„Eine seltsame Geschichte ist das“, fand Tante Abigail, als sie schließlich allein waren und Violet ihr alles erzählt hatte. „Ich kenne Mrs Pyjama nicht sehr gut. Aber ich muss sagen, das Ganze passt überhaupt nicht zu ihr.“
„Vielleicht hätte ich es lieber für mich behalten sollen, dass sie in Mrs Bumblebees Büro war“, jammerte Violet.
„Unsinn. Dass sie dort sauber macht, ist kein Geheimnis. Deshalb ist es ja auch so verwunderlich, dass sie das Geld genommen hat. Sie musste doch wissen, dass man sie zuerst verdächtigt.“ Tante Abigail wiegte nachdenklich den Kopf.
„Her mit der Kohle!“, zwitscherte Lady Madonna. „Aber plötzlich!“
Tante Abigail verdrehte die Augen. „Das Geld ist doch längst wieder da, Madonna. Die Frage ist, warum Mrs Pyjama es gestohlen hat.“
„Happy Birthday“, sang Lady Madonna, die darauf offensichtlich auch keine Antwort hatte.
„Na, zumindest geht es Mrs Bumblebee bald wieder besser“, sagte Tante Abigail.
„Hast du mit Onkel Alistair telefoniert?“, fragte Violet.
„Ja, aber er konnte sich das mit der Zornigen Zaunrübe auch nicht erklären. Das Mittel ist in Mrs Bumblebees Fall bestimmt nicht das richtige. Er fragt sich, ob du bei der Befragung des Buches möglicherweise abgelenkt warst.“
Violet musste plötzlich an Mrs Pyjama denken, die sich in ihr Bewusstsein gedrängt hatte, als sie das gelbe Buch geöffnet hatte.
„Könnte sein“, gab sie zu. „Ich hab mich vielleicht nicht stark genug konzentriert.“
Tante Abigail nickte. „Onkel Alistair und ich sind beide der Meinung, dass wir Mrs Bumblebee die Zornige Zaunrübe auf keinen Fall verabreichen sollten. Wenn man das Öl grundlos anwendet, kann es schlimme Nebenwirkungen auslösen. Manche Menschen leiden danach monatelang unter entsetzlichen Tobsuchtsanfällen und Schreiattacken.“
Violet schauderte. Es wäre schrecklich, wenn Mrs Bumblebee ständig ausrasten würde.
„Na ja, du hast das Mittel ja auch gar nicht“, sagte sie dann.
„Wie kommst du denn darauf?“ Tante Abigail zog überrascht die Brauen hoch. „Natürlich hab ich das Öl hier.“
„Aber … du hast doch erzählt, dass du die Zornige Zaunrübe nicht angepflanzt hast, weil sie so giftig ist.“
„Ich nicht“, sagte Tante Abigail. „Aber Onkel Alistair hat sie in seinem Hexengarten. Er bereitet das Öl immer für mich zu und seine Eule Iris bringt es dann vorbei. Doch wie gesagt, wir werden es in diesem Fall nicht einsetzen. Ich habe Mrs Bumblebee heute Morgen einen Extrakt aus dem Lächelnden Löwenmäulchen vorbeigebracht, das wird sie stärken und aufbauen.“
„Täglich drei Tropfen in den Morgentee“, murmelte Violet.
„Mrs Bumblebee hab ich sogar vier Tropfen empfohlen“, sagte Tante Abigail. „Sie ist ja recht kräftig gebaut.“
„Schön schlucken!“, rief Lady Madonna und nieste. „Gesundheit!“
„Hoffentlich hilft’s“, sagte Violet.
„Ganz bestimmt. Sobald sie die Aufregung mit Mrs Pyjama überwunden hat, ist sie wieder ganz die Alte.“
Tante Abigail blickte auf ihre Uhr. „Du liebe Zeit, es ist gleich halb zwei! Ich muss mich hübsch machen!“
„Wofür?“, fragte Violet.
„Heute ist doch der Geburtstag von Mrs Plump. Ich freu mich schon seit Wochen auf die Feier. Erst gibt es Tee, dann Abendessen und danach wird getanzt. Es wird bestimmt spät werden.“
„Cha-Cha-Cha!“, rief Lady Madonna.
„Bitte schön! Danke schön!“ Sie schlug aufgeregt mit den türkisfarbenen Flügeln.
„Nein, du wirst mich nicht begleiten, Madonna“, sagte Tante Abigail. „Wellensittiche haben auf Partys nichts verloren.“
„Bitte schön?“ Lady Madonna legte flehend den Kopf schief.
„Ich könnte sie ja mit zu unserer Lesenacht nehmen“, überlegte Violet.
„Bist du verrückt?“, fragte Tante Abigail. „Sie würde ohne Ende quasseln, ihr würdet überhaupt nichts mehr von dem Buch mitkriegen. Nein, Madonna, du musst heute hierbleiben.“
„Schade, schade, jammerschade!“, zwitscherte Lady Madonna betrübt.
Tante June hatte Spaghetti mit Tomatensoße gemacht, das mochte Violet normalerweise genauso gerne wie Rudy. Ihr kleiner Bruder hatte seine Nudeln bereits aufgegessen, sie waren allerdings nicht nur in seinem Bauch gelandet, sondern auch in seinem Gesicht und in den spärlichen Haaren, auf dem Tisch und auf dem Boden.
„Daaabab!“, quietschte er und schlug mit seinem Plastiklöffel in seinen leeren Plastikteller. Das hieß: Mehr!
„Du kannst meine Nudeln haben“, sagte Violet und schob ihm ihren halb vollen Teller hin.
„Was soll das denn?“, fragte Tante June. „Du hast ja kaum was gegessen. Wirst du etwa krank?“
Violet schüttelte den Kopf. „Ich hab nur keinen Appetit. Und heute Abend gibt es ja auch noch Pizza. Darf ich aufstehen?“
„Bist du sicher, dass alles okay ist?“ Tante June musterte sie besorgt.
Nichts war okay. Der Stolz, den Violet am Morgen gespürt hatte, als Mr Sharp seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, war verschwunden – und zwar komplett. Stattdessen erfüllte sie das Gefühl, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben.
„Ganz sicher“, sagte sie trotzdem. „Ich muss Jack und Zack noch was geben. Kann ich gleich zu ihnen rüber?“
„Klar“, sagte Tante June.
„Dodod“, sagte Rudy und riss den Mund weit auf, damit Tante June ihm einen Löffel Spaghetti hineinschieben konnte.
Violet hatte geschwindelt. Sie wollte gar nicht zu Jack und Zack, sondern zu Mrs Pyjama. Sie wohnte gleich hinter dem Supermarkt und ihr Haus sah fast genauso düster und traurig aus wie sie selbst. Die Fassade war einmal gelb gewesen, aber nun war sie grau vor Schmutz. Die Fensterläden hätten auch einen neuen Anstrich vertragen können. Einer hing schief in den Angeln und baumelte quietschend hin und her. Und im Vorgarten wuchsen hauptsächlich Brennnesseln und Disteln.
Auf dem Klingelschild stand Mr & Mrs Pyjama, obwohl Mr Pyjama ja leider schon lange tot war. Das war sehr traurig, fand Violet.
Als sie die Klingel drückte, hämmerte ihr Herz so heftig, dass sie fast Kopfweh bekam. Sie hatte sich vorgenommen, gar nicht lange um den heißen Brei herumzureden, sondern Mrs Pyjama einfach zu fragen, ob sie das Geld wirklich genommen hatte. Und wenn ja, warum.
Aber jetzt dachte sie plötzlich, dass das eine blöde Idee war. Was, wenn Mrs Pyjama total sauer wurde und beschloss, sich an Violet für den Verrat zu rächen?
Sie hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als die Tür aufging. Mrs Pyjama stand vor ihr auf der Schwelle und betrachtete Violet mit düsterer Miene. Ihre Augen waren knallrot und verschwollen.
„Hallo“, sagte Violet und versuchte zu lächeln. Es gelang ihr aber nicht.
„Ja?“, fragte Mrs Pyjama finster. „Was gibt’s denn?“
„Ich … äh …“ Violet verstummte, weil sie vor Aufregung schlucken musste.
„Was willst du?“ Mrs Pyjamas Blick bohrte sich in Violets Stirn. Und ohne länger zu überlegen, stürzte Violet sich in den nächsten Satz. „Ich wollte fragen, ob es stimmt, dass Sie das Geld für die Pizza geklaut haben“, stieß sie aus.
Mrs Pyjama zog die Brauen zusammen und die Mundwinkel nach unten und runzelte die Stirn – alles gleichzeitig.
Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte Violet. Gleich wird sie superwütend.
Sie trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Aber die ehemalige Hausmeisterin machte keine Anstalten, Violet zu packen und zu schütteln oder ins Haus zu zerren. Stattdessen legte sie die Hände vors Gesicht und ihre Schultern begannen zu zucken. Sie weinte!
„Mrs Bumblebee hat mir doch versprochen, dass sie es niemandem erzählen würde!“
„Mrs Bumblebee hat auch nichts erzählt“, sagte Violet. „Ich weiß es von Mr Sharp.“
Mrs Pyjama ließ ihre Hände sinken. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, nur die Augen waren immer noch rot und glühten richtiggehend.
„Mr Sharp?“, flüsterte sie. „Aber warum hat Mr Sharp …?“ Ihre Stimme erstarb.
„Haben Sie es denn gemacht?“, fragte Violet.
„Ach, Kind.“ Mit einem Mal klang Mrs Pyjama unglaublich erschöpft und müde. „Das ist doch ganz egal. Mein Leben ist zu Ende. Ich dachte, ich könnte als Hausmeisterin noch mal neu anfangen. Aber jetzt ist alles noch viel, viel schlimmer als vorher. Nun denkt die ganze Stadt, dass ich eine Diebin bin.“
„Nein, nein“, sagte Violet. „Mr Sharp hat es nur mir erzählt, keinem sonst.“
Mrs Pyjama lachte ein raues, trauriges Lachen. „Vielleicht warst du die Erste. Aber die anderen werden es auch noch erfahren, da kannst du sicher sein.“
„Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet“, sagte Violet. „Waren Sie es? Ja oder nein?“
Anstelle einer Antwort schüttelte Mrs Pyjama nur den Kopf und dann drückte sie die Tür zu, ohne sich zu verabschieden. Und hinter der geschlossenen Tür begann sie wieder zu weinen, das hörte Violet ganz genau.