken. Kühlen Kopf bewahren. Ich muss jetzt etwas tun, Susi!«
»Geh in die Stallschreiber, und lass dir im Open House zwei Buletten mit Molle geben. Rede mit den Jungs, aber behalte diese Sache unbedingt für dich! Und komm erst zurück, wenn du dein Mütchen gekühlt hast.«
˚˚˚
Die Wilhelmstraße war das politische Zentrum der Hauptstadt. Hier hatten die Reichskanzlei, das Außenamt und verschiedene andere Ministerien ihren Sitz. Franz hatte die Gegend nie sonderlich gemocht. Ihn ödete das Regierungsviertel an, da es in der Straßenschlucht immer zugig war, die Bauten jeden Betrachter einschüchterten und er sich ohnehin kaum für Politik interessierte. Zu seiner Cliquenzeit waren die Burschen hier von den Polizisten mit Knüppeln fortgejagt worden, damit sie niemanden belästigten. Und die Menschen heute eilten hastig aneinander vorbei, schienen immer mit den Gedanken woanders, lächelten nie. Einzig das ehemalige Reichsschatzamt und jetzige Finanzministerium weckte seine Aufmerksamkeit. Eher seine Phantasie, in der er sich als der Berliner Ganove sah, der den wahren, großen, einzigartigen Bruch landete. Es hieß, dass in den Tresoren dort mindestens fünfzig Millionen Goldmark lagerten.
»Die Engländer und Franzosen bestehen auf Zahlung der Reparationen in Gold«, hatte er bereits vor Monaten seinem Bruder Erich vorgeschwärmt. Insgeheim malte er sich den Coup seines Lebens aus. »Es heißt, dass das Schatzamt alle drei Monate zweehundert Kilo mit eenem schwer bewachten Panzerzug nach Westen kutschieren lässt. Sie müssen dat Zeuch bis dahin inne Tresore lagern. Dat wär wat. Rin und absahnen.«
Er musste jetzt lächeln. So dicht lagen die Wirklichkeit und Träume manchmal beieinander. Natürlich würde er niemals zweihundert Kilogramm Gold stehlen. Schon gar nicht aus dem Schatzamt. Aber die zwei Millionen Mark aus der Botschaft lagen im Bereich des Möglichen. Gute Planung, gute Geräte, gute Männer.
Franz war an diesem Nachmittag auf dem Weg zum Ministerium für Volkswohlfahrt an der Leipziger Straße. Joachim Fischer hatte hier durch Zufall einen typischen Posten für Frühpensionäre ergattert. Seinem Hauptgewerbe ging er seit einiger Zeit nicht mehr nach. Da seine besten Freunde noch auf Jahre hinaus hinter schwedischen Gardinen saßen, er zudem nicht verheiratet war, hatte er zur Bekämpfung allzu großer Langeweile die Beschäftigung als Pförtner beim Amt angenommen.
»Da haben sie den Bock zum Gärtner gemacht«, meinte Franz, nachdem er seinen guten Bekannten in schnieker Uniform und Mütze kaum wiedererkannt hatte.
»Wie kommste darauf?«, erwiderte Fischer. »Bei der Wohlfahrt jibt’s doch nüscht zu holen. Und meene Finger blättern nur noch inne Zeitung. Dat andre is eh vorbei.«
Sie unterhielten sich ein wenig über alte Zeiten, bis sein Dienst beendet war und der Abendportier übernahm. Danach ging es mal wieder ins Aschinger an der Leipziger. Fischer hatte eine ungewöhnliche Leidenschaft für Molle mit Zitronentörtchen entwickelt, die Franz prompt jeglichen Appetit verdarb. In dem Stehrestaurant lag nachmittags das gesamte Spektrum des Berliner Publikums quasi unter einem Mikroskop. Immer noch kamen »Jediente« aus dem Weltkrieg in Uniform und hofften auf ein wenig Respekt. Kriegsversehrte bekamen außerdem einen Rabatt. Es gab hier bettelarme Zündholz- und Schnürsenkelverkäufer ebenso wie den ledigen, zu diskretem Wohlstand gekommen, älteren Herrn. Der eine nahm Löffelerbsen mit Schrippe von gestern. Zehn Pfennig. Der andere überlegte nach der ersten Wurst, ob es noch ein bisschen Käse und ein Likör sein durften. Alles für eine Mark fuffzig.
»Ich habe da vielleicht eine Sache, Joe«, begann Franz. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Zögerlichkeit und Euphorie, als er von seinem Plan berichtete, der genau betrachtet gar keiner war.
»Lass mal.« Fischer winkte ab. »Ich bin zufrieden. Und beim letzten Mal hatten wir eine Menge Glück. Hätte böse enden können. Die Welt dreht sich weiter. Ich bin auch nicht mehr ganz auf der Höhe.« Er spielte auf eine für ihn typische Weise mit den Fingern, dass einem Betrachter schwindlig werden konnte. »Eingerostet. Die Gelenke schmerzen morgens. Und die Penunze brauche ich nicht.«
»Darum geht es mir doch auch nicht!«, ereiferte sich Franz, obwohl sich im letzten Gespräch mit Livana Rosenbaum, deren Bankhaus mittlerweile seine Konten führte, ein ganz erheblicher Geldbedarf gezeigt hatte.
»Ick weeß, meen Juter«, sagte Fischer und legte ihm beinahe väterlich wissend die Hand auf die Schulter. »Dich hat es ooch erwischt, Franz. Bei mir ist das zwanzig Jahre her. Du kannst nicht mehr davon lassen. Ist wie mit dem Koks. Hast du einmal dran geleckt, kommst du nicht mehr davon los.«
Er ging zum Tresen und kehrte eine Minute später mit einem Apfelpfannkuchen zurück. Franz verging bei dem Anblick sogar der Appetit auf die recht süffige, hauseigene Aschinger-Molle.
»Das kühle Metall«, fuhr sein Freund kauend fort. »Du und der Schrank. Knackst du ihn, oder bricht er dich?«
Franz nickte und wirkte wie der sprichwörtliche, begossene Pudel. Schließlich lachte Fischer und schlug seinem jungen Freund auf die Schulter.
»Also jut. Weil du es bist, lasse ick mir die Sache mal durch den Kopf jehn. Du solltest dir erst mal einen Plan machen. Kannst den Aal nicht aufteilen, bevor du ihn nich jefangen hast.«