Hallo

„Danke für Ihren Einkauf“, sagte Violet und öffnete die Ladentür für Mrs Blue. „Hoffentlich machen Ihnen die Blumen lange Freude!“

Ich habe zu danken, Violet!“, sagte Mrs Blue. Als sie in den Laden gekommen war, war ihr Korb leer gewesen. Jetzt lagen ein bunter Blumenstrauß und vier Töpfchen mit duftenden Glockenblumen in Blau, Lila, Violet und Rosa darin. Dabei hatte Mrs Blue doch nur die Marzipanhörnchen vorbeibringen wollen, die Tante Abigail bei ihr bestellt hatte. „Also, ich muss schon sagen, du bist eine verflixt gute Verkäuferin. Richte Miss Abigail einen schönen Gruß von mir aus. Sie kann stolz auf dich sein.“

Bevor Violet etwas entgegnen konnte, begann das altmodische Telefon auf dem Ladentisch zu klingeln.

„Geh schnell dran“, sagte Mrs Blue. „Das ist bestimmt Kundschaft. Und die Grüße nicht vergessen.“

„Bitte schön! Danke schön!“, zwitscherte Lady Madonna aus ihrem Käfig über dem Ladentisch. „Hallo, hallo?“

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Der türkisfarbene Wellensittich konnte sprechen und das tat er auch ohne Unterlass. Er kommentierte alles, was im Laden passierte. Oft ging er Tante Abigail und Violet damit fürchterlich auf die Nerven.

Violet rannte zum Ladentisch und hob den geschwungenen Hörer von der Gabel. „Hallo?“

„Sind Sie das, Miss Abigail?“, fragte eine Frauenstimme am anderen Ende.

Nein, wollte Violet gerade erwidern. Aber bevor sie zu Wort kam, redete die Frau schon weiter. „Hier spricht Mrs Bumblebee. Bitte, liebe, liebe Miss Abigail, ich bin in höchster Not. Sie müssen mir helfen!“

Violet schnappte nach Luft. Mrs Bumblebee war die Direktorin ihrer Schule, Violet hörte ihre Stimme jeden Tag. Aber wenn Mrs Bumblebee sich nicht mit ihrem Namen gemeldet hätte, hätte Violet sie nicht erkannt. Normalerweise sprach Mrs Bumblebee laut und selbstsicher, aber heute zitterte ihre Stimme. Es klang fast, als würde die Direktorin weinen.

„Also, äh …“, begann Violet. Doch Mrs Bumblebee unterbrach sie erneut.

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„Ich habe gestern Mr Juniper getroffen, und der hat mir dringend empfohlen, Sie anzurufen …“ Mrs Bumblebees Stimme brach. Sie räusperte sich.

Jetzt wäre eigentlich eine gute Gelegenheit für Violet gewesen, der Direktorin mitzuteilen, dass gar nicht Miss Abigail am Apparat war. Ihre Tante war nämlich vor einer Stunde zu ihrer Freundin Mrs Plump gefahren, um mit ihr die Blumendekoration für deren siebzigsten Geburtstag zu besprechen.

Aber Violet sagte nichts. Sie war einfach viel zu neugierig.

„Nun ja.“ Mrs Bumblebees Stimme war nur noch ein Flüstern. „Also: Sapotille.“

Violets Herz hämmerte auf einmal wie verrückt. Sapotille – dieses seltsame Wort hatte sie noch nie gehört, und dennoch war ihr vollkommen klar, warum Mrs Bumblebee es sagte.

Nur ganz wenige Leute in Rivenhoe wussten, dass Tante Abigail eine Blumenzauberin war. Mit den magischen Blumen, die in ihrem Hexengarten hinter dem Haus wuchsen, konnte sie wunderbare Dinge vollbringen. Ihr Blumenzauber hatte im letzten Winter auch Mr Juniper geholfen, seine verloren gegangene Frau wiederzufinden. Und danach hatte Tante Abigail Mr Juniper ein Geheimwort genannt, das er an eine andere Person weitergeben sollte, die in Not war. Er hatte sich ganz offensichtlich für Mrs Bumblebee entschieden.

„Sapotille“, wiederholte Mrs Bumblebee, diesmal ein bisschen lauter.

Die Direktorin erwartete eine Antwort, aber sobald Violet etwas sagte, würde sie merken, dass sie überhaupt nicht mit Tante Abigail sprach. Violet schwitzte. Was sollte sie tun?

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„Hereinspaziert!“, begann über ihr Lady Madonna zu jubeln. Im selben Moment klingelte die Glocke über der Ladentür,

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und bevor Violet wusste, wie ihr geschah, stand jemand neben ihr und riss ihr den Hörer aus der Hand.

„Hallo?“, keuchte Tante Abigail hinein. Sie war total außer Atem. Ihre Wangen leuchteten fast so rot wie ihre Locken, die wie immer wild in alle Richtungen standen. „Wer ist denn da?“

Violet konnte nicht hören, was Mrs Bumblebee daraufhin antwortete, doch sie sah den strengen Blick ihrer Tante und wusste genau, was sie jetzt zu tun hatte.

Sie verließ den Laden durch die Hintertür. Draußen schien die Sonne auf die magischen Blumen, die ihre bunten Köpfe über den niedrigen Gartenzaun streckten. Bienen nippten an Löwenmäulchen und Duftwicken.

Violet hatte jedoch keinen Blick für die Blumenpracht. Sie huschte nach rechts, denn da war das Fenster. Weil das Wetter so schön war, stand es offen, und genau dahinter befand sich der Ladentisch mit dem Telefon.

„Tausend Büroklammern. Das ist wirklich kein Pappenstiel“, hörte sie Tante Abigail gerade sagen. „Wer um alles in der Welt könnte so etwas Gemeines tun?“

Violet hielt den Atem an.

„Was sagen Sie? Die ganzen Klassenarbeiten? Das hört sich ja stark danach an, dass da jemand …“

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„MIIIIIAAAUUUU!“, machte es neben Violet, so laut und durchdringend, dass sie mit einem Aufschrei zusammenfuhr. Neben ihr saß Lord Nelson, Tante Abigails honigfarbener Kater. Im Gegensatz zu Lady Madonna konnte Lord Nelson nicht sprechen, aber er schaffte es auch ohne Worte, sich mit Violets Tante zu verständigen.

Das Fenster über Violet wurde mit einem lauten Knall geschlossen. Nelson maunzte noch einmal, bedachte Violet mit einem vorwurfsvollen Blick aus seinen türkisgrünen Augen, dann verschwand er ebenso lautlos, wie er sich ihr genähert hatte.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Tante Abigail endlich fertig telefoniert hatte und Violet wieder in den Laden rief.

„Was sollte das?“, fragte sie streng. „Du wusstest ganz genau, dass der Anruf für mich war.“

„Ich … äh … wollte Mrs Bumblebee gerade erklären …“

„Schnickschnack!“, rief Tante Abigail erbost. „Außerdem hast du unter dem Fenster gelauscht.“

Violet wurde knallrot. Dieser verflixte Kater! Wenn Lord Nelson nicht gewesen wäre, hätte Tante Abigail bestimmt nicht gemerkt, dass das Fenster offen stand.

„Was wollte Mrs Bumblebee denn?“, erkundigte sie sich, obwohl sie eigentlich wusste, dass sie sich die Frage sparen konnte.

Tante Abigail lächelte kühl. „Das kannst du sie ja morgen in der Schule selbst fragen“, sagte sie. „Ich bezweifle allerdings sehr, dass du eine Antwort bekommst.“

Doch Violet gab nicht auf. „Sie kannte das geheime Wort. Mr Juniper hat es ihr gegeben.“

Tante Abigail klatschte in die Hände. „So! Genug getrödelt, meine Liebe. Jetzt wird gearbeitet. Mal sehen, ob du deine Hausaufgaben gemacht und die Liste der Schmerzensbrecher auswendig gelernt hast.“

Violet zog eine Grimasse. Als Tante Abigail ihr vor einiger Zeit versprochen hatte, sie zur Blumenzauberin auszubilden, obwohl Violet noch viel zu jung dafür war, hatte sie vor Freude gejubelt. Aber seit sie zweimal in der Woche Unterricht bei ihrer Tante hatte, wusste sie, dass Zauberlehre kein Vergnügen war. Die Blumen­namen, die in Tante Abigails Blumenzauberbuch standen, waren genauso kompliziert wie die Rezepte, die man für die magischen Tinkturen, Öle und Säfte brauchte.

Normalerweise war Abigail die liebevollste und geduldigste Tante der Welt, aber wenn es um die Blumenmagie ging, verstand sie keinen Spaß. Sobald Violet auch nur eine Klitzekleinigkeit vergaß oder etwas durcheinanderbrachte, ließ Tante Abigail sie gleich noch mal die komplette Lektion wiederholen.

Heute wäre sie ganz bestimmt nicht zufrieden mit Violet, das war jetzt schon klar. Violet hatte die Liste mit den Namen der schmerzensbrechenden Pflanzen nämlich nur kurz überflogen, anstatt sie ordentlich auswendig zu lernen.

„Jetzt geht’s lo-hos!“, schmetterte Lady Madonna, als Violet ihren Käfig öffnete, um den Schlüssel zum Geheimfach zu holen, der sich unter dem Futterschälchen verbarg.

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Danach rückte Violet den großen Kaktustopf im Regal zur Seite, öffnete den Einbauschrank dahinter, holte das zitronengelbe Buch heraus und trug es zum Tisch.

„Danke, Violet.“ Tante Abigail lächelte sie erwartungsvoll an. „Also, dann schieß mal los. Die Schmerzensbrecher sind …?“

„Die Lindernde Lobelie“, begann Violet. „Hilft gegen Rückenschmerzen.“

„Sehr gut“, lobte ihre Tante sie.

„Der Stumpfe Löwenzahn“, fuhr Violet fort. „Gegen Zahnschmerzen.“

„Weiter.“

Violet runzelte die Stirn. Auf der Liste, die Tante Abigail ihr mitgegeben hatte, standen bestimmt noch zehn andere Namen, aber leider fiel ihr keiner mehr ein.

„Was ist los?“ Zwischen Tante Abigails Brauen bildete sich eine steile Falte. „Hast du deine Aufgaben nicht gemacht?“

„Ich hab gestern auf Rudy aufgepasst“, sagte Violet. „Tante June musste nämlich zum Friseur.“

Die Falte glättete sich. Stattdessen breitete sich ein warmes Lächeln auf Tante Abigails Gesicht aus. „Wie geht es meinem Schatz?“, fragte sie.

Rudy war Violets kleiner Bruder. Obwohl er schon ein ganzes Stück gewachsen war, seit er auf die Welt gekommen war, war er immer noch furchtbar niedlich. Aber er war nicht immer ein Schatz.

Gestern zum Beispiel hatte Violet sich nur kurz umgedreht, um ihr Stickerbuch in Sicherheit zu bringen (Rudy liebte Stickerbücher, klebte die Sticker aber nicht auf die Seiten, sondern in Violets Haare). In diesem Moment hatte ihr Bruder die Zuckerdose geschnappt und den gesamten Inhalt aufs Sofa geschüttet.

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„Rudy geht es hervorragend“, sagte Violet. „Er macht nur eine Menge Unsinn.“

Tante Abigail lächelte verzückt. Sie war verrückt nach Rudy, obwohl er den Blumenladen und ihre Wohnung immer in ein Schlachtfeld verwandelte, wenn er sie besuchte.

„Na, wenn du auf ihn aufgepasst hast, bist du natürlich entschuldigt“, sagte sie. „Lern die Blumennamen einfach bis zum nächsten Mal. Und heute schauen wir uns stattdessen das Triefende Sonnenauge genauer an. Du findest es auf Seite … Ach, die Seitenzahl ist ja egal. Du findest es auch so.“

Und das stimmte. Als Violet das magische Buch aufklappte, öffnete es sich an der richtigen Stelle. Über der Seite schwebte eine gelbe Blume mit einem dicken haarigen Stängel, die einen scharfen Zwiebelduft verströmte. Triefendes Sonnenauge, stand daneben. Violets Augen fingen prompt an zu tränen. Tante Abigail bemerkte dagegen gar nichts.

Nur Violet sah die Zauberpflanzen dreidimensional in der Luft schweben und roch den Duft, den sie verströmten. Für Tante Abigail und alle anderen Menschen waren es gewöhnliche Abbildungen in einem gewöhnlichen Pflanzenbuch.

Violet hatte diese Gabe von ihrer Mutter geerbt, die allerdings nie eine Blumenmagierin geworden war, weil sie lieber ein ganz normales Leben mit ihrer kleinen Tochter führen wollte. Doch dann war sie bei einem Autounfall gestorben, als Violet noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen war. Danach war Violet zu Tante June und Onkel Nick gekommen, und das war ein Riesenglück. Die beiden liebten sie nämlich genauso sehr wie Rudy, den Tante June selbst geboren hatte.

„Die Blume haben wir uns vor ein paar Wochen schon mal angesehen.“ Tante Abigail tippte auf die aufgeschlagene Seite. „Erinnerst du dich noch an sie?“

„Klar“, behauptete Violet, während sie gleichzeitig versuchte, den Text zu überfliegen, der unter dem Bild stand. Leider legte ihre Tante jetzt die Hand darüber. „Das Triefende Sonnenauge blüht im Hochsommer“, begann Violet. „Und es wirkt … es wirkt …“

„Ja?“ Tante Abigail beugte sich gespannt zu ihr hin.

„Gegen Augenentzündungen“, sagte Violet. Das war allerdings geraten. Und blöderweise falsch.

„Ohrenschmerzen“, sagte Tante Abigail.

„Ach ja, genau.“ Jetzt fiel es Violet wieder ein. „Man kocht sieben Stängel in einer Tasse Essig, fügt sechs Löffel Zucker hinzu und lässt das Ganze eine Nacht lang ziehen. Und dann kann man es in die schmerzenden Ohren träufeln.“

„Perfekt!“ Tante Abigail strahlte. „Aus dir kann noch was werden.“

Violet lächelte glücklich. Ob sie die Gunst der Stunde nutzen und einfach noch mal nach Mrs Bumblebees Geheimnis fragen sollte? Das Wort Sapotille im Blumenbuch nachzuschlagen, würde überhaupt nichts nützen, das war ihr klar. Es war ja nur ein Codewort, das nun ausgedient hatte.

Sie versuchte sich zu erinnern, welche Worte sie aufgeschnappt hatte, als sie unter dem Fenster gelauscht hatte. Tante Abigail hatte von Büroklammern gesprochen.

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Und von Klassenarbeiten.

„Vergiss es“, sagte Tante Abigail.

„Was?“ Violet riss überrascht die Augen auf. Sie hatte doch noch überhaupt nichts gesagt.

„Ich werde dir nichts verraten“, sagte ihre Tante. Manchmal glaubte Violet wirklich, dass sie Gedanken lesen konnte.

„Schade, schade, jammerschade!“, zwitscherte Lady Madonna.