DER DRACHENTEXT

Die Menschen von Yslion säumten die Straßen, als sie unseren Zug am Abend entdeckten. Die Sonne verschwand gerade hinter den Bergen und würde bald Platz für den Vollmond machen.

Einige riefen: »Lang lebe die Königin!«, doch ich empfand es als Hohn. Bislang hatte ich nur Unheil über dieses wunderbare Land gebracht. Daher waren mir ihre Jubelrufe äußerst unangenehm. Hoffentlich gelang es mir, den Zauberspruch zu wirken. Abgesehen von der Schlacht letzten Sommer und dem Brand waren die Menschen in Yslion wenigstens von den großen Katastrophen verschont geblieben. Von den Drachen hatten sie nur gehört, das Sinken der Insel kaum mitbekommen. Sie mochten ihre Königin, so viel war sicher. Allerdings hatten ebendiese Menschen auch dem Erzdruiden bei den Paraden zugejubelt. Das Volk sei wankelmütig, hatte Kerr mir einmal gesagt. Es wolle nicht nur geführt, sondern auch unterhalten werden. Und ich war demnach nicht nur die Erste Dienerin des Volkes – sondern ebenso seine Unterhalterin.

Bei dem Ritt durch die jubelnde Menge nahm ich mir etwas ganz fest vor: Sobald ich eines, nur eines! , von all den Problemen, die auf mir lasteten, gelöst bekäme, würde ich die Kunst fördern – wie Elizabeth es mir geraten hatte. Kunst würde das Volk bei Laune halten und alles überdauern und vielen Generationen nach mir noch Freude bereiten. Hoffentlich.

Auf jeden Fall folgten uns viele. Rois und Paidraig fanden das gut. Sie schienen zuversichtlich, dass es heute funktionieren würde, und sie wollten, dass alle es mitbekamen und sahen. Was, wenn es nicht funktionierte?

Keenan hatte sich uns ebenfalls angeschlossen. Er war heute Nachmittag aus Morris zurückgekehrt und hatte berichtet, dass Mellan und sein oberster Stab wie vom Erdboden verschluckt seien. Die Bewohner der Stadt waren entweder verflucht oder manipuliert. Es sei lebensgefährlich, die Stadt zu betreten. Er hatte sich im »Schnelldurchlauf« einen genauen Überblick verschafft.

Bei der Quelle angekommen, warteten wir darauf, dass es ganz dunkel wurde und der Mond aufging. Die Luft war eisig, unser Atem bildete weiße Wölkchen vor unseren Gesichtern. Ein paar Wolken waren am Himmel, aber Mond sei Mond, beruhigte uns Paidraig. Er richtete ein paar Kleinigkeiten, von denen er glaubte, sie könnten die Kraft des Zauberspruchs unterstützen und ihn mächtiger machen.

Die Quelle des Pugh entsprang einem Ausläufer des Ys-Gebirges. Ich hatte mit Grady als Kind einmal einen Ausflug hierher unternommen, weil es uns beide neugierig machte, wo ein so mächtiger Fluss seinen Ursprung fand.

Ein kleiner Wasserfall ergoss sich in ein schmales Becken, und von dort setzte bereits die Strömung ein, die sich schon wenig später in den großen Fluss wandelte, der Yslion teilte und bis zu den Sümpfen von Alvion über Deira breit und reißend war. Aodh hatte uns erzählt, der Fluss habe viele unterirdische Zuläufer aus dem Ys-Gebirge, weshalb er so groß und gefährlich war.

Sogar an der Quelle war es nicht ungefährlich; der Sog begann bereits hier und das Wasser floss hart und – sofern man die Hand darunterhielt – schmerzhaft hinab.

Der Himmel war mittlerweile dunkelblau und voller Sterne, der Mond leuchtete rund und hell. Sein Schein spiegelte sich im Wasserbecken.

Paidraig stellte Öllampen zwischen den Felsen auf und legte ein paar würzige Kräuter dazu. Innerhalb kürzester Zeit roch es ähnlich intensiv wie im Tempel.

»Großer Drache, entweder will er uns vergiften oder berauschen«, murmelte Riona und hustete.

»Nein, er macht uns haltbarer«, keuchte Keenan, dem von dem Qualm Tränen in die Augen gestiegen waren. »Wenn das noch mehr wird, brauchen wir keine Angst zu haben, dass die Wolken den Mond bedecken, dann übernimmt das der Rauch.«

»Lass gut sein, Paidraig, sonst kann ich gleich nicht reden und muss den Text husten«, bat ich ihn.

»Na dann, fang an«, forderte Bran mich auf.

Ich wickelte die Krone aus dem Stoff und setzte sie auf. Die Menge hinter mir, die bislang getuschelt und geredet hatte, wurde mit einem Mal ganz still. Vereinzelt hustete oder räusperte sich jemand, sonst waren nur die Geräusche des fließenden Gewässers und die der Nacht zu vernehmen. Die Kälte schien alles noch intensiver wirken zu lassen als ein warmer Sommerabend. Jedes Geräusch schien lauter als sonst.

Ich hatte versucht, den Text auswendig zu lernen; was mir sonst schon schwerfiel, war unter den gegebenen Umständen allerdings noch viel schwieriger. Bei jedem Wort spukte mir ein Fluch oder ein manipulierender Druide durch den Sinn. Kinder, die ihre Eltern verrieten, und Delma, die ihren Mann und ihre Kinder unter dem alten Regime verloren hatte. So ähnlich hatte ich bereits einmal einen Zauber durchführen müssen. Warum war das hier schwieriger? Weil so viele zusahen?

Nein, weil Kerr das Letzte Mal bei mir gewesen war und ich durch seine Anwesenheit und seine Person nicht die volle Gänze der Verantwortung gespürt hatte.

Der Gedanke an ihn war noch weniger hilfreich als alles andere.

»Konzentrier dich, Sara«, sagte ich mir und trat vor. In diesem Moment verdeckte eine große Wolke den Mond. Es wurde schlagartig dunkler und nur noch die Öllampen spendeten Licht. Hinter mir stöhnte die Menge auf und wir waren gezwungen zu warten. Zum Glück zog die Wolke schnell vorbei, sodass der Spiegelschein wieder auf dem Wasser zu sehen war.

Ich schloss die Augen, dachte daran, was Kerr damals zu mir gesagt hatte. Doch im selben Moment war mir klar, ich brauchte das nicht. Ich horchte auf das Wasser, horchte in mich hinein, erinnerte mich an das erste Wort des Drachentextes.

Und dann war alles auf einmal ganz einfach.

Ich hob die Arme mit den Handflächen nach oben geradeaus vor meinen Körper, so als wollte ich Wasser schöpfen, und der Text, den ich so mühselig geübt hatte, strömte aus mir heraus, als hätte ich ihn schon immer gekannt. Ich fühlte in mir ein Kribbeln, eine Kraft – anders als vor den Zeitsprüngen. Es saß tiefer, saß im Herzen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, der Wasserfall flösse im selben Rhythmus, wie mein Herz pochte.

Ich lauschte auf die Strömung, spürte in mein Herz und horchte auf die Erde. Alles schien miteinander zu wispern und zu flüstern. Erst war es ein Raunen, dann wurde es leiser und endlich verstummte es.

Fünf Atemzüge lang herrschte absolute Stille, eine Stille, in der ich nichts, wirklich gar nichts hörte außer meinem eigenen Herzschlag. Und dann, ganz langsam, war da das Fließen des Wassers, der Nachtruf einer Eule und endlich hörte ich auch wieder die Menschen hinter mir. Sie atmeten, sie raschelten, der Sand unter ihren Schuhen knirschte und alles war wieder wie zuvor.

Und doch war es nicht so. Ich wusste, es hatte funktioniert.

Als ich mich umwandte, sahen mich alle mit großen Augen an. Alle! Auch meine Freunde.

»Keenan, würdest du überprüfen, ob wieder alles im ursprünglichen Zustand ist?«, fragte ich in die Stille hinein. Er holte tief Luft und dann lief er.

»Das war beeindruckend, Sara«, wagte Riona zu sagen, als er weg war. »Ich habe eine Gänsehaut, weil ich auf einmal das Gefühl hatte, ich würde aus einem Meer gezogen, obwohl ich hier stand.«

»Das geht mir auch so«, murmelte Bran.

Und ehe ein anderer was sagen konnte, war Keenan zurück.

Er machte ein todernstes Gesicht, und ich fühlte, wie sich mein Hoffnungsfunke verflüchtigte.

Doch dann grinste er breit. »Es hat geklappt! Silus ist wieder ganz aus dem Wasser raus! Die Stadt hat wieder einen Hafen.«

»Du Blödmann«, schimpfte Riona und boxte ihn. »Du hast mir so einen Schrecken eingejagt.« Dann jubelte sie laut und all die Menschen hinter uns brachen in ebenso lauten Jubel aus.

Der Rückzug nach Yslion verlief wesentlich freudiger als der Hinweg. Wir mochten das größte Problem, die Drachen und die hinterhältigen Druiden, noch nicht ansatzweise beseitigt haben, aber diese Aktion heute Nacht brachte die Hoffnung zurück zu den Menschen nach Lyoness.

Ich nahm mir fest vor, mein Versprechen einzulösen. Ich würde Künstler beauftragen, die ein Spielhaus erbauen sollten. Ein Spielhaus, in dem wundersame Geschichten erzählt werden sollten, um weiter Hoffnung und Freude zu verbreiten.