Eisenstein war nicht begeistert über die Vorladung aufs Präsidium. Er saß mit verschränkten Armen vor Konters Schreibtisch und sah aus, als schmollte ein kleiner Junge. Zwei Polizeibeamte hatten ihn in seiner Wohnung am Pariser Platz aufgesucht, die Vorladung ausgehändigt und sofort aufs Präsidium verfrachtet.

»Ich werde mich bei der Botschaft beschweren«, waren seine ersten Worte gewesen, als man ihn in Konters Dienstzimmer schob.

»Bitte, es steht Ihnen natürlich frei, dies zu tun«, murmelte der Kommissar gelassen. »Sie haben sich meiner Anordnung zum wiederholten Mal widersetzt.«

»So?« Der Russe lächelte grimmig. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie sollten sich Anfang des Jahres bei mir melden, nachdem Sie aus Moskau zurückgekehrt waren. Zudem haben Sie mir über Ihren Freund und Genossen Bobrow nicht alles erzählt.«

»Vielleicht habe ich Sie missverstanden? Mein Deutsch ist nicht so hervorragend, wie es scheint. Natürlich würde ich den deutschen Behörden niemals Informationen vorenthalten oder Anweisungen missachten. Nikolai Nikolajewitsch wird sicherlich nicht erfreut darüber sein, dass sowjetische Staatsangehörige in der Hauptstadt drangsaliert werden.«

»Der Herr Botschafter wird vor allem neugierig sein, zu erfahren, dass Sie und Bobrow eindeutig auf der falschen Seite stehen«, erwiderte Konter und genoss den Moment. »In Wirklichkeit war Bobrow gekommen, um für Trotzki zu agitieren. Die Warnung, die er überbringen sollte, war nur ein Vorwand. Er sollte Unterstützer rekrutieren. Und Sie wussten davon! Deshalb haben Sie die Warnung auch nicht sonderlich ernst genommen. Wenn wir diese Informationen öffentlich machen, wird wohl auch ein bisschen Schmutz an Ihnen hängen bleiben.«

Der Kripobeamte zog den Phonographen auf, der auf seinem Schreibtisch stand und den sein Assistent erneut zusammengebaut hatte. Kurz darauf waren wieder Lenins Worte zu hören. Zunächst schien es, als wollte Eisenstein protestieren, aber dann wurde er blass.

»Wladimir Iljitsch.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Wir wissen jetzt, dass Ihr Genosse Bobrow Sie zwar auf Weisung Stalins und Dserschinskis unter Druck setzen sollte. Stattdessen hat er seine Botschaft halbherzig formuliert und versucht, Sie mit ins Boot zu holen, nicht wahr? Schließlich kannten sich Ihre Familien aus der Zeit im Baltikum. Und Bobrow hatte zwei mächtige Verbündete dabei. Lenins Testament und die Diamanten. Er sollte über De Beers Kapital besorgen, das man dann zum Sturz Stalins einsetzen wollte.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Diese Aufnahme könnte eine geschickte Fälschung sein. Und von Diamanten weiß ich nichts.«

»Tatsächlich? Sicherlich sagen Ihnen die Namen Kutisker und Parvus etwas?«, fragte Konter.

Er hatte Eisenstein da, wo er ihn haben wollte. Der Mann saß mit halb geöffnetem Mund da und starrte ihn fassungslos an. Manchmal, wie in diesem Fall, genoss er solche Momente. Der Regisseur trat zu großspurig auf, um jetzt sein Mitleid zu verdienen.

»Ich könnte derjenige sein, der Ihrem Botschafter Nikolai Nikolajewitsch ein paar Dinge steckt, Herr Eisenstein.« Vernehmungen konnten ähnlich unbarmherzig sein wie die Schlachten im Krieg. »Und Sie wären dann in Erklärungsnot. Wie Sie zweifelsohne bemerkt haben, würde Sie der Umstand, dass Sie hier in Deutschland sind, nicht vor Stalins unbarmherziger Rache schützen.«

»Nun gut. Was wollen Sie wissen, Herr Kommissar?« Eisenstein hob trotzig das Kinn. Er gehörte offenbar nicht zu den Menschen, die sich wanden, die winselten und Ausflüchte suchten. Er wusste, wann er verloren hatte.

»Ich brauche Namen. Wer unterstützt Trotzki in Deutschland? Wo stehen die deutschen Kommunisten? Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck, Clara Zetkin. Gibt es immer noch eine Deutsche Tscheka? Wer verrät Dserschinskis Agenten, wo die Gelder der Emigranten versteckt sind? Wie viele Leute hat er in Berlin? Wer profitiert bei uns im Reich von den Machenschaften um das Rote Erbe

»Ich bin Filmemacher, kein Spion«, erwiderte Eisenstein. »Aber ich erzähle Ihnen, was ich weiß.«

»Kannten Sie Kutisker persönlich?«

»Er und mein Vater haben in Riga Geschäftsbeziehungen unterhalten. Als junger Mann habe ich Kutisker ein paarmal gesehen, aber wir hatten nie persönlichen Kontakt.«

»Was ist mit Alexander Parvus?«

»Parvus.« Der Russe rieb sich das Kinn. Und Konter hatte das erste Mal in diesem Gespräch den Eindruck, dass er genau überlegen musste, was er jetzt sagte. »Er war ein Mann, der sich nicht entscheiden konnte.«

»Inwiefern?«

»Er liebte das Geld und predigte die Revolution. Genosse Wladimir Iljitsch nannte solche Männer einmal die nützlichen Idioten. Sie werden gebraucht in der Übergangsphase, bis sich die Revolution gefestigt hat. Danach sind sie entbehrlich.«

»Wurde er von Ihrer Geheimpolizei beseitigt?«

»Woher soll ich das wissen? Ich bin Filmemacher, kein Politiker. Es heißt doch, er wäre an einem Herzleiden verstorben, nicht wahr?«

»Unsere Politische Abteilung hat herausgefunden, dass Parvus den russischen Revolutionären erhebliche Geldmittel zur Verfügung gestellt hat.«

»Anfangs sogar mit Unterstützung des kaiserlichen Schatzamts.« Der Regisseur lachte.

»Natürlich«, fuhr Konter fort. »Die Heeresleitung dachte, dass ein instabiles Russland als Gegner leicht zu besiegen wäre. Parvus wurde jedoch später zu einem Ärgernis für Ihre Leute. Er war Verfechter dieses Traums von einer weltweiten Revolution. Gleich nach Russland sollten alle anderen Länder folgen.«

»Sie sehen, Herr Kommissar. Deutschland hätte ebenfalls gute Gründe gehabt, den Mann loszuwerden. Vielleicht waren es ja Ihre Leute, die ihn auf dem Gewissen haben?«

»Stalin will die Revolution zunächst auf Russland beschränken.«

»Auf die Sowjetunion, ja.«

»Aber es gibt Gegner dieser Linie in Ihrem Land.«

»Leo Trotzki und seine Anhänger. Vielleicht Kamenew und Sinowjew. Aber diese Männer verlieren an Einfluss.«

»Stalin braucht für seine Vorhaben eine Menge Geld.«

»Natürlich. Der Aufbau des Sozialismus in einer Umgebung kapitalistischer Länder erfordert es, sich zeitweilig im Handel dem Diktat des Kapitalismus zu beugen. Zum Besten der sowjetischen Union.«

»Was wissen Sie über das Vermögen der geflohenen Adelsfamilien, der Bojaren und Kulaken? Es wäre doch verlockend für Stalin, da heranzukommen.«

Sergej Eisenstein schwieg. Er nahm ein silbernes Etui heraus und legte es demonstrativ auf den Schreibtisch. Konter erkannte darauf ein aufwändig verziertes Wappen und die Jahreszahl 1687. Das Ding musste ein Vermögen wert sein. Der Russe ließ seinen Zeigefinger über das kleine Kunstwerk gleiten.

»Zarenkrone, das Geschmeide der Kaiserin, die Werke Fabergés, alles gehört den Sowjets, Herr Kommissar. Wir sind die Nachfolger des alten Russlands.«

Spätestens nach dieser Bemerkung war Konter sicher, dass Eisenstein von der wahren Bedeutung des Roten Erbes wusste. Fast schien es ihm in diesem Moment, als wollte ihm der Mann mit dieser Geste etwas sagen, ohne es auszusprechen.

»Ihr Vater ist vom Zaren in den Adelsstand erhoben worden«, meinte Konter. »Wie kommt es, dass Sie dann so gut gelitten sind bei den Bolschewisten?«

»Kleiner Amtsadel, nichts Besonderes.«

»Keine Spielchen, Herr Eisenstein!«

»Ich habe den Verantwortlichen in Moskau meine Treue zur revolutionären Sache bewiesen, indem ich Ihnen die Geschäftsbücher meines Vaters ausgehändigt habe.«

»In denen die Namen vieler wohlhabender Familien zu finden waren, nicht wahr? Vor allem aber gaben sie Aufschluss über den Verbleib ihrer Vermögen.« Konter konnte seinen Widerwillen nur schwer verbergen. Der Regisseur hatte sein Leben wahrscheinlich durch den Verrat an seinen Landsleuten erkauft.

»Es waren Familien, die die Konterrevolution unterstützten. Sie hatten dadurch ihr Recht auf Leben verwirkt.«

»Was hat Bobrow von Ihnen wirklich gewollt? Was hat er Ihnen angeboten?«, fragte er. »Für wen hat Ihr Bekannter gearbeitet?«

»Er hat vorgeschlagen, dass ich nach Moskau zurückkehre und mich dort mit einigen Genossen treffe, die mich gern in ihren Reihen sähen.«

»Trotzki?«

»Unter anderem.«

»Sind Sie seiner Bitte gefolgt?«

»Natürlich nicht! Und nachdem ich dann erfahren hatte, was mit ihm geschehen war, wäre jede Abweichung vom Protokoll doch glatter Selbstmord gewesen.«

»Auf welcher Seite stehen Sie?«, fragte Konter.

»Ich bin Revolutionär, Herr Konter. Ich glaube, dass Menschen es verdient haben, in den Genuss der Früchte ihrer Arbeit zu kommen. Was Marx den Mehrwert nannte, muss den Kapitalisten entrissen werden, damit der arbeitende Mensch ein besseres Leben führen kann. Dabei fließt notgedrungen Blut. Das Blut derer, die sich wehren gegen eine gerechtere Welt. Ich bin nur ein Geschichtenerzähler, der die neuen Möglichkeiten des Fortschritts nutzt. Meine Filme erklären den Menschen, die weder lesen noch schreiben können, ihre natürlichen Rechte. Ich drücke in Bildern aus, was sie fühlen dürfen. Denn wahre Freiheit wird im Herzen geboren, Herr Kommissar. Und zu Ihrer Frage: Ich maße mir nicht an, zu urteilen, welche Seite, wie Sie es nennen, die bessere ist. Ich bin Künstler und stelle mich in den Dienst einer höheren Sache.«

Nett ausgedrückt. Du hängst also deine Fahne in den Wind, der aus der Richtung der Sieger bläst, dachte Konter.

Als ihm sein Gast eine Papirossa aus dem Silberetui anbot, lehnte Konter angewidert ab. Ihm wurde von dem starken Veilchentabak übel. Allerdings wollte er sich keine Blöße geben und ertrug es, dass Eisenstein nun den ekelhaften Machorka-Rauch in den Raum blies. Er wusste, dass er nichts gegen den Mann in der Hand hatte. Er war Visionär, dabei gleichzeitig Illusionist und Opportunist. Beides entsprach nicht Konters Vorstellungswelt. In seinem eigenen Denken gab es eine innere Instanz, die zu entscheiden hatte, was man für richtig oder falsch hielt. Konter glaubte an die Verantwortung des Menschen, sich irgendwann entscheiden zu müssen, und an die Pflicht, zu wichtigen Fragen des Lebens Stellung zu beziehen. Es waren Ordnungsprinzipien, denen sich Künstler wie Eisenstein aus Prinzip zu widersetzen schienen. Vielleicht rührte daher Konters innere Abneigung gegen diese Filmleute.

»Entweder kommen wir nicht weiter, oder wir sind hier fertig«, meinte Eisenstein, nachdem er seine Zigarette ausgedrückt hatte. »In beiden Fällen scheint mir meine Anwesenheit nicht mehr erforderlich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob er sich. Konter nickte nur stumm und winkte in Richtung Tür.

Es dauerte kaum drei Stunden, als der erwartete Anruf kam. Gennat persönlich zitierte ihn zu sich. Das Gewitter zog rasend schnell über Paul Konter auf. Kaum fünf Minuten später stand er, wie gefordert, im weitläufigen Dienstraum seines Chefs.

»Sind Sie verrückt geworden, Kollege Konter?« Wenn er ihn mit dem Nachnamen anredete, war Gefahr in Verzug. »Wenn es Sie in den vorzeitigen Ruhestand zieht, dann hätten Sie mir nur Bescheid geben müssen. Wir hätten diesem Wunsch mit sehr viel weniger Ärger entsprochen!«

»Wir können uns nicht alles bieten lassen, Chef.« Konter sah das Beben im Körper des Kolosses und korrigierte sich. »Herr Gennat. Der Kerl ist im Mordfall Bobrow zwar nicht selbst verdächtig, hat uns jedoch lange Zeit wichtige Fakten verschwiegen.«

»Diesen Tscheka-Mist können Sie Hugenbergs Schmierfinken in die Feder diktieren, Herr Konter!«

»Nach unseren Informationen haben sich in den letzten Monaten drei Komplizen von Woldemar Rose in die Sowjetunion abgesetzt. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sich unter diesen Männern Bobrows Mörder befindet.«

»Ein ungelöster Fall ist wie eine Fischgräte, die im Hals stecken bleibt«, knurrte Gennat.

»Ich habe noch einen wichtigen Zeugen, dessen Aussage wohl nicht zu einer Verhaftung führen wird, aber den Fall zu einem gelösten Fall machen könnte.«

»Erst ruft Bürgermeister Böß an, kurz danach der Polizeipräsident. Mensch, Paul, ich stehe für Sie im Regen. Ich wusste nichts davon, dass Sie Eisenstein vorladen! So etwas darf nicht noch einmal geschehen. Sie sind mein bester Mann. Unaufgeregt, ohne krankhaften Ehrgeiz und mit Grips. Aber ein Lapsus dieser Art kann Sie die Stellung kosten. Ab nach Brandenburg in eine Landgendarmerie. Wollen Sie das?«

Konter schüttelte den Kopf. Er konnte mit der Zurechtweisung leben. Mein bester Mann hatte Gennat gesagt. Er blieb noch einige Minuten, ertrug die Klagen seines Vorgesetzten über die Fallstricke der Politik und machte schließlich seinen Kotau, bevor er sich – wider Erwarten gut gelaunt – verabschiedete.

˚˚˚

Die Empfänge der Russen begannen Katja zu langweilen. Hinzu kam die Abneigung gegen die Schwärmerei, mit der diese Salonrevolutionäre über die Ereignisse vor zehn Jahren sprachen. Es war immer das Gleiche: Legte sich der erste Hauch des Vergessens über Tod und Elend, dann strickten die übrig Gebliebenen – und die Sieger – munter ihre Legenden. In seltsamer Eintracht fanden an diesen Abenden die Offiziere der stockkonservativen Reichswehr und der Roten Arbeiterarmee zueinander. Man soff und prahlte gemeinsam. Katja wusste, dass die Geschäfte der Waffenhändler florierten. Die Sowjetunion kaufte Waffen, die das Reich herstellte, aber nicht besitzen durfte. Es hieß, dass es direkt an der Grenze zu Ostpreußen Bunkeranlagen auf weißrussischem Boden gab, die schnell von deutscher Seite aus erreicht werden konnten. Und darin lagerte angeblich Kriegsmaterial, um im Notfall dreihunderttausend Mann zu bewaffnen. Gegen den Vertrag von Rapallo zwischen den beiden geächteten Staaten waren die westlichen Sieger Sturm gelaufen. Und nun würde es bald eine Neuauflage, den Berliner Vertrag, geben, der eine, wenn auch brüchige, Freundschaft sichern sollte.

»Es freut mich, dass Sie meiner Einladung ein weiteres Mal gefolgt sind, Jekaterina«, sagte Jewgeni Gnedin. »Ich verspreche, dass dieser Abend einiges Interessante für Sie bereithält.«

Katja wurde nicht recht schlau aus ihm. Er hätte sich als Erbe eines reichen Mannes in Wien, London oder Mailand ein angenehmes Leben machen können. Stattdessen hatte er es vorgezogen, das Vermögen aufzugeben, den Vater mehr oder weniger postum zu verraten und auf eine Karriere im neuen Russland zu hoffen. War er bedroht worden? Oder war er einfach nur ein verblendeter Narr? Nachdem er bei ihrem ersten Treffen recht offen über seine Gefühle gesprochen hatte, zeigte er sich in der Folgezeit eher reserviert.

»Erzählen Sie bitte von sich, Jekaterina«, bat Gnedin jetzt. »Wie ich hörte, stammt Ihre Familie aus Piter?« Er setzte eine verschwörerische Miene auf und flüsterte: »Unter uns gesagt, mir persönlich gefällt die Umbenennung der Stadt in Leningrad überhaupt nicht. Obwohl ich ein großer Verehrer von Wladimir Iljitsch bin.«

»Meine Familie kam bei den Kämpfen um Sankt Petersburg um«, antwortete Katja kühl. »Die Truppen Ihres verehrten Wladimir Iljitsch waren wenig rücksichtsvoll.«

»Es tut mir aufrichtig leid, was Ihnen und Ihren Angehörigen zugestoßen ist.« Der Mann deutete eine Verbeugung an. »Leider sind alle Revolutionen blutig. Und es ist oft das Blut Unschuldiger, das fließt.«

»Waren Sie dabei, Herr Attaché?«

»Erst im Bürgerkrieg danach. Als die Konterrevolutionäre versuchten, uns die Errungenschaften wieder zu nehmen.« Er nahm ihre Hand. »Und bitte, nennen Sie mich doch wieder Jewgeni!«

»Immerhin können Sie dann erahnen, wie grausam dieses Ringen war. Es will sich mir nicht erschließen, dass Menschen glauben, etwas Gutes durch Gewalt aufbauen zu können. Ich kann nicht begreifen, warum Kinderschädel dafür eingeschlagen werden müssen. Warum alten Männern die Hände abgehackt werden. Warum man Frauen nach dutzendfacher Schändung den Bauch aufschlitzte. Ihre Oktoberrevolution war ganz gewiss rot. Ich habe es gesehen, Jewgeni. Ich habe es gesehen!«

»Glauben Sie mir, ich missbillige solche Ausschreitungen. Vielleicht mag ich Sie überzeugen, dass es in unserem Land dennoch weiterhin Kultur gibt.«

In unserem Land. Katja verspürte einen Stich. Ja, es war auch ihr Land, ihre Heimat. Viele Jahre hatte sie damit zugebracht, es zu verleugnen. Russland war von jeher eine Krankheit. Die einen entweder befiel oder verschonte. Eine Krankheit ohne Aussicht auf Heilung. Eine Infektion, die ins Herz stach, die eine unerträgliche Sehnsucht einpflanzte, die nur die Weite, der Wind, die Wälder, der Schnee ein wenig lindern konnten. Und sie, Katja, war diesem Sehnen seit frühester Kindheit verfallen. Je mehr sie dagegen ankämpfte, desto mehr ergriff es von ihr Besitz.

»Um Mitternacht wird es im Zarensalon ein Konzert geben. Tschaikowsky, Opus 23 in b‑Moll, der Kopfsatz. Nur für geladene Gäste. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich dorthin begleiten.« Gnedin verneigte sich galant.

»Bis Mitternacht sind es noch zwei Stunden! Bis dahin sind alle Männer betrunken.« Katja erinnerte sich mit Grausen an die letzten beiden Empfänge, die in Gelage ausgeartet waren. Sie hatte dem Drängen Konters nachgegeben, noch mehr über die Verhältnisse in der Botschaft herauszufinden.

»Ich bitte Sie, Jekaterina. Im Herzen mögen wir zwar Arbeiter und Bauern sein, aber die wirklich wichtigen Männer wissen sich zu benehmen. Und die Kunst ist eine Sprache, die überall auf der Welt verstanden wird.«

»Dann erlösen Sie mich von diesem langweiligen Tratsch und dem politischen Geschwafel.« Katja erkannte ihre Chance. »Führen Sie mich doch ein wenig durch das Gebäude. Es hat ein so herrlich altes Flair und passt irgendwie gar nicht zu Ihren geliebten Arbeitern und Bauern. Oder bauen Sie in den oberen Etagen Kartoffeln an?«

Gnedin lachte und bot Katja seinen Arm an. Das ehemalige Palais Kurland war in seinen Ursprüngen beinahe zweihundert Jahre alt und mehrmals umgebaut worden. Außen hatte es die typische Anmutung des Spätbarock und konnte auch innen seine Rokoko-Verspieltheit nicht leugnen. Die Räume waren groß und einzelne Bereiche oft durch kunstvolle Decken- oder Wandelemente voneinander getrennt. Obwohl die Kommunisten notorisch knapp bei Kasse waren und alles zu Geld machten, was nicht festgenagelt war, hatte wohl ein weitsichtiger Genosse dieses Haus davor bewahrt, seiner Schätze beraubt zu werden. Katjas Vater war als mittlerer Beamter am Zarenhof in Sankt Petersburg tätig gewesen. Als junges Mädchen hatte er sie manchmal auch zum Schloss Peterhof mitgenommen, das nahe der Hauptstadt am Meer lag. Der Prunk hatte Katja derart überwältigt, dass sie nächtelang nicht schlafen konnte. Vor drei Jahren war dann, nicht nur zu ihrem Entsetzen, bei einer Berliner Auktion das komplette Schlafzimmer Zar Peters des Großen versteigert worden. Gerüchten zufolge war der Erlös in Höhe von lächerlichen fünftausend Dollar sofort nach Moskau überwiesen worden.

»Alles an seinem Platz«, sagte der Diplomat, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Mein Vater hat noch persönlich dafür gesorgt, dass die Liegenschaft nicht angetastet wurde.«

»Ihnen hat die Revolution ebenfalls einen geliebten Menschen genommen, Jewgeni«, meinte Katja. »Wenn auch erst ein paar Jahre später.«

»Es mag sich ungebührlich anhören, aber manchmal denke ich, dass es für ihn ein Segen war. Er war seit langer Zeit mit der Welt um sich herum nicht mehr zurechtgekommen.«

»Ja, es ist ungebührlich.« Katja sprach sehr leise, funkelte ihn jedoch an. »Wie können Sie mit der Vermutung leben, dass die Menschen, für die Sie arbeiten, den Tod Ihres Vaters zu verantworten haben.«

»Er war Unternehmer, ein Kapitalist«, erwiderte Gnedin ausweichend. »Und er war zugleich ein revolutionärer Denker. Er ist mit Lenin und Gorki nach Capri gereist. Wussten Sie das? Er studierte die Schriften von Feuerbach, Marx und Engels, aber auch das Werk von Bakunin. Er kannte die handfesten Probleme, die eine Revolution mit sich bringt, die Kompromisse, die eingegangen werden müssen, die politischen Verirrungen. Die jetzige Entwicklung hätte ihn enttäuscht.« Gnedin blickte gedankenverloren aus dem Fenster auf die Laternen Unter den Linden, deren Licht sich in den Pfützen der Straßen und Gehwege spiegelte. Plötzlich griff er nach Katjas Arm und drückte ungewöhnlich heftig zu. »Ich werde Ihnen helfen, Jekaterina. Aber bitte bedrängen Sie mich nicht weiter. Sie haben Ihren Schmerz, ich den meinigen. Mit meiner Schuld werde ich leben müssen, egal was wir hier bereden!«

»Ihr Vater kannte Iwan Kutisker und die Familien Eisenstein und Bobrow«, flüsterte Katja. »Gibt es noch Aufzeichnungen von ihm?«

»Ich habe nach einer Befragung durch Felix Dserschinski alle Unterlagen meines Vaters an das Innenministerium übergeben.« Gnedin schüttelte den Kopf. »Und ich selbst war nicht in seine Geschäfte eingeweiht. Zu jener Zeit war ich noch ein Knabe.«

»Deshalb ist Kutiskers Buchhalter so wichtig, Jewgeni! Sie müssen uns helfen, ihn zu befreien.«

»Wie stellen Sie sich das vor, Jekaterina?« Gnedin blickte sich immer wieder um. »Wir können hier nicht sprechen. Folgen Sie mir in ein Zimmer. Dann wird es aussehen, als ob wir beide …«

Katja folgte ihm in den zweiten Stock. Angewidert musste sie feststellen, dass es für solche amourösen Anlässe offenbar mehrere, vorbereitete Räume gab. Zwei waren verschlossen, zwei sichtbar benutzt, aber schließlich fanden sie, wonach sie gesucht hatten.

»Harry Kessler hat mich gebeten, Sie zu unterstützen«, sagte der Attaché, nachdem er die Tür verschlossen hatte. »Aber ich werde das Andenken an meinen Vater nicht beschmutzen, indem ich mich selbst in konterrevolutionäre Machenschaften hineinziehen lasse. Sie erhalten Informationen von mir, danach trennen sich unsere Wege.«

Katja schien es, als wäre der junge Mann vor ihr innerlich vollkommen zerrissen. Wieder einmal fraß die Revolution ihre Kinder. Gnedin war offenbar wie sein Vater ein glühender Verehrer Lenins. Den jedoch die Realität eingeholt hatte. Dem das brutale Spiel der Mächtigen ein Brandeisen ins Herz gedrückt hatte. Gnedin zog ein Stück Papier aus seiner Uniformjacke.

»Ich habe versucht, die Lage der Kellerräume aufzuzeichnen«, sagte er. »Ich kenne dort unten nicht alles. Also ist es nur eine grobe Skizze. In der ersten Etage gibt es viele Räume, die normal genutzt werden. Sie sind vom Küchentrakt aus unauffällig zu erreichen. Im zweiten Untergeschoss liegt die Zentrale der Berliner GPU

»Ist sie dauerhaft besetzt?«

»Tagsüber von sieben bis fünf Uhr. Abends und nachts gibt es zur vollen Stunde Wachgänge.«

»Wo befindet sich das Geld?«, fragte Katja. »Und wo wird Annuscheit gefangen gehalten?«

»Ich kann es nicht genau sagen.« Gnedin zeigte auf den Grundriss und tippte nacheinander auf zwei Bereiche. »Vielleicht hier. Aber ich bin mir nicht sicher.«

»Wir werden die Zeit bis zum Mitternachtskonzert nutzen«, meinte Katja. »Sie zeigen mir unauffällig die öffentlich zugänglichen Zimmer und Salons.« Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Und wenn wir uns den heiklen Bereichen nähern, tun wir verliebt und turteln herum, als suchten wir ein Plätzchen für uns. Einverstanden?«

Gnedin nickte und forderte sie auf, die von ihm angefertigte Skizze zu kopieren. Dann nahm er ein Zündholz und verbrannte seine Zeichnung.

»Ich werde alles leugnen. Für den Fall, dass …«

»Sie tun das Richtige, Jewgeni«, versicherte Katja und küsste ihn auf die Wange. »Sie verraten nicht Ihre Sache. Sie üben lediglich Vergeltung an Männern, die Ihrer Familie Leid zugefügt haben.« Sie nahm seine Hand und blickte ihm fest in die Augen. »Unseren Familien.«

˚˚˚

Viele Bereiche in den oberen Etagen der Botschaft waren als Privaträume unzugänglich. Nicht von ungefähr hatten die Gebäude der ersten Gesandtschaften, die die Staaten vor hundert Jahren in den Hauptstädten eröffnet hatten, den Namen Hotel getragen. Anfangs gab es Abgesandte, die mit unzähligen Sekretären und ihren Haushalten hier lediglich Logis bezogen. Die Absprachen der Politik wurden noch direkt mit den Herrschern oder deren Kabinett getroffen. Hinzu kam hier in Berlin noch eine riesige Unterkunft für die Zarenfamilie, die mit dem preußischen Königshaus verwandt war und sich oft inkognito zu Besuch in der Stadt aufhielt. Der erste Stock umfasste auch jetzt vornehmlich Privaträume des Botschafters, mehrerer Offiziere und höherer Beamter. Darüber lagen die Zimmer niederer Bediensteter und die Amtsstuben, in denen geschrieben, getippt und telefoniert wurde. Eine Ausnahme bildete ein weitläufiger Saal im zweiten Obergeschoss, in dem offenbar die Vorbereitungen für das Privatkonzert in vollem Gang waren.

»Der Salon de la Détente«, erklärte Gnedin, der Katja wie vereinbart herumführte. »Hier gab sich die Zarenfamilie der Entspannung hin. Musik, Literatur und Theaterspiel zur Erbauung. Wie Sie sehen, meine Teure, brechen wir nicht mit allen Traditionen.«

Katja war – was selten vorkam – einen Moment lang sprachlos. Die gesamte Botschaft wirkte prunkvoll, aber dieser Salon war atemberaubend schön. Er hatte die Form einer Muschelschale, deren stilisierte, feine Rippen sich in Stuck gefasst über Decke und Wände von einer kleinen Bühne in den Zuschauerbereich zogen. Sie waren aufwändig bemalt, so dass es den Betrachtern schien, als wanderten sie durch eine lebendige Landschaft, wenn sie sich im Raum bewegten. Goldfarbenes Parkett aus Mooreiche erdete zwar den Eindruck, die helle Vertäfelung aus Libanon-Zeder hingegen schien den Blick wieder ins Helle emporzutragen.

»Herrje, meine Liebe. Trotz all unserer Bemühungen, die Zeit totzuschlagen, ist es nicht einmal elf.« Gnedin hatte seine Taschenuhr hervorgeholt. Er sprach bewusst laut, damit die Umgebung sie für ein angehendes Paar hielt. »Vielleicht noch Champagner? Und der in Limonenwodka eingelegte Beluga-Kaviar soll vorzüglich sein. Zudem muss ich mich zeigen, sonst wird der Botschafter mir eine Strafpredigt halten.«

Oben und unten, dachte Katja. Arm und reich. Die einen fressen Würmer, die anderen löffeln Fischeier. Bei euch wird sich gar nichts ändern. Marx hin oder her. Sie schwieg und tat, als wäre sie weiterhin an den Verzierungen und edlen Möbeln interessiert. Nachdem beide wieder im Empfangssaal des Erdgeschosses angekommen waren, entschuldigte sie sich bei ihm, und er nickte unmerklich. Sie war entschlossen, ihre Erkundung auf eigene Faust fortzusetzen. Sie musste den Keller erkunden. Würde man sie dort allein erwischen, konnte sie versuchen, sich herauszureden. Aber Gnedin hatte erklärt, dass es für die Botschaftsangehörigen eine strikte Dienstanweisung gab, den Bereich zu meiden.

Katja griff sich ein Champagnerglas und leerte es nur zur Hälfte. Im Fall der Fälle konnte sie den Rest im Raum verteilen und die angetrunkene Mätresse eines Diplomaten spielen, die sich verlaufen hatte, als ihr plötzlich übel wurde. Die größte Dummheit der Männer bestand schließlich darin, dass sie Frauen grundsätzlich für einfältig hielten. Wie viele in vielerlei Hinsicht betrogene und gehörnte Ehemänner mochte es wohl geben, die bis ins Grab hinein fest überzeugt blieben, sie wären ihrer Frau überlegen gewesen?

Der Zugang zum Keller war leicht zu finden, aber hier standen zwei kräftige Burschen in Livree, die sie abschätzig betrachteten und sicher verhindern würden, dass Katja einen neugierigen Blick riskieren konnte. Sie vermutete, dass es sich um schlecht getarnte Mitarbeiter der GPU handelte. Aber sie erinnerte sich an Gnedins Bemerkung, dass die Untergeschosse vom Küchenbereich aus erreichbar waren. Das Palais hatte sich schließlich anfangs in Besitz der Schwester Friedrichs des Großen befunden. Und eine Prinzessin hatte Dienerschaft, Küchenpersonal und Gärtner, die sich bestimmt nicht an den erlauchten Gästen vorbeigedrängelt hatten, um auf der Suche nach einer Flasche Wein, einem Sack Mehl oder einem alten Spaten den Hauptkellergang zu nutzen. Der Küchentrakt der Botschaft befand sich in einem hinteren Anbau. Der Pomp in den Räumen und Gängen sank mit jedem Meter, den sich Katja dem Wirkungskreis des einfachen Gesindes näherte. Mehrmals wurde sie angesprochen, aber sie murmelte ein paar Brocken Englisch vor sich hin, die hier niemand verstand. Dazu lächelte sie debil und fand auf diese Weise tatsächlich den Weg zu einem hinteren Treppenhaus. Die Angestellten konnten so unbemerkt alle Etagen erreichen. Die sprichwörtlich guten Geister wollte eben niemand zu Gesicht bekommen. In einem unbeobachteten Moment verschwand Katja hinter der einfachen Tür und nahm sofort die Treppe nach unten. Natürlich gab es auch in diesen Kellergängen bereits elektrisches Licht, allerdings eher schwach, so, dass sie die Glühfäden in den Lampen erkennen konnte. Katja hatte sich die Zeichnung, die Gnedin ihr gezeigt hatte, gut eingeprägt. Auf der Flucht aus ihrer Heimatstadt hatte ihr der gute Orientierungssinn mehr als einmal das Leben gerettet. Der Keller wurde durch einen Hauptgang in zwei Teile geteilt. Und kleinere Gänge führten wiederum in mehrere Unterbereiche. In der Nähe des Wirtschaftstrakts befanden sich unterirdisch die Lager für Putzmittel, Werkzeug, Küchengerät. Und der Weinkeller. Ein Raum war zusätzlich durch Eisendraht vor Nagern gesichert. Hier mussten einige Vorräte untergebracht sein, vielleicht Kartoffeln oder Obst. Katja ließ diesen Teil des Kellers zügig hinter sich. In der Mitte des Hauptgangs erreichte sie den Treppenaufgang. Oben mussten die beiden als Diener gekleideten Wachposten stehen, vermutete sie. Sie wollte dem Kellergang folgen, der gegenüber der Seite lag, aus der sie gekommen war, entschied sich dann jedoch dagegen. Alles deutete darauf hin, dass hier wieder nur Lager- und Vorratsräume zu finden waren. Von oben waren gedämpft die Stimmen von Gästen zu hören. Eine weitere Treppe führte nach unten ins Dunkel. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, musste sich beinahe vortasten. Immerhin lief sie nicht Gefahr, hier entdeckt zu werden. Unten angekommen, wäre sie fast gegen eine Stahltür gestoßen. Mehr tastend als sehend erkannte sie schnell, dass ihr Erkundungsgang hier zu Ende war. Außen war nur ein schmuckloser Rundknauf angebracht, natürlich nicht drehbar. Und das Schloss hatte einen modernen Schließzylinder. Katja hatte bereits mehr gewagt als geplant und ging vorsichtig die Stufen hinauf. Plötzlich erschrak sie, als sie von oben ein lautes Rufen hörte.

»Dmitrij verpisst sich jedes Mal, wenn er die große Runde machen soll«, beschwerte sich ein Unbekannter auf Russisch. »Immer bleibt der Scheiß dann bei mir hängen.«

»Verdammt, beweg endlich deinen Hintern, Genosse Alexej! Sonst mache ich Meldung. Kannst auch Kulaken jagen in der Oblast Rjasan.«

Undeutlicher Protest war zu hören, dann kamen schwere Schritte die obere Kellertreppe herunter. Katja saß in der Falle.

˚˚˚

Sie nahm das Stimmgewirr um sich herum sehr wohl wahr. Jedoch erforderte es die Rolle der Bewusstlosen, dass sie nicht auf gutes Zureden reagierte. Erst die altmodische Methode des Riechsalzes, das eine ältere Matrone bei sich getragen hatte, schien Katjas Lebensgeister wieder zu wecken.

»Wo bin ich?«, fragte sie verwundert und verdrehte die Augen, kaum dass sie sie aufgeschlagen hatte.

Sie hatte eine solche Szene in einem Film mit Ruldolph Valentino gesehen, und auch ihre bescheidene, bei der Ufa erworbene Schauspielerfahrung half, die Szene glaubhaft zu machen. Jener Wachposten Alexej, der eher lustlos seinen Rundgang begonnen hatte, war ihr – vermeintlicher – Retter gewesen. Geistesgegenwärtig hatte sich Katja, noch bevor sie entdeckt worden war, mehrere kräftige Ohrfeigen auf die linke Wange verpasst, die jetzt immer noch rot vor sich hin glühte. Dann hatte sie die oberen Knöpfe ihres Kostüms aufgerissen und das Haar durcheinandergebracht. Schließlich war sie am oberen Treppenabsatz zusammengesunken, wo Alexej sie kurz darauf gefunden hatte.

»Unglaublich«, schimpfte die Matrone und hielt Katja das Riechsalz erneut unter die Nase. »Eine Dame ist in diesem Hause nicht sicher! Barbaren! Wäre der eine Unhold nicht durch den anderen vertrieben worden, diese junge Frau wäre der Schändung anheimgefallen! Une scéne incroyable et scandaleuse! Pfui.«

Niemand schien auf die Idee zu kommen, dass sich Katja im Kellerbereich umgesehen haben könnte. Niemand außer Gnedin, denn als sie sich scheinbar etwas von dem Schrecken erholt hatte, warf er ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Wir müssen reden«, meinte er, als sie auf einem Stuhl saß und reichlich hysterisch mit einem Fächer wedelte.

Offenbar war die Botschaft eine Art rechtsfreier Raum, denn der Vorschlag, man sollte die deutsche Polizei verständigen, da es sich vielleicht um ein nur zufällig vereiteltes Gewaltverbrechen handeln könnte, fand keinerlei Beachtung. Stattdessen wurde Katja recht rüde durch einen älteren Major befragt, der für die Sicherheit der Botschaftsangehörigen und aller Gäste verantwortlich zu sein schien. Sie betete eine Geschichte herunter, die sie sich in den Minuten ihrer gespielten Bewusstlosigkeit ausgedacht hatte. Und nach dieser Vernehmung war sie für die Wachoffiziere nur ein weiteres Dummerchen, das sich von einem Galan mit wenig ehrenvollen Absichten ins Kellergeschoss hatte locken lassen. Katja meinte aus den Gesprächen herauszuhören, dass dies weder selten vorkam noch sonderliches Aufsehen erregte. Schließlich bestand sie darauf, sich zurechtmachen zu dürfen, und verschwand in den Toilettenräumen. Als sie nach etwa einer Viertelstunde wieder auf den Gang hinaustrat, wartete bereits der junge Attaché auf sie.

»Sie haben sich von dem Schreck erholt, hoffe ich?«, fragte er betont laut. »Die Keller sind kein Ort für eine Dame.«

Er legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie traten auf einen Balkon, der zur Behrensstraße hin lag, und Gnedin schloss die Glastür hinter sich.

»Sie sind ein hohes Risiko eingegangen, Jekaterina«, sagte er dann leise. »Unsere Wachleute sind nicht zimperlich. Hätte man Verdacht geschöpft, dann hätte man Ihnen einen Liter Wodka eingeflößt und noch zwei Gramm Kokain in die Nase gerieben. Niemand würde nachfragen. Die Botschaft ist sakrosankt.«

»Wäre es Ihnen gestattet, mich nach Hause zu begleiten?«, fragte sie. »Ich bin Ihre offizielle Begleitdame. Und unter diesen Umständen …«

»Weshalb?«

»Sie sagten selbst, dass wir reden müssen, Jewgeni. Und ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.«

»Ich werde um Erlaubnis bitten.« Er nickte. »Ich denke aber, dass es keinen Verdacht erregen wird, wenn ich für Ihre sichere Rückkehr bürge.«

Eine Viertelstunde später brachte sie ein Taxi nach Charlottenburg. Katja hatte überlegt, sich bei Konter anzukündigen. Immerhin war es nach Mitternacht. Aber sie war sicher, dass die Fernsprecher der Botschaft Mithörer hatten. Ihre Ankunft bei Toni und Paul glich also eher einem Überfall als einem Besuch.

»Katja?«, fragte Konter übermüdet und überprüfte, ob sein Herrenmantel sittsam geschlossen war. Dann erst bemerkte er, dass sie nicht allein war. »Wer sind Sie denn?«, fragte er wenig gastfreundlich.

»Können wir vielleicht hineingehen?« Katja stellte Gnedin vor und genoss es, dass sie den Kripobeamten in dieser Weise überrumpelt hatte. »Ich mache schließlich deine Arbeit«, stellte sie süffisant fest und lachte hell.

Es dauerte nicht lange, bis sich Konter gefangen hatte und ein Gespräch mit dem russischen Diplomaten begann. Sie sprachen über Gnedins Vater und den Mord an Bobrow.

»Sie sind ebenfalls in Gefahr, Herr Gnedin«, meinte Konter nach einer Weile.

»Tatsächlich? Inwiefern?«

»Sie wissen, dass ein Mann in der Botschaft festgehalten wird? Wahrscheinlich in den Kellerräumen.«

»Harry war so gütig, mich einzuweihen«, meinte Gnedin und nickte. »Was haben Sie vor? Erzählen Sie mir nicht, dass Jekaterina den Mann mit Strumpfband und Hutnadel befreien sollte.«

»Lassen wir den Unsinn. Der Mann, der in Ihrer Botschaft gefangen gehalten wird, war ein wichtiger Mitarbeiter von Iwan Kutisker.« Konter bemerkte, das Gnedin seine scheinbar lockere Haltung einbüßte. Das Unterlid des Mannes zuckte nervös. »Und er weiß Bescheid über die baltischen und Petersburger Gruppen, die gegen Stalin opponieren.«

»Das kann nicht sein!«, rief Gnedin ungehalten.

»Walter Annuscheit kennt Trotzkis Unterstützer in Polen, Weißrussland und auf dem Baltikum. Wenn er auspackt, könnte sich auch eine Schlinge um Ihren Hals legen, Jewgeni! An die Erklärungen, die Sie über die angeblichen Verfehlungen Ihres Vaters abgegeben haben, wird sich dann niemand mehr erinnern.«

Gnedin schien auf seinem Stuhl zusammenzusinken. Fast tat er Katja in diesem Moment leid. Konter benutzte ihn. Allein die Kontakte zu Kessler konnten den jungen Mann den Kopf kosten. Und an dem Punkt, an den sie jetzt gekommen waren, gab es für ihn kein Zurück mehr.

»Ich brauche genaue Angaben zu den Dienstplänen der Polizei- und Wacheinheiten in der Botschaft«, sagte Konter. »Und finden Sie mehr über die beiden Kellergeschosse heraus.«

Katja zeigte ihm den groben Grundriss, den sie abgezeichnet hatte, und er nickte zufrieden.

»Es ist noch nicht zu spät, Herr Gnedin«, sagte Konter in versöhnlichem Tonfall. »Ihre Leute haben sich Annuscheit gegriffen, weil sie sich neue Informationen zu baltischen Emigranten erhoffen. Angaben zu den versteckten Konten im Ausland, zu Firmenbeteiligungen und Immobilien.«

»Das Rote Erbe.« Gnedin nickte.

»Wenn Annuscheit allerdings Wind davon bekommt, dass er sich durch den Verrat der Gegner Stalins retten könnte, dann wird er auspacken. Sie sehen, Herr Gnedin, vorher müssen wir ihn da herausholen!«