Der Lärm vor dem Botschaftsgebäude war unerträglich. Es hatte geregnet und in den Pfützen standen konzentrische Kreise, die vom steten Wummern und Hämmern herrührten. Die Einrichtung einer weiteren Baustelle in der Stadt vor über einer Woche hatte niemanden interessiert. Über Sternwein hatte Franz einige Absperrwände, Wachsplane, Warnschilder und allerlei kleines Gerät bekommen. Und Wohlers war mit ein paar Männern aufgetaucht, die erst wichtige Mienen zeigten und nun in Blaumännern eifrig buddelten, fluchten, rauchten und vor allem für eine ordentliche Geräuschkulisse sorgten. Niemand in Berlin war so verrückt, Bauarbeiter vor Ort nach dem Grund ihres Tuns zu befragen. Erstens verwies ein »Betreten verboten!« auf alte preußische Tugenden. Was seine Ordnung hatte, hatte gewiss auch seine Richtigkeit. Und zweitens war der moderne Städter in dieser Hinsicht von einer gewissen Stumpfheit befallen. Eine Art Phlegma hatte sich seiner bemächtigt, in das er sich geduldig ergab. Berlin baute. Immer. Nur eine Ausnahme gab es mittlerweile, quasi ein Tribut an die Moderne. Der deutsche Automobilist und sein Gefährt waren nämlich an die Stelle des preußischen Feldsoldaten und dessen Waffen getreten, die Ehre des Landes unter Einsatz aller Kräfte zu verteidigen. Und die deutsche Straße war ihnen heilig! So hatte es August Wohlers auch tunlichst vermieden, den Straßenverkehr zu beeinträchtigen. Die Fußgänger mochten vom Trottoir in Pfützen treten, die Seite wechseln, oder sie mussten eben fliegen lernen. Sie nahmen es stoisch hin. Aber eine Unterbrechung der freien Fahrt auf den Hauptstraßen der Stadt vermochte Bürgermeister zu stürzen.
Der taube Hans Kruse, ein Weltkriegsgefreiter, bediente den modernen Drucklufthammer. Er war zusammen mit Wohlers in Flandern gewesen. Rechts hatte ihm ein Granatsplitter den Gehörgang zerfetzt. In der Folge der Verletzung war er gestürzt und mit dem linken Ohr unglücklich auf den Wurzelresten einer Fichte zu liegen gekommen.
»Ich höre mit dem Bauch«, rief er jetzt verzückt seinen Kumpels zu, als er kurz innehielt. Und sofort danach setzte das Rattern wieder ein.
Franz war zufrieden und beunruhigt zugleich. Er kannte das und hatte sich bereits gefragt, ob er zu einem Arzt gehen sollte. Störungen des Gemüts – hatte er in einer Zeitung gelesen – konnten sich derart äußern. Er war in allem immer irgendwie hin- und hergerissen. Zum wiederholten Mal schlich er an der Botschaft vorbei, inspizierte die Baustelle von Weitem und machte sich Sorgen, ob die unterirdischen Arbeiten gut vorangingen.
»Na, meen Herr, broochn Se noch ’ne dritte B.Z.?«, fragte der Zeitungsverkäufer, der seinen Stand vor dem Ministerium des Inneren an der Ecke Schadowstraße hatte. Offenbar war Franz bereits zweimal hier gewesen, ohne sich jetzt daran zu erinnern. »Wat machen Se denn damit? Jekloot? Im Kranzler uff’m Tisch liejenjelassen? Oder hat Ihre Olle een flotten Durchmarsch?«
Ohne zu antworten, warf Franz ihm einen Groschen hin. Und vergaß dann prompt, die Zeitung mitzunehmen. Er wartete auf das erlösende Zeichen. Während hier oben Lärm gemacht wurde, gruben Wohlers und seine Leute unten den letzten Meter – so hatte der Mann die restlichen Arbeiten genannt – zum Botschaftskeller frei. Und der Mineur hatte ihn nicht dabeihaben wollen.
»Is nur wat für Fachleute«, hatte er gesagt. »Nüscht für unjut. Ick kenn mia aus. Inne letzte Meter liejn bei meene Burschn die Nerven uff stramm. Een Anfänger könn wa da nich jebroochn.«
Franz war sicher, dass es auch etwas mit diesem seltsamen Aberglauben zu tun haben könnte. Alle Tunnelgräber brachten vor der Arbeit eine Art Opfer dar, indem sie eine Zigarette, einen Pfennig oder ein Stück Wurst in den Zugangsschacht warfen. Wahrscheinlich glaubten sie, dass es Pech brächte, wenn ein Unkundiger vor Abschluss der Arbeiten am Ort der Grabung erschien.
Wohlers war vor einer halben Stunde nach oben gekommen. Er roch, als wäre er gerade aus einem Schweinekoben gekrochen. Franz hatte mit ihm verabredet, dass er wenigstens regelmäßig über den Fortschritt der Arbeiten informiert wurde. An der Ecke Schadowstraße und Mittelstraße sprachen jetzt beide über das weitere Vorgehen.
»Allet paletti. Wo Wohlers jräbt, kriejn de Würma vor Scham janz rote Backen.«
»Wie lange noch bis zum Durchbruch?«, fragte Franz nervös. Heute Nacht musste der Bruch über die Bühne gehen. Es gab wieder einen Empfang zu Ehren eines sowjetischen Helden der Revolution. Franz hatte den Eindruck, dass die Russen jede Gelegenheit nutzten, um zu feiern. Katja hatte von ihrem Bekannten erfahren, dass in der Botschaft demnächst ein paar Posten neu zu besetzen waren. Einen Wechsel des Personals konnte man durchaus nutzen, um das Rote Erbe unauffällig nach Moskau zu schaffen. Dann wäre die gesamte Planung umsonst gewesen. Franz brauchte einen – auch finanziellen – Erfolg. Immerhin hatten die Arbeiten in der Kanalisation schon dreitausend Mark verschlungen.
»Ick denke, jejen fünfe sind wir so weit«, erwiderte Wohlers. »Wann soll et rumsen, Herr Sass?« Er blickte stolz auf die Armbanduhr, die ihm Franz geschenkt hatte.
»Sind Sie sicher, dass Sie die Mauer mit der Sprengung nicht bereits komplett durchbrechen werden?«, fragte Franz.
»Wolln Se mia beleidijen? Wenn ick dat Material kenn, saje ick dir mit eenmal Kloppen, wie dick dat Janze is.«
Franz hatte die Karte der Kanalisation dabei und schätzte mit dem Maßstab die Wanddicke des Botschaftskellers auf stolze vierzig Zentimeter.
»Würde sajen, ick mache dreißig mit der Sprengung mürbe, die restlichen acht schlajn meene Jungs mit der Hacke uff.«
»Sie glauben, es sind genau achtunddreißig?«, fragte Franz verblüfftt. »Einmal Klopfen, und sie können das abschätzen?«
»Nee, nich schätzen. Dann weeß ick es.«
»Also gut, um Punkt halb sechs sprengen Sie. Nach meinen Informationen ist in den Kellerbüros um fünf Feierabend. Gleich danach macht ein Wachmann eine Runde, danach zu jeder vollen Stunde. Zwei Minuten vor halb sechs fangen wir hier oben an, noch mal richtig Lärm zu machen. Ich denke, das Getöse hört man bis unten?«
»Halbe sechse?« Wohlers nickte. »Kann ick mia noch aufs Ohr hauen. Glück auf, Kamerad!« Bei diesen Worten stand Wohlers bereits wieder im Einstieg und zog einen Augenblick später den schweren Stahldeckel übers Loch. Selten war sich Franz bei einer wichtigen Unternehmung derart nutzlos vorgekommen. Er konnte nur abwarten. Joe und Erich würden gegen fünf mit einem Henschel-Lastkraftwagen aus Sternweins Fuhrpark eintreffen. Für Außenstehende musste es aussehen, als wäre nur eine weitere Arbeitsschicht beendet.
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Kurz vor der vereinbarten Zeit gab Hans Kruse sein Bestes. Beinahe verzückt brach er mit dem Flottmann-Hammer Asphalt und Betonteile auf. Maschine und Mensch wurden eins, und Franz, der die Szene unruhig aus der Entfernung beobachtete, fragte sich, ob nicht Fritz Lang hier ein paar Einstellungen für seinen Film hätte drehen können. Entnervt wechselten Passanten die Straßenseite, verschreckt rissen sich zwei eben noch arrogant flanierende Pudel von ihren Leinen los, ein paar bayrische Touristen fluchten derbe, und selbst die Automobile schienen respektvoll in kleinem Bogen um den Lärm herumzufahren. Franz sah, dass nacheinander alle Fenster der sowjetischen Botschaft geschlossen wurden. Der Pförtner trat aus seiner Loge, hob die Faust und schimpfte. Gerade diese Szene hatte etwas Komisches, da sie trotz der alle Sinne betäubenden Kakophonie des Drucklufthammers an einen Stummfilm erinnerte. Der kleine, dicke Russe stand am Zugang des Gebäudes und pöbelte, was das Zeug hielt. Aber aus einigen Metern Entfernung schien es, als täte er es ohne Stimme. Franz stand an der Ecke zur Behrenstraße und sah auf die Uhr. Um genau halb sechs tat er, als wollte er sich die Schuhe binden, und legte seine Zeitung neben sich auf den Gehsteig. Seine flache Hand berührte kurz den Boden, und er spürte das Vibrieren des Flottmann, der zwanzig Meter weiter um die Ecke seinen Stahlstachel in den Stein trieb. Und da. Nur einen Augenblick lang schien sich eine weitere Welle der Erschütterung durch das Erdreich zu bewegen.
Sie haben gesprengt, dachte Franz. Das leichte Zittern, das den Boden erfasst hatte, war sofort wieder vorüber. Aber er befürchtete, dass die Mitarbeiter der Botschaft das kleine Beben bemerkt haben könnten. Er zwang sich, langsam und ruhig durchzuatmen. Fast hätte er vergessen, sich wieder aufzurichten, wurde jedoch von einem älteren Mann, der hastig das Weite suchte, fast über den Haufen gerannt.
»Machen Se een Picknick, meen Juter? Oder is dit een kleenes Nickerchen?«, vernahm er die typische Berliner Art einer Entschuldigung.
Kurz darauf beendete Kruse vorn an der Hauptstraße sein infernalisches Solo. Der Russe pöbelte immer noch aus der Pförtnerloge heraus und hielt erst inne, als die drei angeheuerten Bauarbeiter mit einem lauten Feierabendruf aus der Grube stiegen. Franz blickte zur Schadowstraße hinüber, wo kurz darauf Wohlers aus dem Kanalschacht stieg und sich eine Zigarette anzündete. Das vereinbarte Zeichen, dass alles geklappt hatte. Jetzt hieß es abwarten. Wenn die Leute in der Botschaft in den nächsten Minuten ruhig blieben, dann konnten sie die nächste Phase des Plans in die Tat umsetzen. Franz drehte noch einmal eine große Runde und hielt vorn an Unter den Linden und hinten an der Behrenstraße nach ungewöhnlichen Aktivitäten Ausschau. Aber weder tauchten Sicherheitsleute der Botschaft auf noch gab es Hinweise dafür, dass die deutsche Polizei gerufen worden war. Alles war zu gekannter Ordnung zurückgekehrt. Es schien, als wollte man die wieder zurückgewonnene Idylle an der Prachtstraße – das mahnende Klingeln der Tram-Bahnen, das nervige Quäken der Autohupen, die allgegenwärtigen Verwünschungen und die flüchtigen Grußworte von Passanten sowie das Rufen der Zeitungsjungen – in vollen Zügen genießen.
Franz ging ins nahe gelegene Café Kranzler, um sich bei einer Melange und einem Kognak zu beruhigen. Wie verabredet, erschien um halb sieben Joe Fischer.
»Erich steht mit dem Lieferwagen in der Mittelstraße«, sagte er, nachdem er den Freund kurz begrüßt und sich ebenfalls etwas bestellt hatte.
»Was sagt Wohlers?«
»Läuft wie geschmiert. Sie räumen gerade den Schutt weg, damit wir nachher freie Bahn haben«, erwiderte Fischer. »Ich habe gesagt, dass du in deinen besten Lackschuhen kommst. Er soll gefälligst sauber machen und lüften.«
Er grinste unverschämt. Sein Plan, sich zur Ruhe zu setzen, schien vergessen. Er hätte es sich leisten können, denn im letzten Jahr waren ihm einige lukrative Raubzüge durch die Villen am Grunewald, in Schmargendorf und Pankow gelungen. Franz spürte jedoch, dass der Freund nun ebenso im Jagdfieber war wie er selbst. Denn das war es für sie, eine Jagd. Die Phase der Vorbereitungen war abgeschlossen. Und Franz hatte die vergangenen Tage qualvoll erlebt, was es hieß, auf der Lauer liegen, Ruhe bewahren und die Ungeduld zügeln zu müssen. Zu seiner eigenen Schande musste er sich eingestehen, dass er an diesen Anforderungen einer Jagd kläglich gescheitert war.
Aber heute Nacht hatte das Warten endlich ein Ende. Er verdankte Fischer, dass er beinahe jeden Kniff und Trick kannte, der Verschlossenes öffnete. Türen, Truhen, Schränke waren kaum noch eine Herausforderung für ihn. Tresore und Geldschränke schon eher. Sie wussten nicht einmal, was genau sie im Keller der Botschaft erwartete. Zunächst hatte dieser Umstand Franz sogar Angst gemacht. Aber dann war sie einem reizvollen Gefühl der Neugier gewichen. Um an ihre Beute zu gelangen, mussten sie sich auf Terrain bewegen, das sie nicht kannten. Und gerade hierdurch wurde die Sache richtig interessant.
»Nicht nur Alkohol oder Rauschgifte können dich umbringen«, meinte Fischer gerade. »Unsere Art von Sucht ist kein bisschen besser.«
»Alles bereit?«, fragte Franz, ohne auf die Bemerkung einzugehen. »Du bist mit Erich alles durchgegangen?«
»Ausrüstung und Klamotten liegen im LKW«, antwortete Fischer und nickte. »Bleibt es beim Zeitplan? Wir brechen gegen neun durch die Wand?«
»Nach dem Neun-Uhr-Rundgang der Wachen.« Franz öffnete seine Aktentasche und zog ein Hörrohr daraus hervor, wie es von Ärzten benutzt wurde. »Wohlers meint, dass wir damit alles hören, was auf der anderen Seite geschieht. Unter der Erde werden Geräusche anders fortgeleitet.«
»Hoffen wir, dass es stimmt«, sagte Fischer, der das Gerät bisher nur nutzte, um Zahlenschlössern zu Leibe zu rücken.
»Um acht beginnt der Empfang des Botschafters.« Franz sah auf die Uhr. »Die Kerle von der Geheimpolizei werden dann jedes Mal vollständig abgezogen, damit niemand Verdacht schöpft. Sagt jedenfalls Katjas Informant. Danach gibt es für den GPU-Trakt nur eine Art Kellerwache oben und unten am Treppenzugang. Vier Mann, gekleidet in Livree. Die Vernehmungsräume, die Büros und der Tresorraum sind dann unbesetzt. Zu jeder vollen Stunde erfolgt allerdings ein Kontrollgang.«
»Wie kriegt deine hübsche Russin solche Sachen immer raus? Kann sie die Gedanken der Leute lesen, oder steigt sie mit jedem ins Bett?«
»Blödsinn. Ja, sie ist hübsch, aber sie steigt gerade nicht mit jedem ins Bett. Wie du sehr gut weißt, kann es einen verrückt machen, wenn sich etwas nicht knacken lässt.«
Fischer schwieg, nickte und nippte an seinem Tee.
Nachdem Franz gezahlt hatte, gingen sie die Friedrichstraße ein kurzes Stück hinauf, um gleich links in die Mittelstraße einzubiegen. Am Ende der Straße stand der Henschel, und Erich Sass lehnte gegen die Ladefläche und rauchte. Beide Männer nickten ihm nur zu und stiegen dann schnell in die Fahrerkabine. Von dort gab es einen direkten Zugang zum Laderaum. Sie wechselten die Kleidung und standen wenige Minuten später als Monteure wieder auf der Straße. Wohlers hatte seine Männer angewiesen, eine Zeltplane über dem Kanalzugang in der Schadowstraße zu errichten. Franz, Erich und Joe luden ihre Ausrüstung auf einen Handkarren und stellten ihn am Zeltzugang ab. Auf diese Weise bemerkte niemand, dass Gasflaschen, Brenner und anderes schweres Gerät ihren Weg zum Schacht fanden. Alles wirkte, als luden ein paar Arbeiter neues Gerät ab, damit der Terror am nächsten Tag pünktlich zu Schichtbeginn fortgesetzt werden konnte. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, war es so weit. Franz stieg hinter Wohlers in die Unterwelt hinab. Sie gingen vorsichtig den Weg entlang, den Franz von den zwei vorherigen Begehungen schon kannte. Er war in seltsamer Hochstimmung. Wie beim Fußball, kurz vor dem Anpfiff. Oder bei der ersten Verabredung mit einem Mädchen. Man wusste in solchen Momenten nicht, was geschehen würde. Ein Teil des Reizes lag vielleicht gerade darin, dass so vieles schieflaufen konnte.
»Mensch, schau auf deine Füße, Franz«, wies ihn Fischer an, als er ihn zum zweiten Mal am Arm packte und davor bewahrte, in die trübe Brühe zu fallen. »Denk dran, mit Faulgasen in der Unterhose können wir den Schneidbrenner nicht benutzen. Explosionsgefahr!« Er lachte.
Franz hatte nur Augen für den Seitenkanal, den Zubringer aus der Behrenstraße, der am Keller des Botschaftsgebäudes vorbeiführte. Er sah, dass die Tunnelgräber dort einen Haufen Schutt und Erdreich abgeladen hatten. Tatsächlich war der Gang aber gut passierbar. August Wohlers stand beim Durchbruch zur Kellerwand und winkte sie mit dem gesunden Arm zu sich.
»Immer herein in die gute Stube.« Wieder hatte er hier unten seinen Berliner Dialekt abgelegt. Er wies auf das etwa einen Meter durchmessende Loch. Die beiden jungen Ganghauer, die für die Erdarbeiten verantwortlich waren, hatten sich als äußerst fähig erwiesen. Der Schacht war derart sauber herausgearbeitet, dass Unbeteiligte ihn sogar für einen herkömmlichen Teil der Kanalisation halten konnten. Ein Zimmermann hatte ihn zudem fachgerecht durch drei Türstöcke gestützt.
Die Kerle sind ihr Geld wert, dachte Franz und nickte anerkennend. Er ging gebückt ins Dunkel und zog seine Vohwinkel-Stableuchte erst aus der Jackentasche, als er sich den Kopf an der Spreize gestoßen hatte. Leise fluchend stand er kurz darauf vor einer Mauer, die aussah, als hätten hundert Krähen an ihr gepickt.
»Wie viel Wand haben wir nach der Sprengung noch vor uns?«, fragte er nach hinten.
»Halber Stein, mehr nicht«, erwiderte Wohlers, dessen Stimme dumpf klang. »Drei Hiebe und wir sind durch.«
Es war acht Uhr. Franz trat wieder aus dem Gang und wies Fischer an, hineinzugehen. Der Mann zog sein altmodisches Hörrohr aus seinem Werkzeugkoffer. Franz hatte ihn mehrmals bei ihren gemeinsamen, illegalen Unternehmungen damit vor Tresoren hocken sehen.
»Wie der Arzt Herz und Lunge prüft, so horche ich ebenso auf die Eingeweide der mir Anvertrauten«, hatte er erklärt. Für Franz waren die feinen Geräusche der Schließzylinder, Zahnräder, Schieber und Zapfen allerdings ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Wahrscheinlich fehlte ihm dazu schlicht die Geduld. Joe Fischer ging in den Schacht, und Franz folgte ihm. Der Tresorknacker legte sein Hörrohr an die Wand und bedeutete mit dem Zeigefinger an den Lippen, dass alle schweigen sollten.
»Ruhe da vorn«, gab Franz die Anweisung an die anderen Männer weiter.
Es wurde still, und Fischer lauschte. Nach zwei endlos langen Minuten drehte er sich zu seinem Freund um. Er sah auf seine Armbanduhr.
»Wie du gesagt hast, Franz. Nach acht ist offenbar alles ruhig.«
»Bist du sicher? Vielleicht sind Wände aus Stein anders als Stahlplatten.«
»Ich höre drüben im Raum das Ticken einer Uhr«, entgegnete Fischer in gereiztem Tonfall. »Wohlers hatte recht. Man hört hier unten alles klar und deutlich. Da ist nur die Uhr, sonst nichts.«
»Wozu warten? Wir könnten doch jetzt schon loslegen«, schlug Erich vor. »Wohlers meint, es sind nur drei Schläge.«
»Du hast gesagt, dass wir erst nach dem Wachgang um neun beginnen«, sagte Fischer und blickte Franz an. »Entweder machen wir es ordentlich oder gar nicht! Wozu ein Plan, wenn wir uns nicht daran halten?«
Sie gingen zum Zentralkanal zurück und setzten sich auf ein paar Bretter. Hier unten durften sie nicht rauchen. Ein Gespräch wollte auch nicht in Gang kommen, denn jedes Wort klang seltsam. Und die Anspannung der Männer wuchs von Minute zu Minute.
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Sie mussten es wagen. Dieser Augenblick war der schwächste Teil ihres Vorhabens. Eine Wache oder ein Büromitarbeiter konnte auf der anderen Seite ein Nickerchen halten. Oder etwas vergessen haben und kurz in die Räume zurückkehren. Und natürlich würde er sofort Alarm schlagen, wenn sie durch die Wand brachen. Für diesen Fall hielt Wohlers seinen Plan RF bereit.
»Rückzug und Flucht«, hatte er Franz grinsend erklärt. »Hat an der Front manchem Kameraden den Arsch gerettet.«
Der Zimmermann hatte einen Türstock so präpariert, dass sie im Falle einer Flucht nur einen Stempel wegstoßen mussten, damit der Gang hinter ihnen zusammenbrach. Auf diese Weise würden sie Zeit gewinnen. Sie wären bei Ihrem Lieferwagen in der Schadowstraße, bevor die Russen überhaupt ahnten, was geschehen war.
»Was ist?«, fragte Wohlers schließlich ungeduldig und blickte abwechselnd zu den drei Männern. »Bloß keine Scham. Nehmen Sie den Lehmann und dann fest zuschlagen.« Als weder die beiden Brüder noch Fischer Anstalten machten, den angebotenen Hammer zu nehmen, gab er ihn einem Arbeiter, der sie begleitete und die schweren Gasflaschen schleppte. »Na gut, dann lasst Freddy den letzten Schlag machen.«
Er erklärte ihnen, dass viele kleine Schläge auffälliger waren als ein paar gezielte, kräftige Hiebe.
»Wachleute und Soldaten ticken alle gleich«, sagte er. »Auf ein Niesen der Mäuse achten sie, aber die Dampflok hinter sich wird überhört.«
Nachdem Franz und Joe wieder im Nebenkanal standen, griff sich Wohlers kräftigster Ganghauer den Vorschlaghammer und verschwand im Schacht. Nur wenige Sekunden später hörten die Männer ein Krachen, gefolgt von Stille. Freddy war kurz darauf wieder bei ihnen.
»Kinkerlitzchen, eener war schon jenuch«, war sein knapper Kommentar. »Jeschafft.«
Obwohl ihm mulmig zumute war, ergriff Franz nun die weitere Initiative. Er war hier der Chef, und unter Ganoven ging es ehrlicher zu als bei den Pinkeln der feinen Gesellschaft. Sich wegzuducken oder jemanden vorzuschicken, kostete schnell das Ansehen. So etwas sprach sich herum. Bei der Mauer angekommen, staunte er über das große Loch, das dieser einzige Schlag verursacht hatte. Kurz lauschte er, dann steckte er den Kopf vorsichtig hinein, um den dahinter liegenden Kellerraum zu inspizieren. Nichts. Besser gesagt, niemand. Einen Moment lang überlegte Franz, ob er die Mauerreste abtragen sollte. Aber er entschied anders, es wäre nur Zeitverschwendung. Er wies seinen Bruder und Joe an, ihm in den Kellerraum zu folgen. Sie würden sich zunächst orientieren müssen. Nachdem die Tunnelgräber den Zugang sauber freigelegt hatten, würden sie die Ausrüstung durchreichen. Joachim Fischer stieß einen leisen Pfiff der Überraschung aus.
»Sind wir schon im Tresor?«, fragte er, als er die Regale betrachtete, auf denen mehrere dicke Bündel Geld lagen.
Franz erkannte Mark, Dollar, britisches Pfund und natürlich Rubel. Daneben standen Kästchen, und als er sie öffnete, lagen darin einige Goldmünzen in denselben Währungen.
»Alles zusammen vielleicht drei- oder viertausend Mark, was denkst du, Joe?«, fragte er nervös.
»Und dafür der ganze Aufwand? Nicht dein Ernst.«
»Wohl kaum«, antwortete Franz und sah sich die zwei Tische an, die im Raum standen. Er nahm eine Art Kassenbuch und schlug es auf. Zwar konnte er die Schrift nicht lesen, aber einige Namen waren nicht russisch. In den Spalten daneben waren Notizen zu erkennen. Und schließlich waren dort Geldbeträge und Salden in verschiedenen Währungen vermerkt.
»Die Geheimpolizei braucht natürlich auch Geld«, meinte er. »Denn sie verdienen ja keins. Im Gegenteil, sie geben es für Waffen, Bestechung und Spitzel aus. Hier unten ist wohl eine Art Kassenraum, in dem ein paar Formalitäten geregelt und Beträge ausgezahlt werden. Quasi die Bank der Botschaft, wenn ihr mich fragt.« Er zeigte auf ein anderes Regal, in dem gut zwei Dutzend weitere Kassenbücher standen. »Nicht nur die Deutschen schreiben alles auf.«
»Wie viele von diesen Kerlen gibt es denn in Berlin?«, fragte Fischer erstaunt. »Müssen ja ein paar Dutzend sein, wenn sie in den paar Jahren schon so viele Bücher brauchten.«
»Keine Ahnung, aber Berlin könnte eine Art Schaltzentrale für die GPU in Europa sein«, erwiderte Franz. »Mit Paris, London und Rom verstehen sich die Sowjets nicht gut. Die deutsche Regierung allerdings ist froh, überhaupt Freunde zu haben. So ungestört wie hier können die Russen sonst nur in Moskau agieren.«
»Und jetzt?«
»Kleinvieh macht auch Mist, heißt es doch«, meinte Franz, nahm einen Beutel und warf zügig das Papiergeld und die Goldmünzen hinein. »Wenn die Pläne stimmen und Katja recht hat, dann müssen wir auf dieser Etage ein paar Türen öffnen. Und hoffen, dass wir den richtigen Raum finden.«
Der Grundriss, den Katja von Gnedin erhalten hatte, orientierte sich vor allem am für alle Angehörigen der Botschaft zugänglichen ersten Kellergeschoss. Ob die Räume hier ebenso aufgeteilt waren, musste sich erst zeigen. Und dann wüssten sie immer noch nicht, welcher Raum wie genutzt wurde und wo sich das Geld befand.
Fischer ließ sich nicht lange bitten und machte sich sofort daran, beinahe lautlos das Türschloss zu öffnen. Kurz darauf standen die Männer im Kellerflur, den sie im Lichtkegel ihrer Lampen absuchten. Franz war zunächst erschrocken, dass Fischer unverfroren in die Gänge leuchtete. Aber er musste zugeben, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass hier ein Wachmann im Dunkeln lauerte. Nach einer halben Stunde hatten sie mehrere Räume geöffnet und durchsucht. Sie fanden eine Zelle, in der die sowjetische Geheimpolizei offenbar ihre Verhöre durchführte. Zwar kannte sich Franz mit diesen Dingen nicht aus. Er hatte lediglich ein Buch gelesen, in dem es um Geheimdienste, Spitzel und Verhöre ging. Aber ein Stuhl hatte Lederriemen an den Armlehnen und an den vorderen Beinen. Und auf dem Tisch stand eine Lampe mit einer riesigen Glühbirne, die er bisher nur an den Decken des neuen Gebäudes am Flughafen Tempelhof gesehen hatte. Im Untersuchungsgefängnis Moabit wurden angeblich ebenfalls solche Lampen bei Vernehmungen eingesetzt. Das grelle Licht und die starke, abgestrahlte Hitze konnten einen Häftling komplett zermürben, wenn er stundenlang davor saß und vielleicht noch gefesselt war.
»Mitten in der Stadt«, schimpfte er leise. »In unserer Stadt! Diese GPU-Kerle tanzen uns auf der Nase herum.«
»Lass Luft ab, sonst platzt du noch«, ermahnte ihn Fischer. »Wir haben nicht unendlich Zeit. In einer Viertelstunde ist der nächste Wachgang. Erich, nimm das Hörrohr und stell dich vorn an die Zugangstür zum Gang.« Dann wandte er sich wieder an Franz. Also, wohin jetzt?«
Neben dem Verhörraum lag noch eine weitere Tür. Joe betrachtete sie einen Moment lang. Dann machte er sich an die Arbeit. Hier brauchte er mehrere Minuten, bis sich das Schloss endlich seinem Willen unterwarf.
»Je härter die Arbeit, desto süßer das Brot«, meinte er grimmig, als er in das Zimmer trat. Wieder pfiff er durch die Zähne.
Franz erkannte sofort, dass sie am Ziel waren. Anhand des Grundrisses musste es sich um einen großen Raum handeln, da der Kellerflur noch etwa zehn Meter weiter nach rechts führte, ohne dass dort eine Tür zu erkennen war. Beide Männer standen jetzt in einem kleinen Vorbereich, den ein Stahlgitter von einem Gang abtrennte. In diesem befanden sich drei große Tresortüren in Stahlzargen.
»Wahnsinn!«, sagte Fischer. »Hier sieht es aus wie bei der Deutschen Bank oder im Keller von Wertheim. Entweder haben sie die Wertschränke hier zusätzlich eingemauert. Oder die Räume selbst sind die Tresore.« Er trat an die Türen heran und musterte sie eingehend. »Verdammt.«
»Was ist?«, fragte Franz.
»Zwei Panzer und ein Döttling.«
Die Türen der Panzer AG galten unter Fachleuten als extrem sicher und unter Ganoven als unknackbar. Insgesamt vierzehn Querbolzen, vier Längsbolzen und knapp zehn Zentimeter Stahl sicherten alles dahinter vor unbefugtem Zugriff.
»Da sind wir in fünf Stunden nicht durch!«, stöhnte Fischer. »Es wäre einfacher, von außen durch die Wand zu gehen.«
»Hin oder her. Wir müssen alle öffnen«, meinte Franz und machte sich bereits an dem Gittertor zu schaffen, das einen kleinen Vorraum sicherte.
»Von drei war nicht die Rede, Franz. Wenn es gut läuft, haben wir den Döttling in zwei Stunden offen. Aber ein Panzer?« Fischer legte beide Hände an den Kopf.
»Mit deinem Fingergeschick und dem Hörrohr ist da nichts zu machen?«, fragte Erich, der sich fasziniert umsah.
Fischer schüttelte den Kopf. Alle drei Tresortüren wiesen diese neuartigen Doppel- und Dreifachsicherungen auf. Das Zahlenschloss konnte Fischer vielleicht knacken, aber sie hatten natürlich keine Schlüssel für die beiden anderen Sicherheitsschlösser. Und ein Dietrich wäre hier etwa so hilfreich wie ein Taschentuch beim Schuhanziehen.
»Welche zuerst?«, fragte Fischer schließlich und klatschte demonstrativ in die Hände. Als Franz nur die Schultern hob, seufzte er und wandte sich dem Döttling-Tresor zu.
Sie legten sich das Werkzeug zurecht, das sie brauchten. Vornehmlich waren dies der Schneidbrenner, das Gas und der Sauerstoff sowie Handschuhe und Gesichtsschutz. Danach mussten sie eine Pause einlegen und löschten sogar das Licht ihrer Lampen. Vom Gang draußen drang das Geräusch sich nähernder Schritte an ihre Ohren. Hin und wieder prüfte der Wachmann offenbar, ob Türen verschlossen waren. Zunächst wurden die Schritte lauter, kurz darauf entfernten sie sich jedoch wieder. Die Männer schalteten ihre Lampen wieder ein, und Erich gab von der Tür aus Entwarnung, nachdem er nochmals nach draußen gehorcht hatte.
»Du siehst dich weiter im Keller um«, wies Franz seinen Bruder an. Er gab ihm die Tasche mit dem hinlänglich normalen Werkzeug für Einbruchdiebstähle. »Ich vermute, dass sich hier irgendwo eine Art Gefängnistrakt mit Zellen befindet. Katja meinte zwar, dass sie die Gefangenen über Nacht nur während des Rundgangs aufsuchen, aber sei trotzdem vorsichtig. Erst horchen, dann arbeiten!« Er zeigte auf das Hörrohr.
»War ja klar, dass ich der Gelackmeierte bin«, wandte Erich ein. »Für die dämlichen Sachen bin ich gut genug. Wie damals vor dem Adlon. Schmiere stehen und rufen, wenn es brenzlig wird.« Er funkelte seinen Bruder böse an. »Mensch, ich dachte, du nimmst mich mit, damit ich was lerne!«
»Du hast Joe gehört«, entgegnete der Ältere. »Wir werden Stunden brauchen. Da bleibt noch genug Zeit, um dir an unserer Seite die Seele aus dem Leib zu schwitzen.«
Als wollte Fischer diesen Worten Nachdruck verleihen, entzündete er die Flamme des Schneidbrenners. Augenblicklich begann sich die Strahlungswärme auszubreiten. Er drehte an der Zufuhr des Propangases und Sauerstoffs, bis er mit dem Flammenbild zufrieden war.
»Kannst hier gleich was aufschnappen, junger Mann«, sagte er zu Erich. »Dunkles Blau bedeutet, dass zu viel Propan kommt. Dann ist die Temperatur zu niedrig. Wird es rot, dann hast du zu viel Sauerstoff drin. Sie springt dann von der Spitze des Brenners weg. Die Flamme wird zu heiß. Mit Blau stehst du in einer Woche noch hier. Mit Rot bringst du den angrenzenden Stahl zum Schmelzen. Mit etwas Pech setzt er dir die Bolzenläufe und Scharniere zu. Dann hilft nur noch die Dicke Bertha.«
»Woher weiß ich, dass es richtig ist?«
»Irgendwo zwischen Blau und Rot passt es. Dann machst du eine Probe am Material und schaust, ob du das Metall gerade eben zu Schlacke verbrennst. Langsam schneiden, Schlacke abklopfen. Denn zu schnell bedeutet, dass es wieder zu heiß ist.«
Sichtlich zufriedener machte sich Erich auf den Weg, die restlichen Kellergänge und Räume zu erkunden. Franz und Joe zogen ihre Jacken und Leinenhemden aus und tauschten sie gegen dünnen, aber festen Lederschutz. Dann setzten sie die Schweißmasken vors Gesicht und streiften Handschuhe über. Bereits nach wenigen Minuten verfluchte Franz sein illegales Laster. Es wurde schnell unerträglich heiß, als Fischer und er abwechselnd den Brenner schnurgerade durch den winzigen Spalt zogen, den die Döttling-Tresortür umlaufend freiließ. Während der eine schnitt, kratzte der andere die entstehende Schlacke fort.
»Ich kenne das Fabrikat nicht so genau«, meinte Fischer nach einer Weile, als sie eine Pause einlegten. »Die Tresorbauer haben deutliche Fortschritte gemacht.« Er grinste. »Und von uns gelernt.«
»Hoffentlich hat das Ding keine Schmelzsicherung wie der Kärcher von Hugenberg.«
»Den Mutigen der Sieg!«, rief Fischer. »Zitat von unserem ollen Hindenburg.«
»Sehr tröstlich. Siehst ja, wohin es geführt hat.«
Nach gut einer Stunde war es im Raum kaum noch auszuhalten. Der von der Stirn rinnende Schweiß brannte den Männern in ihren Augen. Und manchmal gab es ein Zischen, wenn sie sich kurz schüttelten und die Tropfen auf den heißen Stahl trafen. Fischer sollte Recht behalten, sie brauchten knapp zwei Stunden, um die Döttling-Tür zu öffnen. Tatsächlich befand sich dahinter ein großer, begehbarer Tresorraum, wie ihn die Bankhäuser etwa für Schließfächer verwendeten. Der Raum maß etwa zwei mal vier Meter. Innen waren an allen Wänden einfache Schwerlastregale aus Metall angebracht, auf denen in kleinen, offenen Fächern große Mengen Schmuck lagen. Franz konnte kaum glauben, was er sah. Sie fanden Ringe und Ketten aus Gold. Diademe, die mit Diamanten oder Saphiren besetzt waren. Pralle Beutel, gefüllt mit losen Edelsteinen und Perlen. Alles wirkte eher unordentlich, als wäre es achtlos dorthin gelegt worden.
»Das Rote Erbe«, flüsterte er beinahe ehrfürchtig, und fast im selben Moment dachte er an die vielen Geschichten, die mit jedem Schmuckstück verbunden sein mochten. Und er ahnte, dass es sich eher um unschöne Geschichten handelte. Er sah die russischen Bauern, Handwerker und Bergleute, allesamt Leibeigene, die sich ihre Rücken krumm geschuftet hatten, um den Adligen ihren Reichtum zu erwirtschaften. Dann hatten vor nicht einmal zehn Jahren die Bolschewiki den Ausbeutern ihre Köpfe eingeschlagen oder sie vertrieben. Und nun suchte die sowjetische GPU im Ausland nach dem Vermögen der Emigranten, nach verborgenen Konten der Ermordeten und dem sagenhaften Schatz der Zarenfamilie. Jedes Teil, das sie hier fanden, stand in einer blutigen Reihe von Ereignissen.
»Was für ein Erbe?«, fragte Fischer.
Er kannte nicht alle Einzelheiten der Unternehmung. Für ihn war dies ein aberwitziger Coup, ein tollkühner Bruch, bei dem es ordentlich etwas zu holen gab. Gerade hob er eine Halskette an, deren Perlen mit einen großen Opal um die Wette strahlten. Er ließ sie in einen Jutebeutel gleiten.
»Allein für das Ding bekommen wir einen Tausender«, ließ er Franz wissen. »Also, von welchem Erbe sprichst du?«
»Die Geheimpolizei rafft alles Geld im Ausland zusammen«, erwiderte Franz. »Die Bolschewisten halten sich für die rechtmäßigen Eigentümer des Vermögens, das die reichen Flüchtlinge damals aus Russland herausgeschafft haben. Und wie bei solchen Aktionen üblich, hat man dem Ganzen noch einen schmissigen Namen gegeben. Rotes Erbe.«
Er war unschlüssig, was er von dem Fund halten sollte. Er hatte gehofft, dass sie hier Mark oder Dollar finden würden. Schließlich wollten die Sowjets mit ihrem Roten Erbe die Schulden im Ausland tilgen. Der Schmuck war sicherlich eine Menge wert, keine Frage. Aber was sollten er und das Syndicat damit anfangen? Sobald sie zu viel von diesem Zeug auf den Markt brachten oder an Hehler veräußerten, würde man ihnen früher oder später auf die Schliche kommen. Mehr noch, dann hatten sie es mit zwei gefährlichen Gegnern zu tun. Die alte, russische Oberschicht hatte immer noch Einfluss und würde ihr Eigentum zurückfordern. Und an die Vergeltung der Sowjets, die die Wertsachen für sich beanspruchten, wollte er jetzt gar nicht erst denken.
»Wir müssen die Panzer-Tresore öffnen«, entschied er.
»Bist du noch bei Trost? Wir brauchen bis zum Morgen für einen einzigen. Und danach sind wir am Ende. Da können wir nicht einmal mehr einen Zehnmarkschein heben.«
»Wir müssen an die Moneten kommen, Joe! Es ist zu auffällig, nur den Schmuck zu verkaufen. Zehn oder zwanzig Teile vielleicht, aber danach weiß jeder in der Stadt, dass der Sass ein bisschen Geschmeide geklemmt hat. Ich will nicht als Häftling der GPU hier unten enden!«
Sie blickten sich nur kurz an, sahen dann auf die Uhren und schienen denselben Gedanken zu haben. Jeden Moment würde wieder ein Wachmann vorbeikommen. Wo war Erich?
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Der jüngste Sass-Bruder hatte sich zunächst an den Schlössern mehrerer Kellerräume zu schaffen gemacht, die allesamt Büros waren. Meist standen drei oder vier Tische und Stühle darin, dazu übervolle Aktenregale und einige verschlossene Schränke. Papier, Stempel samt Kissen und Hefter erinnerten an die typischen Amtsstuben der deutschen Verwaltung. Eher lustlos nahm Erich ein paar Ordner aus den Regalen und blätterte darin. Er fand Lebensläufe und Berichte, offenbar von Spitzeln und Informanten. Mehrere Leitz-Hefter trugen die Aufschrift »KP Deutschland«. In dem ersten fand er sogenannte Lageberichte und »Einschätzungen interner Beobachter«. Weitere enthielten wiederum Namen und jeweils kurze Berichte, die regelmäßig aktualisiert wurden. Auch über andere Parteien und deren Vertreter wurde hier akribisch Buch geführt. Erich vergaß natürlich nicht, dass zur vollen Stunde ein Wachmann seine Runde machte. Um keinen Verdacht zu erregen, verschloss er alle Türen wieder sorgsam, nachdem er die Räume durchsucht hatte. Gegen zehn versteckte er sich in einem Büro und verhielt sich still, bis die Schritte wieder verhallten. Es wunderte ihn, dass der Keller scheinbar kein Ende nahm. Dummerweise hatte Franz den Grundriss behalten, so dass Erich versuchte, sich das Gebäude der Botschaft vorzustellen. Wenn man auf dem Bürgersteig daran vorbeiging, maß es vielleicht dreißig Meter in der Breite. Hier unten schienen daraus hundert geworden zu sein. Er fand ein weiteres Vernehmungszimmer, eine unverschlossene Besenkammer, zwei Ruheräume und eine Küche. Schon wunderte er sich, ob Kommunisten keine menschlichen Bedürfnisse hatten, als er am Ende des langen Ganges die Toilettenräume fand. Und endlich kam er zu den letzten drei Türen, die ihn sofort an die typischen Zellentüren aus Moabit oder Plötze erinnerten. Alle hatten eine Sichtklappe in Augenhöhe und weiter unten eine Durchreiche. Er öffnete vorsichtig die Klappe der ersten Tür und blickte in tiefste Schwärze.
»Jemand da drinnen?« Er flüsterte kaum hörbar, wiederholte die Frage dann etwas lauter. Schon die Schritte seiner Schuhe, obwohl vorsorglich durch Stoffüberschuhe gedämpft, wirkten in der Grabesstille des Kellergeschosses, als würde die sprichwörtliche Sau durchs Dorf getrieben. Zumindest hatte er selbst diesen Eindruck. Er wiederholte die Prozedur bei der zweiten Zelle, und dieses Mal erhielt er eine Antwort. Allerdings waren es für ihn unverständliche Worte, und er erschrak zunächst, als er Russisch erkannte. Gerade wollte er die Klappe zuschlagen, als er der Gefangene seinen Namen nannte.
»Ich heiße Walter Annuscheit. Wer sind Sie?«, kam es zögerlich aus der Dunkelheit.
»Sitzt in der dritten Zelle noch jemand?«, fragte Erich. Als Annuscheit verneinte, fuhr er fort: »Ich öffne jetzt die Tür. Sie kommen mit mir.«
»Wer sind Sie?«, wiederholte der Mann seine Frage.
»Der Graf von Monte Christo«, gab Erich genervt zurück, da sich das Zellenschloss als widerspenstig erwies. »Ist doch egal. Ihr Freund Kutisker schickt uns.«
»Uns?«
Der Gefangene gab für einen Augenblick Ruhe, als Erich nicht reagierte. Aber nach kurzer Zeit erschien er aufgeregt an der geöffneten Klappe und schlug mit der flachen Hand aufs Metall. »Klar! Sie gehören zu diesem Sass, nicht wahr? Oder etwa zur Truppe von Ehrhardt?«
»Hast du sie noch alle?«, rief Erich aufgebracht. »Haben die Kerle dir das Hirn zu Mus gehauen? Halt die Klappe, und mach nicht so viel Lärm! Ich arbeite.«
Der berüchtigte Vorführeffekt oder die Anspannung ließen Erichs Hände zittern und schwitzen, so dass er geschlagene zehn Minuten brauchte, um das Zylinderschloss zu knacken. Schließlich riss er die Tür auf. Er erkannte Annuscheit von einer Fotografie, die dessen ehemaliger Arbeitgeber Franz überlassen hatte. Der Mann hatte blutunterlaufene Augen sowie Schwellungen an Stirn und Jochbein. Die aufgeplatzten Lippen gaben ihm das Aussehen eines Verdurstenden.
»Zimperlich sind diese Leute nicht«, meinte Erich und winkte den Häftling aus der Zelle heraus.
»Gib einem Idioten einen Knüppel, und er denkt sofort, er wäre Gott.« Annuscheit blinzelte gegen das spärliche Licht.
»Können Sie gehen?«, fragte Erich, als er sah, dass sein Gegenüber leicht schwankte und sich an der Wand abstützte.
»Ein bisschen Schwindel, sonst ist alles in Ordnung.«
Erich wollte die Tür verschließen, sah dann jedoch erneut auf seine Uhr. In der Ferne war ein Klacken zu hören. Die Zwischentür zum Bürotrakt.
»Los, wieder rein da!«, zischte er und schob Annuscheit, der sich sträubte, wieder in die Zelle. Gerade hatte er die Zellentür geschlossen, als Schritte näher kamen.
Verdammt, dachte er. Die Sichtklappe. Er hatte vergessen, sie zu schließen, so dass die Geräusche von draußen gut zu hören waren und das Licht der Glühfaden-Lampen ins Innere schien. Er presste sich an die Wand und wies Annuscheit an, sich auf die Pritsche zu legen. Keinen Moment zu früh, denn bereits einen Augenblick später drang der Gestank von Knoblauch und Wodka durch die Öffnung. Der Wachmann brüllte etwas auf Russisch. Und Annuscheit erwies sich als guter Schauspieler, als er so tat, als hätte ihn der Mann gerade geweckt. Er antwortete und drehte sich auf seinem Nachtlager wieder zur Wand. Die Klappe flog mit einem Knall zu. Kurz darauf entfernten sich die Schritte.
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»Nehmen wir uns ein paar Sachen und verduften«, versuchte Fischer erneut, seinen jüngeren Freund zu überzeugen. »Mit dem Geld aus dem ersten Raum haben wir fünfzigtausend. Wahrscheinlich mehr. Mensch, das reicht doch!«
Franz überlegte nur kurz. Vielleicht kannte Sternwein einige Hehler. Aber wahrscheinlich würde sich niemand die Finger verbrennen wollen. Er schätzte, dass sie für einen vollen Sack Schmuck gerade mal zehn- oder zwanzigtausend bekommen würden. Und dann mussten sie das volle Risiko tragen. Die Russen hingegen konnten das Zeug zur Not einschmelzen. Oder sie ließen es umarbeiten. Und sicherlich kannten sie genug Leute aus höheren Kreisen, die gutes Geld für ein Relikt aus der Zarenzeit zahlten.
»Wir öffnen den zweiten Tresor, Joe«, beharrte er auf seiner Entscheidung.
Fischer antwortete mit einer Kanonade wüster Beschimpfungen, die sich weniger gegen den Freund als vielmehr gegen widerspenstige Tresore, die stinkende, erhitzte Luft und gegen das unverständige Leben allgemein richteten. Dann jedoch lenkte er kopfschüttelnd ein. Sie legten eine kurze Verschnaufpause ein. In diesem Moment betrat Erich mit dem stark lädierten Annuscheit den Vorraum.
»Ich werde Ihnen ein paar Runden im Boxring bei meinem Kumpel spendieren, Annuscheit«, sagte Franz wütend, nachdem er seinen Bruder zu dessen Erfolg beglückwünscht hatte. »Zum Dank für ihre Flucht. Für das verdammte Regal, das mir auf den Kopf gekracht ist. Und für die Nacht auf der Wache.« Er tat so, als wollte er dem Mann zwei oder drei Hiebe verpassen. »Aber ich sehe, man hat sie hier in der Botschaft bereits ausreichend körperlich versorgt. Gastfreundschaft wird bei diesen Burschen groß geschrieben.«
»Ich gebe zu, es war ein Fehler«, murmelte Annuscheit. »Aber offenbar sind Sie nicht nur meinetwegen gekommen.« Er deutete auf die Ausrüstung und den aufgebrochenen Döttling.
»Wäre auch zu viel der Ehre«, erwiderte Franz in bissigem Tonfall. Er griff in die Tasche mit den Werkzeugen und zog ein Handeisen heraus. Es war ein neueres Modell, leichter und mit Kette anstatt Metallstange. »Die Dinger nehme ich Ihnen erst wieder ab, wenn wir von Ihnen und Kutisker erfahren haben, was wir wissen wollen.« Er forderte Annuscheit auf, die Hände nach vorn zu strecken. Danach wandte er sich an seinen Bruder.
»Gute Arbeit, Erich. Und jetzt wird es richtig interessant. Du hilfst Joe dabei, den Panzer zu öffnen. Ich bringe in der Zwischenzeit unseren Gast nach oben.«
Der jüngste Sass strahlte, und Fischer erhob sich seufzend von der Kiste, auf der er Pause gemacht hatte. Franz packte Walter Annuscheit am Arm und zog ihn in den Gang. Am Mauerdurchbruch zwei Räume weiter erwartete sie Wohlers. Zusammen machten sie sich auf den Rückweg durch die Kanalisation, bis sie schließlich den Schacht an der Mittelstraße erreichten. Franz spähte durch die Plane nach draußen in die Nacht. In der Straße gab es keine Theater oder Nachtklubs, und aus den Fenstern der Bürohäuser drang nur wenig Licht.
»Keinen Mucks, sonst setzt es was«, befahl Franz.
Er sah einen roten Lichtpunkt, der noch einmal heller wurde, bevor er verlosch. Dann kamen Schritte auf sie zu.
»Ihr habt ihn tatsächlich«, erklang Paul Konters vertraute Stimme. »Respekt.«
Franz trat mit Annuscheit aus dem Arbeitszelt hervor und umklammerte dabei die Kette der Handeisen fester, als es nötig gewesen wäre. Erst als er den Mann an Konter übergab, hatte er den Eindruck, seine Scharte endgültig ausgewetzt zu haben.
»Ich nehme Sie in Polizeigewahrsam, Herr Annuscheit«, sagte der Kripobeamte. »Zu Ihrem eigenen Schutz und wegen Fluchtgefahr. Irgendetwas fällt uns zur Begründung schon ein.«
»Sie stecken mich wieder in eine Zelle?«, protestierte Kutiskers ehemaliger Buchhalter.
»Sie hätten alles viel einfacher haben können.« Konter hob die Schultern. »Aber Sie wollten es ja kompliziert. Und wenn Sie nicht spuren, dann verschnüren wir Sie zu einem Paket und lassen Sie durch die Reichspost an die russische Botschaft zustellen.«
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Franz war einigermaßen zufrieden, als er sich durch das Abwassersystem wieder auf den Rückweg zu den Kellerräumen machte. Der erste Teil des Plans, Annuscheits Befreiung, hatte erstaunlich gut geklappt. Allerdings musste er jetzt auf seine Interessen achten. Der Bruch sollte mindestens hunderttausend bringen, sonst fehlte ihm das Geld für das Spielcasino. Gedankenverloren überprüfte er zunächst, ob sein Bruder unnötige Spuren hinterlassen hatte. Dann kehrte er zu den Tresorräumen zurück. Auf den Gängen war das Zischen des Brenners tatsächlich nicht zu hören. Die Sicherheitstür, hinter der die Tresore lagen, hielt jedes Geräusch von innen zurück.
Es war kurz vor drei Uhr morgens, als auch die zweite Tresortür nachgab. Die drei Männer waren mit ihren Kräften am Ende. Fischer zitterte, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er hatte am meisten geschwitzt und stürzte nach dem Ende der Schneidarbeiten einen Liter Wasser hinunter. Ein Ahnungsloser musste sich fragen, was an der Arbeit mit dem Schneidbrenner derart anstrengend war. Schließlich saßen beide Männer nur vor einer Stahlwand und hantierten mit relativ leichtem Gerät. Aber die Ermüdung der Augen, die Wärmestrahlung und Lärmbelastung laugten jeden Arbeiter schnell aus. In dem kleinen Raum war die Hitze nach kurzer Zeit mörderisch gewesen. Zusätzlich zum Schweißhelm trugen Franz und Joe ihre speziellen Lederhemden und Handschuhe. Anfangs hatten Männer wie Fischer noch ohne oder mit dünner Schutzkleidung gearbeitet. Folglich zierten jede Menge Brandnarben Fischers Oberkörper. Und auch Franz hatte ein paar Andenken an seine ersten Erfahrungen mit dem Schweißen und Brennschneiden auf seiner Haut.
Erich hatte noch etwas Kraft, um die Tür mit Brecheisen und Haken langsam zu öffnen. Darin bestand die Kunst dieser Arbeit. Eine zu hohe Temperatur konnte dazu führen, dass der Stahl im Inneren schmolz und die Tür an den Falzen verschloss. Oder aber sie verzog sich und ließ sich nicht mehr in ihren Scharnieren bewegen. Aber hier unten war der legendäre Joe Fischer am Werk gewesen. Und er hatte sich wahrscheinlich sein letztes Denkmal gesetzt. Dass leider – außer den Bestohlenen – niemand je zu Gesicht bekommen würde. Es war unwahrscheinlich, dass der Botschafter die deutsche Polizei in seine Katakomben lassen würde. Und erst recht würde kein Reporter oder Fotograf vorgelassen werden.
Franz spähte mit der Stablampe in den Geldschrank, der im Inneren gute sechs Quadratmeter groß war. Ungeduldig zwängte er sich durch den Spalt, als Erich und Joe den Stahlkoloss aufzogen. Der Schweiß, der sein Schutzhemd verfärbt hatte, zischte, als er mit dem immer noch heißen Metall in Berührung kam.
»Unglaublich.« Seine Stimme klang in der Kammer seltsam hohl und schien nicht zu schwingen. »Seht euch das an!«
In den jeweils sechs Regalen zu beiden Seiten standen offene Kassetten, die mit Geldscheinen der Hauptwährungen gefüllt waren. Einige enthielten auch noch Goldmünzen, andere wiederum Obligationen, Genussscheine, Aktien amerikanischer Unternehmen und Schuldverschreibungen.
»Hier liegt ganz sicher eine Million herum!«
Der Erfolg verlieh ihnen neue Kraft. Es war nicht mehr viel Zeit. Sie mussten noch vor fünf verschwinden, um genügend Vorsprung vor etwaigen Verfolgern zu haben. Durch Katjas Informanten wussten sie, dass der Tagesbetrieb gegen sechs Uhr einsetzte. Ein aufmerksamer Wachmann, eine Putzfrau oder ein früh eintreffender Mitarbeiter würden die Unternehmung auffliegen lassen. Und bis dahin mussten der Henschel-LKW und das Bauzelt in der Mittelstraße verschwunden sein.