Die Wohnung in der Nähe des Seuchenhofs war ein Saustall. Eine Wohnküche mit Schlafgelegenheit vor dem Ofen. Es roch nach alter Wäsche, Schweiß und ranzigem Schmalz. Durch das Fenster drang dieser typisch metallische Dunst vom nahen Schlachthof ins Zimmer. Franz konnte kaum glauben, was er hier vorfand. Und wen. Max Klante war nur noch ein Schatten seiner selbst, ein Häufchen Elend, ein zerstörter Mensch. Franz blickte dem ehemaligen Teilhaber des Syndicats in das eingefallene und blassgraue Gesicht. Klante trug zwar immer noch seinen Schnurrbart, der aber nun zu einem struppig ungepflegten Schnauzer ausgewachsen war und zudem am unteren Rand braun-gelblich schimmerte. Der Mann rauchte offenbar zu viel. Und wahrscheinlich waren es die billigsten Sargnägel, die man auf der Straße kaufen konnte. Er war stets von hagerer Gestalt gewesen, die Franz oft an eine Holzpuppe erinnert hatte. Aber jetzt hatte er einen kleinen Spitzbauch und den Ansatz eines Doppelkinns entwickelt. Dabei waren Arme und Beine weiterhin spindeldürr, was ihm das traurig-lustige Aussehen einer Karikatur aus dem Simplicissimus verlieh. Ganz offensichtlich Folgen des minderwertigen, zu fetten Gefängnisessens und fehlender Bewegung an frischer Luft.
»Drei Jahre«, sagte Klante.
»Wann wurdest du entlassen?« Franz spürte einen Kloß im Hals. Er hatte den alten Geschäftspartner in den vergangenen Jahren aus seinen Gedanken verdrängt. Teils aus jugendlicher Unbekümmertheit, teils aus Scham.
»Im Februar.«
»Drei Jahre sind nicht die Welt, Max«, sagte Franz leise. »Ich meine, du kannst etwas Neues anfangen.«
Als Klante nicht reagierte, schwiegen sie eine Weile. Beiden Männern schien in diesem Augenblick klar, dass es zwischen ihnen keinen Neuanfang geben würde.
»Wie geht es dir, Max?«, fragte Franz schließlich.
»Bestens, wie du siehst.« Zwar blitzten noch Reste von Klantes typischem Schalk auf, aber seine Stimme klang matt. Die Augen wirkten müde.
Max Klante. Der Wettkönig. Der Bankier. Der Betrüger. Der Prozess war nun vier Jahre her. Er schuldete vielen Menschen eine Menge Geld. Für den Rest seines Lebens würde er jede Mark, die er verdiente, melden müssen. Und noch immer wurden Schadensersatzforderungen an ihn gestellt, die sich zusammen auf mehrere Millionen Rentenmark beliefen. Nach der Inflation hatten sich Anwälte sogar darauf spezialisiert, die Umrechnungen der alten, wertlosen Währung in die neue Mark einzufordern und in Zivilprozessen gegen ihn geltend zu machen. Alles Geld, dass Klante jemals mit ehrlicher Arbeit einnehmen würde, wäre er sofort wieder los.
»Du musst aufpassen, Franz.« Klante lächelte gequält. »Ich bin kein Umgang für einen angesehenen Unternehmer wie dich. Noch habe ich zwei Jahre Ehrverlust zu verbüßen. Ich könnte deinen guten Leumund schädigen.«
»Unsinn, Max. Wir sind immer noch Freunde.«
Klante hatte nach seiner Verhaftung – unbeabsichtigt – sogar beinahe das Syndicat ruiniert. Geistesgegenwärtig hatte Toni damals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion alle belastenden Dokumente verbrannt, die Geschäftsbeziehungen zwischen ihm und dem Syndicat bewiesen hätten. Nur durch ihr beherztes Eingreifen konnte der Anwalt Alfons Renger verhindern, dass das Vermögen der gesamten Gesellschaft beschlagnahmt worden war. Schweren Herzens hatten danach alle Teilhaber Klante verstoßen, da er sie sonst mit in die Tiefe gezogen hätte. Er hatte jeder Erklärung demütig zugestimmt und vor Gericht jeden Meineid schweigend hingenommen, den Josef Sternwein, Franz und seine Tante geschworen hatten. Verständlicherweise wollte er jedoch niemanden mehr sehen, nachdem das Urteil verkündet worden war. Was anfangs wie ein stoisches Erdulden der Situation ausgesehen hatte, entpuppte sich schnell als völlige Selbstaufgabe.
»Was willst du, Franz?«, fragte er.
»Du musst endlich zulassen, dass wir dir helfen!«
Franz hatte ein schlechtes Gewissen. Nachdem Klante mehrmals Besuche im Gefängnis Plötzensee abgewiesen und Briefe unbeantwortet gelassen hatte, war auch er resigniert und hatte sich zurückgezogen. Jetzt waren plötzlich die drei Jahre Zuchthaus verbüßt, und Klante versuchte, unter unwürdigen Verhältnissen ins Lebens zurückzufinden. Drei Jahre, die in Freiheit wie im Fluge vergingen, waren für einen Mann wie den ehemaligen »Volksbeglücker«, wie ihn die B. Z. genannt hatte, offenbar die Hölle gewesen.
»Was willst du?«, wiederholte der Mann seine Frage etwas energischer.
»Wir möchten dir anbieten, wieder bei uns anzufangen, Max.«
»Anfangen? Womit?«, fragte Klante mit Bitterkeit in der Stimme. »Soll ich Fenster putzen? Oder braucht ihr mich als Türsteher? Klingt zu sehr nach einem Almosen.«
»Verdammt, mach es mir doch nicht so schwer! Die Geschäfte haben sich verändert. Du musst dich erst einmal einarbeiten. Aber deine Zahlenmagie könnte dem Syndicat sicherlich in Zukunft nützlich sein. Wir finden etwas.«
»Wie geht es meiner Dulcinea?«, fragte Klante, ohne auf den Vorschlag einzugehen.
Die Frage versetzte Franz einen weiteren Stich. Dulcinea, das war Antonia für Klante gewesen. Die Frau seiner Träume. Und für kurze Zeit hatte das Paar tatsächlich sein Glück auf Erden genießen können. Die Verhaftung ihres Liebhabers hatte Toni dann fast das Herz gebrochen.
»Gut.« Franz kam sich dämlich vor bei dieser Antwort. Aber was sollte er sagen? Dass Toni mit diesem alten Knochen Paul Konter glücklich war? Dass beide seit längerer Zeit ein Haus in Charlottenburg bewohnten und sogar eine Heirat nicht mehr ausschlossen? »Ja, sie lässt dich sogar grüßen.«
»Tatsächlich? Schön.« Max Klante ging zum Fenster und entzündete eine Zigarette, deren Rauch sich mit dem Gestank vom nahen Viehhof vermischte. »Nein, Franz, ich komme nicht zurück. Wenn das Amt meinem Antrag zustimmt, werde ich längere Zeit verreisen. An die See. Ich wollte schon immer ans Meer. Und danach werden wir sehen.« Klante wirkte für einen kurzen Moment wieder lebendig wie früher. »Und jetzt heraus mit der Sprache. Was soll ich für dich tun?«
Franz atmete tief durch und stieß einen Seufzer aus. Klante war zwar ein Traumtänzer. Ein Don Quichotte, der kurzzeitig seinen Trugbildern gefolgt war und seine Dulcinea geliebt hatte. Aber er war nicht dumm. Wozu also jetzt ein Spiel spielen oder weiter um den heißen Brei herumreden?
»Du hast doch damals viele Leute unterstützt, die im Krieg verwundet wurden.« Franz hatte vor Jahren mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu Klantes Engagement verfolgt. Anfangs hatte es Tausende Versehrte in der Stadt gegeben, die an jeder Straßenecke zu finden gewesen waren. Manche bettelten, manche saßen nur apathisch da. Viele waren später an Krankheiten, Alkoholsucht und Unterernährung krepiert. Dann hatte die Stadtverwaltung hart durchgegriffen, sie aus dem Straßenbild entfernt und in widerwärtigen Wohnheimen in den Arbeiterbezirken untergebracht. Der Anblick von Kriegskrüppeln war eben einer aufstrebenden Weltstadt nicht würdig. Und die Angehörigen jener Gesellschaftsschicht, die letztlich die Katastrophe zu verantworten hatte, wollten beim Flanieren und Feiern nicht immer an diese unbedeutende, lässliche Sünde deutscher Geschichte erinnert werden. Franz hatten diese Männer zwar leidgetan, aber gleichzeitig war er geblendet gewesen von eigener Jugend, Kraft und Gesundheit, die nicht zu Siechtum und Vergänglichkeit passen wollten.
»Du hast mal erzählt, dass du einen Totengräber kanntest«, fuhr er fort. »So habt ihr sie doch in Nordfrankreich genannt. Diese Leute, die sich mit Tunneln und Sprengungen auskannten. Erinnerst du dich?«
»Gewiss doch. Ich erinnere mich in jeder Nacht.« Er nickte. »Bis heute sehe, höre, rieche und schmecke ich meine Erinnerungen.«
Klante hatte nie viel über seine Jahre im Krieg gesprochen. Von seiner Tante wusste Franz, dass er offenbar nach einem Angriff der Franzosen tagelang in einem Bunker verschüttet gewesen war. Lebendig begraben. Niemand hatte je gewagt, ihn direkt auf diese Erlebnisse anzusprechen. Aber Max Klante hasste enge Räume und die U‑Bahn, ging nie in den Keller und bekam Angstzustände, wenn man ihm zu dicht auf die Pelle rückte.
»Max, ich brauche jemanden, der Tunnel graben kann. Gute, stabile Tunnel.«
»Nimm dir jemanden von Siemens. Oder frag deinen Kapitän Ehrhardt. Der Mann spielt doch gerne Krieg.«
»Dir waren deine Kameraden doch immer wichtig! Ich habe Arbeit für ein paar dieser Männer. Gut bezahlte Arbeit. Und wir müssen uns doch daran gewöhnen, dass du bald wieder im Geschäft bist.« Franz glaubte in diesem Moment selbst nicht an das, was er sagte. Der Mensch, der vor ihm stand, war ein seelisches Wrack. Vollkommen desillusioniert. Klante hatte offenbar mit allem abgeschlossen.
»Du musst mir etwas versprechen.«
»Sag mir, was du brauchst. Du wirst alles bekommen, Max! Eine Wohnung, eine Aushilfe, ein Büro. Das Geld geben wir dir bar, dann wird es dir nicht vom Gerichtsvollzieher gepfändet. Wir …«
»Ich gebe dir einen Namen. Er war der beste Totengräber Flanderns. Und danach lässt du mich in Ruhe. Für immer.«
Max Klante trat an den abgestoßenen, kleinen Tisch, auf dem eine abgegriffene Bibel lag. Unter dem schlicht geprägten Kreuz war ein Stempel der Gefängnisbücherei zu erkennen. Wahrscheinlich hatte sie in Plötzensee zum Inventar gehört. Und nach dem Willen der Anstaltsleitung und des Seelsorgers sollte der bußfertige Zuchthäusler sie wohl auch nach der Entlassung nutzen, um sich auf Gott zu besinnen und zu bessern. Einen Moment lang glaubte Franz wirklich, dass sein ehemaliger Freund ihn einen Eid schwören lassen wollte. Aber Klante klappte das Buch auf und riss die erste Seite heraus.
»Gib mir einen Bleistift«, wies er seinen Besucher an. Kurz darauf kritzelte er drei Zeilen direkt auf das dünne Papier. »Ich gebe dir den Namen. Dazu notiere ich seinen Rang, das Regiment und unseren Einsatzort. Außerdem einen Spruch, den uns ein begeisterter Lateiner beigebracht hat. Wenn du ihn aufsagst, weiß er, dass er dir vertrauen kann.« Klante faltete die Bibelseite und hielt sie in die Höhe. »Aber zuerst will ich dein Versprechen, Franz.«
»Ich kann doch nicht! Du bist ein Freund«, stammelte Franz hilflos. »Wir werden dich doch nicht hängen lassen.«
Franz war versucht, einfach zu sagen, was Klante hören wollte. Wen kümmerte es, wenn er später darauf pfiff? Aber er spürte, dass es dem Mann ernst war. Hier, in diesem Moment endete das Kapitel Klante endgültig. Er spürte, ihre Wege trennten sich und würden nie wieder zusammenlaufen. Wie oft hatte er früher diesen Luftikus zum Teufel gewünscht, als Klante noch der Liebhaber seiner Tante gewesen war? Das ewige Auf und Ab seiner Stimmungen, die immer neuen, noch abstruseren Ideen. Und jetzt hoffte Franz, diesen Kerl einfach in den Arm nehmen zu können. Er wollte den bereits Fallenden davor bewahren, in eine unendliche Tiefe zu stürzen. Aber er konnte es nicht.
»Ich verspreche es«, sagte er stattdessen mechanisch.
Wieder schien ein Stück Kraft den Mann zu verlassen, als er Franz nun den Zettel reichte. Ohne ein weiteres Wort drehte Klante sich zum Fenster um und fummelte mit zitternden Händen an der Zigarettenpackung herum. Es folgte eine Handbewegung nach hinten. Ein Winken. Fast ein wenig überheblich, als wollte ein Fürst seinen Untertan verscheuchen, dessen Aufgabe erfüllt war. Die letzte Audienz schien beendet. Franz verließ wie betäubt die Wohnung und taumelte fast durch das Treppenhaus, stieß eine alte Frau an, die ihn zahnlos ankeifte und allerlei Verwünschungen ausstieß. Er hörte es nicht.
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»August Wohlers«, las Franz vom Papier ab. Er saß zusammen mit Konter in seiner Wohnstube und blickte auf die Spree und die Museumsinsel. Ihn fröstelte bei dem Gedanken an die unwürdigen Zustände, in denen Klante hauste. Aber er musste die Sache mit sich selbst abmachen.
»Kein Wort zu Toni, dass du dich mit Max getroffen hast«, wies ihn der Polizist an, als hätte er seine Gedanken erraten.
»Er war Kontre-Mineur bei der Fünften Pionier-Kompanie der Dritten Bayrischen Infanteriedivision.« Franz nickte und wies auf Klantes Notiz. Für ihn waren solche militärischen Bezeichnungen böhmische Dörfer. Es hatte ihn nie sonderlich interessiert, wenn alte Kriegskameraden auf Festen über ihre Einheiten, Vorgesetzten und Einsatzorte gesprochen hatten. »Und ein Datum mit Ortsangabe, 7. Juni 1917, Höhe 60 bei Messines.«
»Wahrscheinlich waren Klante und Wohlers an diesem Tag gemeinsam dort. Eine Art Erkennungszeichen«, meinte der Konter.
»Was haben diese Kontre-Mineure eigentlich gemacht?«, fragte Franz. »Hoffentlich ist Wohlers wirklich ein Fachmann.«
»Die Kerle haben Gänge gegraben«, erklärte Konter, der aus Altersgründen und wegen seiner ausgeprägten Senkplattfüße vom Fronteinsatz verschont geblieben war. »Stollen wie im Bergbau. Vor allem die Engländer haben deutsche Stellungen untergraben und mit Minen in die Luft gejagt. Kontre-Mineure haben auf unserer Seite versucht, diese Vorhaben zu sabotieren. Für die normalen Soldaten war das Ganze ein Alptraum. Sie wussten nie, ob sie vielleicht gerade auf einem Pulverfass saßen. Nur das Gas muss noch schlimmer gewesen sein.«
Die beiden Männer schwiegen. Obwohl oder gerade weil beiden diese Hölle erspart geblieben war, gehörten sie nicht zu den Parteigängern jener Eiferer, die schon längst wieder einen neuen Waffengang forderten. Deutschnationale wetterten wegen des verlorenen Krieges und gaben den Linken und Juden die Schuld daran. Und alte Offiziere stolzierten immer noch wie Gockel in Paradeuniform durch die Berliner Theater und Klubs. Aber kaum jemand interessierte sich für die Blinden, Verbrannten, Einarmigen und Zerschossenen, die man aus dem Straßenbild der Innenstadt vertrieben hatte.
»Dann ist da noch etwas, das ich nicht lesen kann. Ich glaube, es ist Latein«, sagte Franz nach einer Weile und reichte die bekritzelte Bibelseite an Konter weiter.
»Soli mortui in aeternum vivunt«, las dieser vor. »Nur die Toten leben ewig. Viele Einheiten haben sich damals einen Wahlspruch gegeben.«
»Wie finden wir ihn überhaupt?«, fragte Franz. »Klante hat ihn wahrscheinlich vor Jahren das letzte Mal gesehen. Wer weiß, wo er wohnt? Ob er überhaupt noch lebt?«
»Ich denke, das ist kein Problem«, entgegnete Konter. »Eine Anfrage bei den Meldestellen dauert allerdings zu lange. Ich frage die Kollegen von der Fahndungsabteilung. August Wohlers, wahrscheinlich Jahrgang 1880 bis 1890. Wird nicht schwer sein. Vielleicht erhält er eine Kriegsopferrente oder ist bei der Wohlfahrt registriert.«
»Hoffentlich lebt er überhaupt noch in Berlin«, meinte Franz.
Geduld war nicht seine Stärke. Wieder würden Tage vergehen, bis sie Gewissheit hatten, wo sie den Kriegsveteranen finden konnten. Die Pläne, die ihm seit Wochen durch den Kopf gingen, nahmen hingegen langsam Gestalt an. Er musste mit den Italienern sprechen, damit die Casino-Sache nicht im Sand verlief. Er hatte ein Telegramm nach Neapel geschickt und Romano eingeladen, sich mit ihm in Berlin zu treffen. Der Italiener wurde langsam ungeduldig. In einer Woche würde er im Hotel Eden eintreffen. Jedoch hatte Franz im Moment wieder einmal den Eindruck, dass er dabei war, Fische zu verkaufen, die noch gar nicht gefangen waren. Er brauchte dringend das Geld für den Grundstückskauf nahe Potsdam. Romano würde ihm sicher nicht alles vorschießen. Und das Geld, an das Franz dabei dachte, lag in der russischen Botschaft. Die drängendste Frage für ihn war, wann die Russen es nach Moskau schaffen würden.
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Sie hatten Glück. August Wohlers war Berliner mit Leib und Seele geblieben. Ein Urgewächs, das nur auf dem Boden dieser Stadt gedieh. Bereits am Nachmittag des Folgetags hatte Konter die Adresse des Mannes ermittelt. Franz wollte keine Minute verlieren und machte sich noch am Abend auf den Weg. Er war entschlossen, sich zur Not bei der Nachbarschaft und in den Kneipen durchzufragen. Als er zu der Adresse kam, suchte er die Reihe von verbeulten Briefkästen ab und fand schließlich das passende Namensschild. Das Treppenhaus war spiegelblank gebohnert, und seine Schuhsohlen quietschten bei jedem Schritt, als er sich auf den Weg in den vierten Stock machte.
»Max schickt Sie?«, fragte ein grauhaariger Mann skeptisch, nachdem sich Franz kurz bei ihm vorgestellt hatte.
Das Mietshaus am Weddingplatz hatte einen ungewöhnlichen Bombenschaden erlitten, als rechte Freikorpsverbände in den Januarunruhen gleich nach dem verlorenen Krieg mitten in der Hauptstadt gegen eigene Landsleute vorgegangen waren. Kaisertreue und nationalistische Einheiten hatten dabei spartakistische Revolutionäre, die sich im belebten Arbeiterviertel verschanzt hatten, mit Haubitzen beschossen. Das Haus war zwar notdürftig wiederhergestellt worden, zum Hinterhof lagen jedoch die beiden oberen Stockwerke offen, da deren Außenwand weggerissen worden war. Franz war ein Schauer über den Rücken gelaufen, als er bemerkte, dass sich auch dort bewohnte Behausungen befanden. August Wohlers lebte in einem dieser Provisorien.
»Ja, Max Klante«, erwiderte Franz verunsichert, denn Wohlers trug den rechten Arm in einer Schlinge. Er nahm den Zettel und las die Truppenbezeichnung ab. Bei dem lateinischen Sinnspruch kam er ins Stocken. »Er hat vor wenigen Wochen seine Haftzeit verbüßt.«
»Der Kerl schuldet mir noch vierhundert Märker«, donnerte der Mann los. Gleich darauf dröhnte sein Lachen durch das Treppenhaus. »Der olle Schwerenöter hat mir ooch übern Löffel jezogen. Kommen Se rin, meen Juter! Sind also ooch ne Keule von Maxe, wa?«
In der Stube roch es nach Männerwirtschaft. Bierdunst paarte sich mit dem Geruch von alten Socken, Leberwurst und Schweiß. Und über allem lag der kalte Rauch von billigen Fünfer-Zigaretten. Auf den Schreck nahm Franz gern den angebotenen Klaren. Das Glas sah aus, als wäre es noch nie gespült worden. Aber das bemerkte er erst, nachdem er den Grubenfusel gekippt hatte. Das Zeug brannte wie Feuer im Rachen. Und explodierte dann förmlich in seinen Eingeweiden. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn man beim Trinken gleichzeitig rauchte.
»Max hat schon im Graben prima Geschäfte jemacht«, schwärmte Wohlers. »Bevor die Jungs raus sind, wollten sie unbedingt eene parfümierte Stippe durchziehen. Max hat behauptet, die kämen direkt aus Paris von die Schampsillisee. Von piekfeene Damen am Busen jetragn. Nur für uns. Schlawiner. Hab ihn jesehn, wie er die Dinger selbst mit nem Duftwasser bepinselt hat. Zwee Jroschen hat er uns dafür abjeknüppt.«
Franz kannte das Phänomen. Wann immer sich die Veteranen des Weltkriegs trafen, begannen sie sofort, ihre Geschichten zu erzählen. Er vermutete, dass sie damit die Gespenster jener Zeit von sich fernhalten wollten.
»Ich habe eine spezielle Arbeit zu vergeben«, sagte er, nachdem Wohlers auch noch eine zweite Anekdote zum Besten gegeben hatte. »Max meinte, dass Sie der richtige Mann dafür wären.«
»Ick bin Schuster«, erwiderte Wohlers. »Hab ick jelernt. Ick jloobe aber, dat meenten Se nich, wa?«
»Ich brauche jemanden, der sich mit Tunneln auskennt.«
»Die hab ick für unsern Willy, Volk und Vaterland jejrabn. Lange her.«
»Max sagte, Sie waren Mineur?«
»Tunnelsabotage.« August Wohlers nickte. »Die Tommys waren janz verrückt danach, in halb Belgien und Frankreich die Erde uffzubuddeln. Dann haben sie Sprengstoff in die Gänge jelegt und unsere Stellungen in die Luft jeballert. Wir haben versucht, die Stollen rechtzeitig zu finden und vorher zum Einsturz zu bringen. Een ewijes Hin und Her.«
»Dafür mussten Sie aber auch graben, oder?«
»Klar.«
»Sie sind arbeitslos?«
»Schlage mich so durch. Fünfundvierzig Mark Rente für den rechten Arm. Er ist noch dran, aber taucht zu nüscht.« Er zeigte auf die Schlinge. »Da habe ich doch wirklich een jutes Geschäft gemacht. Die paar Märker reichen für ein Billett im Theater am Ku’damm und een Jlas Schampus dazu. Den Rest des Monats atme ick dann Berliner Luft.«
Natürlich, dachte Franz. Jetzt war ihm klar, weshalb Klante den Mann empfohlen hatte. Zwar wurden überall im U‑Bahn- und Kanalbau Facharbeiter gesucht, aber sicherlich keine Kriegskrüppel. Wohlers’ Arm schien zwar nicht vollständig gelähmt zu sein, wirkte allerdings dürr und kraftlos.
»Was ist passiert?«
»Blindgänger. Klante wurde mit seiner Kompanie bei einer Explosion verschüttet. Tagelang haben wir ihre Klopfzeichen jehört und jebuddelt wie die Bekloppten, teilweise mit bloßen Händen. Und das Klopfen wurde weniger. Als wir endlich durchkamen, waren nur noch vier am Leben.«
»Max war unter ihnen«, stellte Franz betreten fest.
»Ein Nebenstollen war schlecht jesichert und brach ein. Und jenau da lag eine englische Mine im Dreck. Alles jing hoch. Max und ich wurden herausgeschleudert. Die Erde hat uns ausgespuckt, zehn Meter hoch und dreißig Meter weit. Als ich aufwachte, saß der Kerl mit glasigen Augen da und rauchte eine seiner zerknickten Pariser Zweier. Er zitterte so stark, dass er seinen Mund immer mit der Stippe verfehlte.« Wohlers deutete auf seinen Arm. »Die Ärzte sagen, dass in der Schulter ein paar Nerven abgerissen wurden. Von außen konnte man nichts sehen. Der Arm ist zwar nicht völlig nutzlos, aber nur für Kleinigkeiten zu gebrauchen.«
»Können Sie denn die Arbeiten anleiten und beaufsichtigen?«, fragte Franz skeptisch.
»Größe und Länge des Tunnels?«
»Man muss gebückt durchkommen. Also Durchmesser anderthalb Meter. Ebener Boden. Gerade groß genug, dass ein kleiner Handkarren gezogen werden kann. Länge vielleicht fünf bis höchstens zehn Meter.«
»Wo?«
»In der Stadt.«
»Jetzt wird es interessant«, meinte Wohlers. »Wer will denn privat einen Tunnel haben? In Berlin?«
»Klante glaubt, Sie wären der richtige Mann. Der Krieg hat ihnen übel mitgespielt. Wie Sie schon sagen, ein Arm für lächerliche fünfundvierzig Mark im Monat. Was ist daran gerecht?«
»Kommen Sie mir bloß nicht mit dem Mist«, sagte Wohlers ungehalten. »Sie sind doch selbst so een Blaffke. Juter Anzug und Maßschuhe. Dazu eene dicke Zigarre. Jerechtigkeit ist für Leute wie euch. Nicht für Leute wie mich.«
»Fünfhundert für die gesamte Planung und Ausführung«, entgegnete Franz ungerührt. »Ihre Rente wird bis zu Ihrem Lebensende auf achtzig Mark im Monat aufgestockt. Und jede Weihnachten gibt es eine Gans dazu. Was sagen Sie?«
Franz war diese Idee gerade eben gekommen. Anstatt einmalig eine größere Summe anzubieten, konnte er den Mann eher durch eine monatliche Zahlung zu dauerhafter Verschwiegenheit verpflichten.
»Mit offizieller Genehmigung?«, fragte der Mann.
Franz schüttelte den Kopf.
»Siebenhundert einmalig und dann hundert Mark im Monat. Dazu zwee Jänse. Ick hab eene Schwester.«
Franz tat, als würde er in die Hand spucken – eine Geste, die er sich vor Jahren bei seinem irischen Freund Ian abgeschaut hatte – und hielt sie dem Mann hin.
»Nie ein einziges Wort. Zu niemandem«, sagte er, als Wohlers ungelenk mit dem gesunden Arm einschlug.
»Was sagten Sie?«, fragte sein Gegenüber, brüllte dabei fast und hielt die Linke hinter sein Ohr. »Ick höre nicht mehr jut seit der Explosion. Und mein Kopf hat wohl auch etwas abjekriegt. Ich verjesse irgendwie alles.«