Mrs Bumblebees Geheimnis

Neben Violet sprang Zack auf und fischte den roten Ball aus der Luft, kurz bevor er über ihn hinwegfliegen konnte.

„He, was soll das?“, rief Mr Sharp ärgerlich. „Der war nicht für dich, Zack.“

„Aber ich hab ihn gefangen“, sagte Zack. „Und wer den Ball fängt, muss antworten.“ So waren die Regeln, das hatte ihnen Mr Sharp in der ersten Mathestunde erklärt.

„Lass den Quatsch, Zack“, sagte Mr Sharp. „Du weißt genau, dass der Ball für Tyson bestimmt war.“

„Tyson hat schon so viele Bälle bekommen“, sagte Zack. „Und ich hatte bisher noch keinen einzigen. Das ist voll ungerecht.“

Da grinste Mr Sharp. Es war allerdings kein nettes Grinsen, fand Violet.

„Also schön“, sagte er. „Wie du willst.“

Er runzelte die Stirn und wieder wurde es so still in der Klasse, dass man die Uhr ticken hörte.

„Dreihundertvierundzwanzig geteilt durch neun“, sagte Mr Sharp.

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„Sechsunddreißig“, sagte Zack, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, und warf den Ball wieder zurück.

War das korrekt? So schnell kam nicht einmal Violet auf das Ergebnis. Und normalerweise konnte sie besser rechnen als Zack.

Sie starrte voller Spannung auf Mr Sharp, genau wie alle anderen auch. An seiner Schläfe pochte eine Ader. Er schwieg. Vielleicht musste er ja selbst nachrechnen.

Dann nickte er widerwillig und alle brachen in lauten Jubel aus, einige begannen sogar zu klatschen. Mr Sharps Brauen zogen sich zusammen.

Es passt ihm nicht, dass Zack die richtige Antwort gewusst hat, dachte Violet. Doch im selben Moment entspannte sich das Gesicht des Lehrers wieder, er lächelte sogar.

„Das Aufwärmen ist beendet“, erklärte er, während er den Ball in seine Tasche steckte. „Schlagt eure Mathebücher auf. Seite neununddreißig, Aufgabe drei.“

„Wie bist du denn so schnell auf die Lösung gekommen?“, fragte Violet Zack, als sie nach der Stunde über den Pausenhof liefen, die Schule war nämlich aus. „Das war doch total schwer!“

„Ich war so wütend“, sagte Zack. „Wenn ich wütend bin, kann ich alles, was ich will.“

Violet wollte gerade nachfragen, warum Zack so wütend gewesen war, aber plötzlich fiel ihr etwas anderes ein. Nämlich dass sie ihren Turnbeutel im Klassenzimmer vergessen hatte. Und Tante June hatte heute Morgen extra gesagt, dass sie die Sportsachen mit nach Hause bringen sollte, weil sie gewaschen werden mussten. Dasselbe hatte sie bereits gestern gesagt und da hatte Violet es auch schon vergessen.

Sie ließ die Zwillinge also allein nach Hause gehen und flitzte noch mal zurück zum Klassenzimmer.

Zum Glück war der Raum noch nicht abgeschlossen.

Violet rannte zu ihrem Platz und nahm den Turnbeutel von dem Haken unter dem Tisch.

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Dann lief sie wieder auf den Flur. Vielleicht konnte sie Jack und Zack ja noch einholen, sie war doch sehr neugierig aufs Zacks Erklärung. Es war natürlich nicht schön, dass Mr Sharp Tyson zurück in die Dritte schicken wollte oder gleich zu den Erstklässlern. Aber wenn man nicht mal dreiundzwanzig minus zwei rechnen konnte, hatte man in der Vierten echt nichts verloren, da hatte Mr Sharp doch recht.

Im Erdgeschoss wurden die Lehrerzimmer geputzt. Als Violet die Treppe runterrannte, kam Mrs Pyjama gerade mit einem Eimer und einem Wischmopp aus dem Büro von Mrs Bumblebee. Sie schloss die Tür ab und trat einen Schritt nach hinten, wodurch sie fast mit Violet zusammengeprallt wäre.

„Hoppla“, sagte Violet. Und dann: „Entschuldigung.“ Obwohl es Mrs Pyjama war, die nicht aufgepasst hatte.

Mrs Pyjama stieß einen lauten Schrei aus und starrte Violet mit ihren dunklen Augen an. Ihr Blick war wie immer furchtbar traurig.

„Ist ja nichts passiert“, sagte Violet, dabei hatte Mrs Pyjama gar nichts gesagt. Auch jetzt erwiderte sie nichts. Sie umklammerte ihren Eimer und den Wischmopp und hastete einfach weg.

Violet wollte ebenfalls weiterrennen, aber nun hörte sie Mrs Bumblebees Stimme, die aus dem Lehrerzimmer drang. Die Tür stand nämlich einen Spaltbreit auf.

„Gut, dass ich Sie treffe, Mr Sharp“, sagte sie. „Das Geld für die Lesenacht ist jetzt komplett, alle Schüler haben bezahlt.“

„Super“, sagte Mr Sharp. „Ich komm auf dem Heimweg an der Pizzeria vorbei. Wenn Sie möchten, kann ich die Pizza für morgen schon mal vorbestellen und auch gleich bezahlen.“

„Wunderbar!“, hörte Violet Mrs Bumblebee antworten. „Warten Sie, ich bring Ihnen das Geld sofort.“

Nun eilte die Direktorin aus dem Lehrerzimmer zu ihrem Büro. Sie schloss auf und verschwand im Zimmer, ohne Violet auf dem Flur zu bemerken.

Violet musste jetzt wirklich los. Die Zwillinge würde sie nicht mehr einholen, das konnte sie vergessen, aber Tante June wartete bestimmt schon auf sie. Bevor sie sich jedoch in Bewegung setzen konnte, drang ein seltsames Geräusch aus Mrs Bumblebees Büro.

Es klang so:

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Dann ging das Ganze in ein lautes Schluchzen über.

Violet hielt die Luft an. Was war denn jetzt los?

„Mrs Bumblebee? Alles okay?“ Mr Sharp tauchte nun ebenfalls im Flur auf und eilte in die Direktion. Aber leider machte er hinter sich die Tür zu, sodass Violet nichts mehr hören konnte.

So ein Mist! Sie musste wissen, was hier abging.

Auf Zehenspitzen schlich sie zu der Tür und guckte durchs Schlüsselloch. Dummerweise sah man nur den blau-weiß gepunkteten Teppich­boden. Doch als Violet ihr Ohr an die Tür legte, konnte sie Mrs Bumblebee schluchzen hören.

„Es ist zum Verrücktwerden“, klagte die Direktorin. „Und vielleicht bin ich das ja auch schon.“

„Was?“, fragte Mr Sharp.

„Verrückt.“ Mrs Bumblebee putzte sich die Nase.

„So ein Quatsch. Was erzählen Sie denn da!“

„Mir passieren in letzter Zeit die merkwürdigsten Dinge.“ Mrs Bumblebee senkte ihre Stimme zu einem leisen Raunen. Violet hatte große Schwierigkeiten, sie zu verstehen, am liebsten hätte sie Lauter gerufen, aber das ging natürlich nicht. „Dinge verschwinden und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Und ich vergesse alles!“

„Ach, das geht mir auch oft so“, entgegnete Mr Sharp.

„Aber bei mir ist es anders!“ Diese Worte stieß Mrs Bumblebee so laut hervor, dass Violet zusammenzuckte. „Neulich hab ich eine große Packung Büroklammern aus dem Sekretariat geholt, weil im Lehrerzimmer keine mehr waren. Und als ich abends nach Hause kam, da hab ich die Packung in meiner Tasche gefunden. Tausend Büroklammern. Wenn das jemand gesehen hätte! Da hätte doch jeder gedacht, dass ich die Klammern klauen will.“

„Na, das hätte allerdings zu Missverständnissen führen können.“

„Sehen Sie? Das Schlimmste ist, dass ich mich nicht mal daran erinnern kann, wie ich die Büroklammern in meine Tasche gesteckt habe.“

„Ich würde mir darüber nicht allzu große Sorgen machen“, sagte Mr Sharp. „Wahrscheinlich sind Sie einfach ein bisschen überlastet …“

„Das ist ja noch nicht alles“, unterbrach ihn Mrs Bumblebee. „Am nächsten Tag wollte ich die Klassenarbeiten der 3b korrigieren. Aber ich hab die Diktathefte nicht gefunden. Dabei war ich mir ganz sicher, dass ich sie auf meinen Schreibtisch gelegt hatte.“

„Und?“, fragte Mr Sharp.

„Mrs Preston hat sie auf der Mädchentoilette entdeckt. Ich muss sie dort vergessen haben. Aber warum habe ich sie überhaupt dorthin gebracht?“

„Das weiß ich nicht“, sagte Mr Sharp.

„Ich doch auch nicht!“, rief Mrs Bumblebee.

„Das ist allerdings seltsam“, fand Mr Sharp. „Aber wissen Sie, Mrs Bumblebee, manchmal …“

„Warten Sie!“ Wieder wurde Mrs Bumblebees Stimme ganz laut. „Das Schlimmste kommt erst noch.“

„Was denn?“

„Jetzt ist das Geld weg.“

„Sie meinen … das Geld für die Pizza?“, fragte Mr Sharp.

„Ganz genau.“ Mrs Bumblebee schluchzte auf. „Ich hab es eingesammelt und abgezählt und in ein Kuvert gesteckt. Und nun ist es verschwunden.“

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„Wo lag das Kuvert denn?“

„In der Schublade von meinem Schreibtisch.“ Violet hörte Papier rascheln, offensichtlich wühlte Mrs Bumblebee in ihrer Schreibtischschublade.

„War der Raum abgeschlossen?“

„Natürlich.“ Mrs Bumblebee seufzte. „Wenn ich rausgehe, schließe ich immer ab. Sonst könnte ja jeder hier reinspazieren und alles durcheinanderbringen. Nein, da bin ich lieber vorsichtig.“

„Na ja.“ Mr Sharp räusperte sich. „Wenn Ihnen in letzter Zeit so viele Dinge entfallen, vielleicht haben Sie dann ja auch vergessen, die Tür abzuschließen.“

Nun seufzte Mrs Bumblebee noch tiefer. „Aber gerade eben war der Raum abgeschlossen, das weiß ich genau. Und als ich ihn vorher verlassen habe, war das Geld noch hier, da bin ich mir ebenfalls sicher.“

Mrs Pyjama, dachte Violet. Ihr Herz begann so laut zu wummern, dass sie einen Schritt zurück­trat, damit Mrs Bumblebee und Mr Sharp es drinnen im Büro nicht hörten. Die Hausmeisterin hatte Mrs Bumblebees Zimmer sauber gemacht. Vielleicht hatte sie dabei das Kuvert mit dem Geld gefunden und geklaut …

Violet legte ihr Ohr wieder an die Tür.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Mr Sharp gerade. „Die Lesenacht ist morgen und wenn das Geld für die Pizza weg ist …“

„Das zahle ich natürlich aus eigener Tasche“, rief Mrs Bumblebee. „Was denken Sie denn? Die Kinder müssen doch etwas zu essen bekommen. Hier, nehmen Sie, das müsste reichen …“

„Na, hören Sie mal, Mrs Bumblebee. Wenn in dieser Schule ein Dieb sein Unwesen treibt, müssen wir der Sache doch nachgehen. Der Übeltäter darf auf keinen Fall ungestraft davonkommen“, erklärte Mr Sharp mit lauter Stimme.

Seine Worte summten in Violets Kopf herum. Sie wollte auch nicht, dass der Übeltäter ungestraft davonkam. Oder vielmehr: die Übeltäterin. Denn eigentlich kam nur Mrs Pyjama als Diebin infrage. Deshalb war sie auch so erschrocken, als Violet plötzlich hinter ihr aufgetaucht war.

Ich muss Mrs Bumblebee erzählen, dass ich sie gesehen habe, dachte Violet.

Einen Augenblick später stolperte sie nach vorn und landete auf dem blau-weiß getupften Teppichboden der Direktorin.