Die Hauptkanalisation unter den Straßenzügen der alten Dorotheenstadt war noch nicht sehr alt. Die preußischen Herrscher hatten den Bereich westlich des Schlosses zunächst als Reitweg angelegt, der vom Schloss zum Tiergarten führte und bald zur Prachtstraße wurde. Noch vor knapp zweihundert Jahren hatten die eindrucksvollen Häuser an Unter den Linden riesige Gärten gehabt. Selbst der Pariser Platz und das Tor lagen damals inmitten von Grünflächen. Während das »Dicke« – wie es der Berliner in der ihm eigenen Art nannte – aus den alten Stadtteilen über Druckrohre entsorgt wurde, führte man das Abwasser an den neuen Alleen und großen Straßen in große, unterirdische Kanäle.
»Bereits drei Meter unter der Erde beginnt also die Hölle«, schimpfte Franz und blickte sich angewidert im Hauptkanal des Abwassers um. Er war kaum zu verstehen, da er sein Taschentuch fest auf Nase und Mund presste. Der Gestank drang hindurch, obwohl er es in Susannes teures Parfum fast eingetaucht hatte.
Er und August Wohlers waren zu einer ersten Erkundungstour in Berlins Unterwelt aufgebrochen. Anfangs war Franz noch begeistert gewesen, erinnerte ihn das Unterfangen doch an das unterirdische Neapel. Als ein Gehilfe des Mineurs jedoch den Kanaldeckel in der Mittelstraße geöffnet hatte und das erste Lüftchen daraus entwichen war, hatte er alle Hochstimmung eingebüßt. Jetzt standen sie im Hauptrohr, in dessen Mitte träge ein dunkler Hades floss. Daraus erhob sich alle paar Meter eine dicke Blase, die dann mit einem dumpfen Geräusch platzte und einen infernalischen Odem ausblies. Franz musste sich mehrmals ermahnen, dass es sich hier nur um leblose Abfälle handelte, denn die Geräusche und optischen Eindrücke waren dazu angetan, dem Ganzen etwas unheimlich Lebendiges zu geben.
»Vorsicht. Der Weg ist glitschig«, meinte Wohlers, als sie am Rand der großen Kloake standen. »Sollten Sie in die Suppe hineinfallen, Herr Sass, halten Sie unbedingt den Mund geschlossen! Sonst bringt Sie der Dünnpfiff später um.«
Sie kamen an eine Abzweigung, die mit ein paar Brettern abgesperrt war. Ein offizielles Schild wies auf Bauarbeiten und Einsturzgefahr hin. Wohlers hatte offenbar bereits ein paar Vorarbeiten veranlasst und zeigte stolz auf die vermeintliche Baustelle.
»Wozu der Aufwand?«, fragte Franz. »Hier kommt doch kaum jemand vorbei.«
»Weit gefehlt, Herr Sass. Inspekteure überwachen regelmäßig den Abfluss.« Wohlers warf ein Stück Papier auf die braune Pampe. Und tatsächlich bewegte es sich langsam mit der zähen Masse nach Westen. »Wenn das Zeug stockt, dann öffnen sie oben ein paar Schieber an der Spree und spülen mal kräftig durch. Besser, man ist dann nicht hier unten. Kommt aber doch eher selten vor. Wenn allerdings in nächster Zeit ein städtischer Mitarbeiter vorbeiläuft, wird er denken, dass hier etwas ausgebessert werden muss.«
»Sehr tröstlich«, murmelte Franz. »Wohin fließt die Brühe überhaupt? Unfassbar, was Berlin produziert.«
»Raus auf die Rieselfelder von Blankenfelde.« Wohlers und sein Arbeitsmann schoben die Bretter zur Seite. Dahinter lag ein kleiner Seitenkanal, auf den er jetzt zeigte. »Von da hinten kommt die kommunistische Scheiße.« Als er Franz’ fragenden Blick bemerkte, fuhr er fort: »Das Abwasser der Botschaft. Am Ende sind wir doch alle gleich.« Er lachte heiser über den Scherz. »Noch weitere zehn Meter, bis es zu eng wird. Von dort sind es etwa fünf Meter bis zum Keller der Botschaft. Hier entlang, Herr Sass.«
Franz entfaltete eine einfache Kopie. Josef Sternwein hatte die genauen Bauzeichnungen der Gebäude besorgt. Von Konter hatte er die Pläne der Kanalisation. Und auf dieser neuen Zeichnung waren alle Angaben aus Ober- und Unterwelt vereint. Im Licht seiner Taschenleuchte versuchte Franz, sich zu orientieren. Sie gingen gebückt in den Seitentunnel hinein, der zu den Gebäuden führen musste, die zwischen Unter den Linden und Behrenstraße lagen.
»Hier ist es«, sagte der Kriegsveteran plötzlich und schlug mit der Hand auf ein Stück Ziegelmauer. »Vier oder fünf Meter bis zum Fundament.«
Franz blickte irritiert auf sein Blatt, drehte sich um und versuchte, einzuschätzen, wo Norden war. Als er sich endlich zurechtfand, musste er feststellen, dass der Mineur recht hatte. Der Mann musste einen Maulwurf in der Ahnenreihe haben.
»Woher …?« Er war sicher, dass er sich ohne Karte in diesem Labyrinth nur verlaufen und am Ende als Dünger auf den Rieselfeldern enden würde.
»Einmal Tunnelratte, immer Tunnelratte.« August Wohlers grinste und zeigte seine von Kautabak geschwärzten Zähne. »Wenn ich unter der Erde bin, ist meine Schrittlänge immer gleich. Ich spüre die Zugluft aus Querungen und Einstiegen, und ich nehme das Echo wahr. Die Tunnel sprechen zu mir.«
Franz hatte sich bereits mehrfach gewundert, dass der Mann in regelmäßigen Abständen mit einer kleinen Hacke gegen die Wände klopfte und dann kurz lauschte. Er hatte immer mehr den Eindruck, dass sie sich hier unten in den Eingeweiden – ihn schauderte bei diesem Gedanken – eines lebendigen Wesens befanden.
»Gut«, meinte er jetzt selbstbewusster, als er sich fühlte. »Wann legen Sie los?«
»In einer Woche beginnen wir, den Gang zum Keller zu graben. Ich schätze, wir brauchen nicht mehr als drei Tage. Lieber etwas langsamer, aber dafür leise. Das Problem wird die Wand sein.«
Franz überlegte. Wenn die Pläne, die Katja von ihrem russischen Bekannten erhalten hatte, korrekt waren, dann würde der Tunnel Wohlers und seine Männer zu den Lagerräumen des unteren Kellergeschosses führen. Der Mineur hatte sich nach einigem Hin und Her für eine Sprengung der Wand entschieden. Franz war dagegen gewesen, denn er befürchtete, der Lärm würde die Wachleute und GPU-Agenten in der Botschaft warnen. Aber Wohlers hatte abgewiegelt.
»Ich jage ja hier keine Granaten in die Wand, Herr Sass«, hatte er erklärt. »Tunnelsprengungen sind Feinsprengungen. Sie sollen das Hindernis nur mürbe machen, damit wir es schnell und ungefährdet abtragen können. Auf dem Gehweg vor der Botschaft werden wir zur selben Zeit ein bisschen Radau mit dem Drucklufthammer machen. Die Kerle werden nichts merken. Wichtig ist jedoch, dass im Kellerbereich der Botschaft dann nicht mehr gearbeitet wird. Also nehmen wir eine Zeit ab sechs oder sieben Uhr abends.«
»Wie lange brauchen Sie für die Wand?«
»Nach der Sprengung geht es schnell. Wenn nichts dazwischenkommt, können sie den Leuten da oben in zehn Tagen ihren Kaviar klauen, Herr Sass.«
Franz hatte nicht vor, länger als nötig an diesem Ort zu bleiben. Er hatte Wohlers in den wenigen Tagen, die sie sich kannten, als einen Mann schätzen gelernt, der offenbar genau wusste, was er tat, und keine leeren Versprechungen gab. In etwas mehr als einer Woche wollte Franz hierher zurückkehren, und dann wäre sein Handwerk gefragt. Fast schlugen zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits hoffte er auf relativ leichte Beute. Aber andererseits wünschte er sich eine Herausforderung. Was für Wohlers das Scharren in der Erde war, bedeutete ihm der Stahl. Der Widerstand reizte beide Männer ungemein. Widerstand, den sie überwinden mussten. In seiner Vorstellung sah Franz schon den Panzerschrank und die Flamme des Schweißbrenners, hörte deren Zischen, mit dem sie gierig allen Sauerstoff aus der Umgebung aufsog. Franz lächelte und wurde für einen Moment unaufmerksam. Wohlers kräftige Pranke drehte sich wie ein Schraubstock um seinen Oberarm, als er auf einem Schleimpilz ausglitt.
»Vorsicht. Hier unten wirken gleich zwei Kräfte«, sagte der Mineur. Er bekreuzigte sich und küsste das Kreuz, das er an der Kette trug. Wie ein abergläubisches Waschweib. »In Erde und Wasser stecken fast vergessene, uralte Geister. Auch wenn es hier nur Ziegelwände und Abwasser sind«, erklärte er. »Sie wollen dich in sich hineinziehen, verzehren.«
»Geister? Mein lieber Herr Wohlers, ich wusste nicht, dass Sie derart zartfühlend sind«, erwiderte Franz unsicher lächelnd. »Steine, Sand und menschliche Ausscheidungen. Da ist kein Platz für altbackene Schauerromantik.«
»Bergleute und Mineure verletzen, was besser unversehrt bleiben sollte. Umsicht und Respekt mögen uns ein wenig Zeit verschaffen, aber irgendwann zahlen wir den Preis für diese Untaten.«
Franz lag eine flapsige Bemerkung auf der Zunge, aber er fühlte, dass es besser war zu schweigen. Wohlers war ein Mann mit zwei Gesichtern. Oben, in der normalen Welt, schien er ein typischer Arbeiter zu sein, der grobschlächtig berlinerte, was das Zeug hielt. Hier unten war er beinahe ein Philosoph, der seine Worte mit Bedacht – und wohl artikuliert – wählte. Es konnte nicht schaden, sich auf seine Erfahrung zu verlassen. Auch in dieser Hinsicht.
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In der darauf folgenden Woche war Franz oft unausstehlich. Seine Stimmung wechselte innerhalb einer Minute von Gereiztheit über Melancholie zu ängstlicher Unruhe. Er hatte zudem ein schlechtes Gewissen, da er Susanne im Unklaren über seine Pläne ließ. In dieser Hinsicht erwies sich die Wohnung am Kupfergraben als nachteilig. Sie war zwar ebenfalls sehr geräumig, aber auf einer Ebene konnte sich das Paar schwerlich aus dem Weg gehen. So kam es in den Tagen nach dem Treffen mit Wohlers öfter vor, dass Susanne ihren Gefährten »zum Auslüften« vor die Tür scheuchte.
»Ich verstehe nicht, was mit ihm los ist«, klagte sie Katja und Anna ihr Leid, als die beiden Freundinnen sie besuchten. »Er sitzt da und grübelt. Dann springt er auf und redet mit sich selbst. Ich halte das nicht länger aus.«
»Ein Mann ist eben immer, was er tut«, meinte Anna. »Das macht ihn aus. Er hat noch nicht verwunden, dass seine neuen Pläne von uns abgeschmettert wurden. Gib ihm Zeit, er findet schon ein neues Steckenpferd.«
Der aus seinem Heim Vertriebene streunte unterdessen ziellos durch die Stadt. Wehmütig suchte er Orte auf, die in den letzten Jahren in seinem Leben eine Rolle gespielt hatten. Er kam sich dabei vor, als wäre er älter als der greise Reichspräsident Hindenburg. Bei den Hackeschen Höfen erinnerte er sich daran, dass er dort nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Joe Fischer hatte ihn damals vor seinen Verfolgern gerettet, indem er ihn in eine Wohnung zog, in die er selbst ein paar Minuten zuvor eingestiegen war. Der Alexanderplatz war wie immer belebt und quirlig. Er kam sich dort vor wie ein Fremdkörper. Mehrmals wurde er von Fußgängern angerempelt, von Autofahrern durch lautes Hupen aufgeschreckt und von Radfahrern beschimpft. Er bemerkte es kaum und hing weiter seinen Gedanken nach. Auf der berüchtigten Fischerinsel von Alt-Kölln suchte er vergebens das Haus, in dem er vor einigen Jahren seinen Bruder Georg gefunden hatte, der von den Handlangern eines Offiziers halb totgeschlagen worden war und dort fast verendet wäre. Fremde waren hier bei den Ureinwohnern Berlins – als solche sah sie der Rest der Stadt – nicht willkommen. Zweimal entging er nur knapp dem Schwall ausgekippter Nachttöpfe. Ein Mann in undefinierbarem Alter bepöbelte ihn in einer Sprache, die nur entfernt mit dem Deutschen verwandt schien. Der Kerl war derart stark verwachsen, dass ein Betrachter oben und unten verwechseln konnte.
Carl Hagenbeck hätte hier ein paar Leute für seine Völkerschau aussuchen sollen, dachte Franz verdrießlich und machte sich lieber vom Hof, bevor der Mann seine wahrscheinlich zwei Dutzend Geschwister zusammentrommelte. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er wollte sich mit Joe Fischer im Klub Berlin treffen. Zusammen mit seinem Bruder Erich konnten sie dort die Zeit nutzen, um ihre Vorbereitungen für den Bruch abzuschließen. Franz besaß eine Ausrüstung, mit der man wahrscheinlich die Reichsbank hätte knacken können. Aber er wollte seinem Freund die Auswahl der Gerätschaften überlassen. Sie brauchten vor allem Dinge, die verlässlich funktionierten und auch tragbar waren. Für das Propan und den Sauerstoff hatten sie eine verlässliche Quelle, die kein Kriminaler zurückverfolgen konnte.
Entschlossen machte Franz kehrt und marschierte zügig zur Oranienburger Straße zurück. Dort hatte er bei einem Fuhrunternehmen sein Automobil untergestellt. Auch das war ein Zugeständnis an den Umzug in die Innenstadt gewesen. Es war schwer genug gewesen, einen Stellplatz zu finden, durch den nicht der allgegenwärtige Staub von Kohle und Baumaterialien wehte. Bei Möbel-Speditöre Wissbroth & Franke in der Nähe der Synagoge hatte er schließlich Glück gehabt. Voller Vorfreude stieß er die Tür mit der Aufschrift Bureau W & F auf. Er bat darum, den Fernsprecher nutzen zu dürfen, und ließ sich mit der Pförtnerloge des Ministeriums für Volkswohlfahrt verbinden. Fischer stimmte zu, nach der Arbeit ins Lokal am Wittenbergplatz zu kommen.
»Rufen Sie bitte meine Verlobte Susanne Bentmann an, und sagen Sie ihr, dass es heute spät werden kann«, wies er nach dem Gespräch mit Fischer den Junior-Assistenten an, der die zugesteckten zwei Mark gut gebrauchen konnte. Franz gab ihm seine Visitenkarte mit der neuen Direktwahl.
Geschieht ihr recht, dachte er beinahe schadenfroh. Mich aus meiner eigenen Wohnung zu vergraulen! Soll sie sich ruhig ein wenig Sorgen machen.
Wenig später saß er am Steuer seines Isotta Fraschini-Tourenwagens und gab auf der Rosenthaler Straße nach Norden ordentlich Gas, um kurz darauf in die Elsässer und schließlich in die Friedrichstraße abzubiegen. Das Geräusch einer Trillerpfeife, erst auf der Leipziger Straße, später noch am Potsdamer Platz, verriet ihm, dass er wieder Post wegen zu schnellen Fahrens und grober Missachtung von Verkehrszeichen erhalten würde. Zunächst stattete er dem Open House in der Stallschreiber Straße einen Besuch ab. Das Lokal der Brüder erfreute sich schon früh am Tage eines regen Zulaufs. Die Stammkundschaft bestand aus ehemaligen Habenichtsen, die ein wenig zu Geld gekommen waren und ihrem O‑Ha, wie es in der Gegend hieß, die Treue hielten. Franz selbst war es immer noch der liebste Ort, um sich zu betrinken. Aber die Zeiten, da man in Berlin nach vier Herrengedecken mit achtzig Sachen auf der Charlottenburger in Richtung Großer Stern sausen konnte, waren endgültig vorüber. Also beließ er es bei einem kleinen Schultheiss. Danach fuhr er Richtung Neuer Westen und sah im Klub Berlin und Club 21 nach dem Rechten. Erich war unterwegs, und so hinterließ er seinem Bruder eine Nachricht, dass er später mit Fischer vorbeischauen wollte.
Schon ergriff wieder ein Gefühl der Resignation Besitz von ihm, als Franz die rettende Idee kam. Anstatt den Nachmittag wie ein erfolgloser Künstler beim Rotwein zu verbringen und die Welt aus glasigen Augen zu betrachten, wollte er seinen Bruder Georg besuchen. Georg Sass war mit Frau und Sohn der Roma-Familie Harussel in die Bieselheide gefolgt. Nicht ganz freiwillig, denn die Stadtverwaltung Berlin duldete keine Landfahrer und Zigeuner mehr auf ihrem Stadtgebiet. »Deren Sesshaftwerdung ist anzustreben und durch strikte Umsetzung bestehender Verordnungen voranzutreiben.« Die Weisung des Magistrats an die städtischen Behörden hatte bürokratischer Willkür Tür und Tor geöffnet. Die Familie war bereits seit Jahrzehnten durch Brandenburg und Berlin gezogen. Um die Jahrhundertwende hatten sie sich in der noch unwirtlichen Jungfernheide nördlich des Hohenzollern-Kanals mit ihrem Wagendorf eingerichtet. Später wurden sie dann in Richtung Saatwinkel und Tegel vertrieben. Und seit dem letzten Jahr hatte man ihnen ein versumpftes Stück Land in der Nähe des Brandenburgischen Städtchens Bergfelde zugestanden. Der Moloch Berlin fraß sich derweil mit seinen Fabriken und Wohnsiedlungen immer weiter in die Umgebung. Über den Wedding fuhr Franz Richtung Nordwesten und erreichte nach knapp einer Stunde die Bieselheide, wo er sich zu dem Flüsschen Kindelfließ durchfragen musste. In dessen Nähe hatten die Harussels ihr neues Lager aufgeschlagen.
»Was treibt dich ins Moor, Bruder?« Georg lachte, als er Franz begrüßte. Er rief nach seiner Frau Marya, die zusammen mit einigen Kindern auf den Gast zugelaufen kam.
Auf dem Oberkörper des älteren Bruders funkelten Schweißperlen, die an den Muskelbäuchen entlang liefen, als folgten sie Bachläufen. Er wirkte kräftig, allerdings auch erschöpft. Franz wusste, dass einige junge Männer den Clan verlassen hatten. Die Zeit der Landfahrer ging eindeutig zu Ende. Für die Verbliebenen bedeutete dies doppelte Arbeit. Wieder hatten die Familien auf dem unwirtlichen Gelände ein kleines Dorf errichtet. Einige wohnten in kleinen, gedrungenen Holzhäusern, andere in ihren Wagen, vor denen sich Kochstellen und eine Art Wohnstube im Freien befanden.
»Es wurde einfach wieder Zeit, euch zu besuchen.« Franz brachte es nicht übers Herz, zu gestehen, dass ihn innere Unruhe und Langeweile hierhergebracht hatten.
»Läuft in der Stadt alles? Oder brauchst du wieder jemanden, der sich mit den Geschäften wirklich auskennt?« Georg schlug eine Faust in die Handfläche, dass es klatschte. Er war beim Syndicat fürs Grobe zuständig, hatte sich jedoch seit dem Umzug der Harussels kaum in Berlin blicken lassen. Franz versicherte ihm, dass der junge Boxer Erwin Volkmar, quasi Georgs Nachfolger, alles im Griff hatte.
Es hielt Franz kaum auf dem bequemen Sitzkissen, das man ihm angeboten hatte. Sie verbrachten die nächste Stunde damit, über vergangene Zeiten zu plaudern, aber auch hier war er nur halb bei der Sache.
»Du bleibst sicher nicht zum Abendessen?«, fragte Marya, und er schüttelte den Kopf.
In Gedanken war er längst schon wieder woanders.
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»Du bist ein Nervenbündel, Franz«, meinte Fischer, als er den Freund nach Feierabend im Klub Berlin antraf.
Sie gingen ihren Plan noch einmal durch, führten Strichliste für die Geräte und notierten, welche Arbeiten noch zu erledigen waren.
»Hat sich nichts geändert«, sagte Fischer lapidar und zog ein Stück Papier aus der Brieftasche. »Sieh her, es sind dieselben Punkte.« Dann lachte er. »Du bist aufgeregter als ein Bursche vor dem ersten Kuss.«
»Es darf nichts schiefgehen!«, ereiferte sich Franz.
»Klar, sollte es nicht«, entgegnete Fischer. »Aber es geht immer etwas schief. Ich weiß, wovon ich spreche. Da hilft auch die zwanzigste Liste nicht. Der größte Fehler, den du in unserem Beruf machen kannst, ist, dass du dir selbst nicht vertraust.«
Sie überlegten gerade, welche Art von Tresoren sie wohl in der Botschaft antreffen würden, als Erich zu ihnen stieß. Es ärgerte Franz, dass der jüngste Sass-Bruder gefasster wirkte als er selbst.
»Kann ich dieses Mal auch ran?«, fragte er.
»Kommt darauf an, was wir finden«, antwortete Fischer. »Ich schlage vor, dass du das letzte Drittel schneidest. Auf diese Weise lernst du, den Brenner einzusetzen, ohne dass du etwas kaputt machen kannst.«
»Wenn er es zu heiß werden lässt, ist das Papier innen nur noch Asche«, protestierte Franz.
»Er muss ja mal anfangen. Und ich bin da, um die Sache zu überprüfen.« Fischer klopfte Erich auf die Schulter. »Wir schaffen das.«
»Die Arbeit mit dem Hörrohr musst du mir auch beibringen«, meinte Erich.
»Alles zu seiner Zeit.« Fischer wandte sich an Franz. »Wie lange müssen wir danach die Füße still halten?«
Die Füße still halten. Gras über die Sache wachsen lassen. Mancher Einbrecher war schon an diesen Regeln gescheitert. Nach einem wirklich spektakulären Bruch durfte man nicht sofort mit dem Geld um sich werfen. Oder gar Schmuck zum Pfandleiher bringen, den die Gattin des Bestohlenen gerade bei der Polizei beschrieben hatte. Die Mode, Wertsachen auch zu fotografieren, erschwerte einen unauffälligen Verkauf noch mehr.
»Das Geld könnten wir nach vier Wochen in Umlauf bringen«, meinte Franz. »Ich kaufe ein Grundstück über eine Hypothek. Bei der Bank zahle ich in den nächsten Monaten kleine Summen auf meine Konten. Den Rest lagern wir in Schließfächern. Sofern wir tatsächlich auch Schmuck und Edelsteine finden, wird es schwieriger. Aber ich denke, nach zwei Monaten können wir die ersten Stücke in Hamburg und Köln anbieten. Ich muss noch ausbaldowern, wem wir dort vertrauen können. Berlin ist mir zu heiß. Die Russen werden hier zuerst nachforschen.«