Auch im vierten Band der Berlin-Reihe um die Brüder Sass bin ich der Faszination erlegen, die eine Vermischung von Fiktion und Realität beim Geschichtenerzählen auf mich ausübt. So nimmt auch »Blutiges Erbe« wieder starken Bezug auf historische Hintergründe. Die Jahre 1924 bis 1929 gelten gemeinhin als die »guten« Jahre in der kurzen Geschichte der Weimarer Republik. Hinsichtlich der Makroperspektive – also quasi mit Blick aus der Ferne – mag dies zutreffen. Die Inflation war überwunden, die Wirtschaft begann zu florieren, Deutschland fand politisch langsam aus seiner internationalen Ächtung heraus. Und auch kulturell kam es zu einer kurzen, aber äußerst produktiven Blüte. Die Roaring Twenties oder Goldenen Zwanziger währten eigentlich (in Deutschland) nur dieses eine Jahrfünft. Mann (und Frau) tanzte, trank und genoss das neue, freie, »ungezwungene« Leben.

Die grundlegenden Probleme blieben jedoch bestehen. Es gab eine massive Fehlverteilung des Vermögens sowie der Produktionsmittel. Jene Familien, deren Ernährer körperlich oder seelisch versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt waren, blieben – ebenso wie die Betroffenen selbst – abgehängt von jeder noch so bescheidenen Prosperität. Und Teile eines ohnehin schwachen Mittelstands waren infolge der Währungsreform und der Zwangshypotheken verarmt. In diesen Gesellschaftsschichten gärte eine dauerhafte Existenzangst und Unzufriedenheit mit der Republik. Die Arbeiterschaft neutralisierte sich oftmals durch ihre neue Zerrissenheit, ein ewiges Hickhack zwischen SPD und KPD. Wobei die Kommunistische Partei trotz aller Lippenbekenntnisse massiv staatsfeindlich agitierte. Bankiers und Großindustrie, die das Gros des Kapitals hielten, taten, was sie immer taten: Sie beobachteten genau, welches politische Lager, welche Koalition ihnen die größten Vorteile bot. Und im Windschatten vieler, weiterhin bestehender Probleme gedieh eine Kraft, die kaum mehr nur rechts konservativ oder national genannt werden konnte (auch wenn sie es selbst tat): In den Jahren bis 1929 blieb die NSDAP reichsweit zwar eine Splitterpartei. Die Basis für ihre straffe Organisation (Führerprinzip) und Schlagkraft (SA) schuf sie jedoch in diesen fünf »guten Jahren« der Weimarer Republik.

Wieder einmal erwies sich die Betrachtung des »Geschehens hinter den Kulissen« (für das ich mir auch erzählerische Freiheiten genommen habe) als eine Art Blaupause für viele Mechanismen in Politik und Wirtschaft, die auch heute noch wirken. Die enge Verbindung beider Felder rief zudem einen dritten Partner auf den Plan, der eigentlich gesellschaftlichen Interessen diametral entgegenwirkt: die organisierte Kriminalität. Der Skandal um die beiden Geschäftsleute Kutisker und Barmat zeigte früh, dass Politik nur dann »sauber« bleiben kann, wenn die Verantwortlichen nicht den Verlockungen des schnellen Geldes erliegen. Korruption war und ist ein wichtiges Thema, denn sie erschüttert die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems. So nutzten rechtsnationale und antisemitische Kräfte damals die Tatsache, dass Iwan Kutisker jüdischer Abstammung war, schamlos für ihre widerlichen Zwecke aus. Umgehend wurde hier ein (vorwiegend emotionaler) Zusammenhang konstruiert, den es in der Realität gar nicht gab. Die Rassenideologie sah sich dennoch bestätigt und gewann an Boden.

Die Sowjetunion und das Deutsche Reich näherten sich einander in dieser Zeit an. Denn beide Staaten waren – wie im Roman angedeutet – die »Schmuddelkinder« auf dem internationalen Parkett. Stalin saß noch nicht fest im Sattel und begann seinen größten Widersacher Trotzki kaltzustellen. Tatsächlich wollte Stalin zunächst die UdSSR stabilisieren. Hierfür benötigte er Geld. Obwohl er und seine Genossen das Vermögen der Emigranten als Eigentum des sowjetischen Staats sahen, entspringt die Existenz eines »Roten Erbes« meiner Phantasie. Gleiches gilt folglich für die Suche der Brüder Sass nach diesem Erbe. Historisch verbürgt ist jedoch eine rege Aktivität sowjetischer Geheimdienstagenten (Tschekisten, GPU-Agenten) und der Anhänger Trotzkis (Trotzkisten) in der deutschen Hauptstadt.

In beinahe wörtlichem Sinn dient die überaus lebendige Filmindustrie der Weimarer Zeit als Kulisse für meine Geschichte. Ich habe auch hier versucht, mich an den überlieferten Gegebenheiten zu orientierten. So hat Fritz Lang 1925/26 in den Babelsberg-Studios (der Ort trug damals den Namen Nowawes) jenen Film gedreht, der zu einem Meilenstein wurde. Auch setzte er finanziell jene Maßstäbe, die heute für jeden Blockbuster als selbstverständlich gelten. Der Einspielerfolg blieb jedoch aus, so dass der Streifen zu einem geschäftlichen Desaster geriet, in dessen Folge die Ufa beinahe in die Pleite rutschte.

Im Großen wie im Kleinen (Stichwort: Marlene Dietrich und ihre Singende Säge) habe ich versucht, das Flair dieser Zeit einzufangen. Und ich habe mich wieder bemüht, das überlieferte Geschehen möglichst nicht zu verzerren. Ich hoffe, dass Sie als Leser*in viel Freude beim Lesen dieser »Erzählung einer Geschichte vor dem Hintergrund der Geschichte« haben werden.