Violets Herz schlug laut und aufgeregt, als sie der Direktorin in das leere Klassenzimmer folgte. Sie war sich sicher, dass sie gleich erfahren würde, was Mrs Bumblebee von Tante Abigail gewollt hatte.
Nun machte sie die Tür zu und sah Violet mit ernster Miene an. „Ich habe den ganzen Morgen lang versucht, deine Tante Abigail zu erreichen“, sagte sie.
„Sie ist bestimmt bei Mrs Plump“, sagte Violet. „Die feiert am Freitagnachmittag ihren siebzigsten Geburtstag und Tante Abigail hilft ihr bei der Vorbereitung.“
„Ach so, na ja.“ Mrs Bumblebee zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit übers Gesicht. Sie war total verschwitzt, obwohl es heute gar nicht richtig warm war. „Hast du denn ihre Handynummer?“
„Tante Abigail hat kein Handy“, sagte Violet. „Aber vielleicht können Sie einfach bei Mrs Plump anrufen.“
„Ja.“ Mrs Bumblebee nickte erleichtert. „Das ist eine gute Idee. Das probier ich gleich mal.“
„Wenn ich Tante Abigail sehe, sag ich ihr, dass Sie sie sprechen wollen“, versprach Violet. Dann holte sie tief Luft. „Worum geht es denn?“, fragte sie und bemühte sich dabei, möglichst beiläufig zu klingen. Als ob sie das Ganze gar nicht wirklich interessierte. Es gelang ihr aber nicht sehr gut, ihre Stimme zitterte nämlich vor Aufregung und Neugierde.
„Ach, Kindchen.“ Zu Violets Bestürzung standen Mrs Bumblebees Augen plötzlich voller Tränen. „Sag ihr …“, die Direktorin unterbrach sich und schluckte laut, „sag ihr, es geht um die Sache, über die wir gestern gesprochen haben. Es ist wieder etwas passiert. Etwas noch Schlimmeres.“
„Es ist wieder etwas passiert“, sagte Violet. „Etwas noch Schlimmeres.“
Tante Abigail und sie saßen in der Küche über dem Blumenladen und tranken Himbeerblütentee mit Honig. Violet hatte Lord Nelson auf dem Schoß und Tante Abigail hatte Lady Madonna auf dem Kopf. In der Küche durfte der Wellensittich nämlich immer frei herumfliegen und gerade war er auf Abigails roten Locken gelandet. Im Gegensatz zu Lord Nelson blieb Lady Madonna aber nicht lange sitzen. Denn jetzt erspähte sie einen Kekskrümel auf dem Boden.
„Attacke!“ Der Vogel stürzte sich von Tante Abigails Kopf in die Tiefe wie ein Bussard auf eine Maus. „Lecker, lecker!“
Abigail rührte mit besorgter Miene in ihrer blau-gelben Lieblingstasse.
Gleich nach der Schule war Violet zum Blumenladen gerannt und hatte ihr erzählt, dass Mrs Bumblebee sie dringend sprechen wolle. Daraufhin hatte Tante Abigail sofort bei der Direktorin angerufen, aber nun war es Mrs Bumblebee, die nicht dranging.
„Kannst du mir nicht einfach sagen, worum es geht?“, fragte Violet. „Und warum Mrs Bumblebee so fertig ist?“
Natürlich antwortete Tante Abigail nicht. Sie starrte zum Fensterbrett, auf dem ein Marmeladenglas mit Margeriten stand. Auf einer Margeritenblüte saß ein Marienkäfer, das sah sehr hübsch aus. Aber Tante Abigail nahm es gar nicht zur Kenntnis. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders.
„Wenn ich nur wüsste …“, hörte Violet sie murmeln.
„Was?“, flüsterte Violet.
Nun sah Abigail sie doch an. Ihre hellgrünen Augen leuchteten. „Wir sollten etwas ausprobieren“, sagte sie. „Hilfst du mir?“
Als Violet aufgeregt nickte, stand Tante Abigail auf und verließ die Küche mit großen Schritten. Violet hörte sie die Treppe runterlaufen.
Nach wenigen Minuten kam sie mit dem Blumenbuch wieder zurück und auf einmal schlug Violet das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Bestimmt wollte Tante Abigail, dass Violet das magische Buch für sie befragte. Aber vorher musste sie ihr erklären, was die Direktorin ihr gestern erzählt hatte.
„Nein“, sagte Tante Abigail, die offenbar mal wieder ihre Gedanken gelesen hatte.
„Was – nein?“, fragte Violet.
„Ich habe Mrs Bumblebee versprochen, dass die Angelegenheit unter uns bleibt. Und meine Versprechen halte ich auch.“
„Und wie soll ich dir dann helfen?“
Tante Abigail nippte an ihrer Tasse, obwohl der Tee inzwischen kalt geworden war.
„Ich komme in der Sache absolut nicht weiter. Das Ganze ist so verworren und rätselhaft.“ Mit einem leisen Klirren stellte sie die Tasse zurück auf die Untertasse.
„Nun sag mir doch einfach, um was es geht“, bedrängte Violet sie. „Solange ich nicht Bescheid weiß, kann ich dir auch nicht helfen.“
„Vielleicht doch“, sagte Tante Abigail und schob das zitronengelbe Buch über den Tisch, sodass es direkt vor Violet lag. „Vielleicht funktioniert der Zauber ja auch, ohne dass du die Einzelheiten kennst.“
„Du meinst …?“
Abigail nickte, obwohl Violet den Satz noch gar nicht beendet hatte. „Du konzentrierst dich jetzt ganz fest auf Mrs Bumblebee. Stell dir ihr Gesicht vor und ihre Stimme. Und dann schlägst du das Buch auf.“
„Es wäre aber doch viel leichter, wenn du mir sagen würdest …“
„Wenn du mir nicht helfen willst, lassen wir es.“ Tante Abigails sonst so liebevolle Stimme klang plötzlich scharf. „Auch gut.“
„Nein, nein. Ich probier’s.“ Bevor ihre Tante das Buch wegziehen konnte, hatte Violet mit beiden Händen danach gegriffen. Wie immer, wenn ihre Finger den Umschlag berührten, fühlte sie ein seltsames Kribbeln in den Händen, als ob das Buch elektrisch aufgeladen wäre.
Sie schloss die Augen und rief sich die Direktorin in Erinnerung. Es klappte aber nicht sehr gut. Anstelle von Mrs Bumblebee tauchte nämlich Mrs Pyjamas düsteres Gesicht vor ihr auf. Was sollte das denn? Mit aller Macht versuchte Violet, die Hausmeisterin aus ihren Gedanken zu verdrängen.
„Mrs Bumblebee“, flüsterte sie. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und öffnete das magische Buch.
Über der Seite rankte sich eine Pflanze mit großen lappigen Blättern durch die Luft. Sie war mit winzigen hellgrünen Blüten versehen, die in kleinen Büscheln wuchsen und einen durchdringenden Geruch nach angebranntem Essen verströmten.
Lord Nelson, der bisher schnurrend auf Violets Schoß gelegen hatte, sprang mit einem erschrockenen Maunzen auf. Sein Fell sträubte sich, sein Schwanz richtete sich steil nach oben. Er starrte das magische Buch an, als wäre es der Dackel von Mrs Boshdi, der alle Katzen jagte.
Tante Abigail reckte den Kopf, um einen Blick in das Buch zu werfen. Und nun sah Violet, wie ihr Gesicht blass wie die Wand wurde.
„Die Zornige Zaunrübe“, flüsterte Abigail. „Das gibt’s doch nicht. Also, das macht überhaupt keinen Sinn. Das Buch muss sich vertan haben. Das kann ich Mrs Bumblebee auf keinen Fall geben.“