Als Kind mochte ich den Quelle-Katalog. Wenn ich bei den Männerunterhosen ankam, hörte ich auf zu blättern. Der Anblick sorgte für ein Kribbeln in meinem Bauch. Ich war sehr interessiert. Ein Gefühl, das blieb. Ganz verstohlen beobachtete ich andere Jungs und Männer – im Schwimmbad oder im Sportunterricht. In Jugendzeitschriften himmelte ich heimlich die Jungen an, nicht die Mädchen. Doch niemals hätte ich meinem Interesse nachgegeben. Ging es nach meinen Eltern, war Homosexualität tabu. Homophobe Sprache und Beleidigungen waren genauso Alltag wie sehr sexualisierte, entwürdigende Ausdrücke. Damit wurde ich groß. Das prägte mein Bild von Männern, die Männer begehrten – und es prägte auch mich, mein Denken über mich selbst. Ich entschied mich bewusst gegen das Schwulsein.
Ich war 14 und frisch verheiratet, als meine Familie von Nürnberg zu einem großen Pilgertreffen in Frankfurt reiste. Tagelang campierten wir dafür auf einem Platz in der Nähe eines großen Schwimmbades. Ich ging täglich dahin, um mich zu entspannen, zu schwimmen und um mich zu waschen. In den Duschen sah ich öfter dieselben Männer. Irgendwann fiel mir auf, dass einige sich Ewigkeiten unter dem Wasserstrahl aufhielten, bis sie erigierte Penisse hatten. Ich war überrascht, aber nicht abgestoßen. Für mein Alter war ich weit entwickelt, und ich war ziemlich neugierig. In der Regel hielten mich die meisten Menschen für deutlich älter. Um mich herum war überall warmer Wasserdunst. In meinem Kopf legte sich damals ein Schalter um. Die BRAVO und der Quelle-Katalog reichten nicht mehr. Ich wollte mehr erleben, einen Schritt weitergehen und hatte Sehnsucht nach Körperlichkeit. In diesem Frankfurter Wellnessbad machte ich meine erste explizite sexuelle Erfahrung mit einem Typen. Der Mann war weit älter als ich, ungefähr Mitte 40. Er näherte sich mir, und berührte mich mit seinen Händen. Er griff nach mir und eh ich mich’s versah, waren wir in einer der Toiletten verschwunden. Durch die dünne Kabinenwand konnte ich hören, dass wir nicht alleine waren. Ganz offensichtlich hatten noch andere Männer die gleiche Idee wie wir. Der Mann ging vor mir auf die Knie. Ich schloss meine Augen und genoss, wie er mich mit dem Mund befriedigte. Das war es, was ich wollte. Ich hatte nur diesen einen Gedanken in meinem Kopf: Das – fühlt – sich – so – gut – an. Und dann kam ich.
Als ich mich danach anzog und mit ein paar anderen Roma nach Hause lief, bekam ich nichts richtig mit. Ich war völlig abwesend und hatte riesige Schuldgefühle. »Wenn die wüssten, was du gerade gemacht hast, würden sie dich umbringen«, dachte ich die ganze Zeit. Ich ekelte mich vor mir selbst und hatte das Gefühl, meine Frau betrogen zu haben – mit einem wildfremden Mann. Das Schlimmste aber war: Es hatte mir gefallen, und ich wusste, das würde nicht aufhören. Die Fummelei und der Blowjob im Klo des Schwimmbads waren ein Wendepunkt in meinem Leben. Eine Woche später kehrte ich zurück und traf den gleichen Mann wieder. Dieses Mal befriedigten wir uns abwechselnd oral bis zum Höhepunkt. Der Mann war attraktiv und sympathisch. Vor dem Schwimmbad parkte sein alter blauer 2er BMW, und er fragte mich, ob ich ihn nicht nach Hause begleiten wolle. Die Idee reizte mich. Es kribbelte in mir, wenn ich daran dachte, mit einem Mann zu schlafen – zu penetrieren und penetriert zu werden. Der Gedanke, noch einen Schritt weiter mit ihm zu gehen, war sehr erregend. Aber ich machte einen Rückzieher. Ich fragte ihn, ob ihm klar sei, dass ich erst 14 sei. Er zögerte kurz, dann nickte er. »Ich habe es geahnt. Du wolltest das aber doch auch?«, fragte er irritiert. Jetzt nickte ich heftig. »Ja, aber wenn man uns erwischt, sind wir beide dran«, antwortete ich, allerdings ohne zu wissen, ob ich mehr Angst vor der Polizei oder meiner Familie hatte. Er bedrängte mich nicht weiter, und ich sah ihn nie wieder.
Zu meiner Frau und meiner Familie auf das Parkplatzgelände zurückzukehren, war surreal. Mein Schädel pochte, und es war, als hielte jemand Eisenstangen an meine Schläfen und jagte Strom hindurch. Ich fühlte mich abgrundtief schlecht wie ein Verbrecher, der seine Familie schändete und zerstörte. Mir war klar: Ich musste alles tun, um dieses Geheimnis zu wahren. Hätte mein Vater davon erfahren, er hätte mich totgeschlagen – so stellte ich es mir zumindest vor. Aus dem Fernsehen wusste ich, was in Familien abging, wenn Menschen sich outeten. Das waren die Momente, in denen ich sofort umschaltete. Ich wollte auf keinen Fall, dass mein Leben eskalierte wie eine dieser Daily Talkshows. In Gedanken spielte ich alle möglichen Szenarien durch, aber es war klar: Wenn ich überleben und Teil meiner Familie bleiben wollte, musste ich stillhalten. Ich war ja ein Kind, und ich war verheiratet. Ich konnte nicht frei entscheiden, was ich wollte. So begann meine große Lebenslüge.
Internet und Dating-Apps gab es damals natürlich nicht. Von Cruisingplaces, an denen sich schwule Männer für schnellen Sex trafen, hatte ich noch nie etwas gehört. Außerdem war ich dafür viel zu jung. Die Nürnberger Nachrichten waren meine Rettung. Die Chiffre-Anzeigen las ich regelmäßig: Er sucht sie, sie sucht ihn, Paar sucht sie … Er sucht ihn war genau das Richtige für mich. Aufmerksam las ich alle Inserate. Irgendwann griff ich zum Telefon, rief die Nummer aus der Zeitung an und log der Frau am anderen Ende vor, dass ich schon 18 sei. Ich wollte unbedingt Männer kennenlernen, und die Frau schrieb ein paar meiner Infos auf, damit sie in der Zeitung veröffentlicht werden konnten. Tatsächlich dauerte es nicht lange und ich bekam die ersten Zuschriften. Ich weiß noch genau, wie ich meine Eltern ablenkte, damit ich der Einzige war, der an den Briefkasten ging. Eines Tages war es so weit: Tatsächlich war ein großer brauner Umschlag für mich in der Post. Darin waren Fotos, kleine Briefe und Telefonnummern von Typen, die mich kennenlernen wollten. Ein 29-Jähriger hatte es mir angetan, und ich traf mich in der Stadt mit ihm. Er war ein schöner Schwarzer Mann und kleiner als ich. Seine Mutter war Griechin und sein Vater Amerikaner. Er erzählte mir, dass er in einer Pflegefamilie und in einem Kinderheim groß geworden war. Wir hatten uns viel zu erzählen.
Bei unserem ersten Treffen liefen wir einfach nur durch die Stadt, ohne dass etwas passierte. Wir redeten, und ich fand ihn extrem attraktiv. Einige Tage nach unserem ersten Date telefonierten wir wieder, und ich fragte ihn, ob er nicht mit mir in einem Hotel Zeit verbringen wolle. Er freute sich über meinen Vorschlag und nahm sich nicht weit von meinem Zuhause ein Zimmer. Wir aßen bei McDonald’s Burger, ich wollte ihm etwas bieten. Ich war nervös und fand ihn unfassbar charmant – wie er dasaß und den ersten Big Mac seines Lebens aß. Er war völlig überfordert, schmatzte und matschte vor sich hin. Nach dem Essen liefen wir zum Hotel. Ich fand ihn so umwerfend. Er war sehr behutsam mit mir, deshalb traute ich mich mehr. Ich fing an, ihn zu massieren. Er hatte einen Penis zum Niederknien. Ich war wie elektrisiert und konnte alle Hemmungen fallenlassen. Wir befriedigten uns gegenseitig mit dem Mund. Es war der tollste, liebevollste, perfekte Sex für mich, weil ich das erste Mal mit einem Mann in einem Bett lag. Nackte Haut, unsere Körper, dicht an dicht. Ich durfte alles erleben, was ich mir so sehr gewünscht hatte. Wir trafen uns noch ein paarmal und es war einfach nur schön. Doch dann kam ein Cut: Meine Familie zog nach Frankfurt und ich natürlich mit ihr. Ich vermisste ihn. Manchmal rief ich meinen Schwarm noch an, aber sagte nichts, wenn er abhob. Ich wollte nur seine Stimme hören und schweigen. Ich hatte einfach zu große Angst, dass ich mich wirklich in ihn verlieben würde. Ich konnte keine Romanze gebrauchen, die meine Familie in ein Drama gestürzt hätte.
In Frankfurt lebten wir im Stadtteil Sachsenhausen und mir gefiel unsere Wohnung sehr. Im Fitnessstudio mitten in der Frankfurter Fußgängerzone lernte ich meinen neuen, besten Kumpel kennen. Seine Eltern kamen aus der Türkei, und wir beide verstanden uns auf Anhieb. Ich mochte ihn mit seiner breiten, weichen Statur, dem Bart und der, wie ich fand, etwas femininen Art. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Er war offiziell nicht gay, ich ja auch nicht. Jedenfalls sprachen wir niemals offen darüber. Aber wenn wir zu zweit waren, redeten und benahmen wir uns anders. Wir verhielten uns wie Mädchen. Eigentlich stimmt das nicht. Wir persiflierten mädchenhaftes Gehabe. Wir bezeichneten uns als »Girls« – im besten Fall – oder titulierten uns mit allerlei Worten, die im weitesten Sinne mit Sexarbeit zu tun hatten. Unsere Sprache war aus heutiger Sicht alles andere als angemessen, ich kann es nicht ändern – damals war das für uns lustig. Wir sprachen, schimpften und lästerten so, wie wir uns junge Frauen vorstellten. So viel Feminität war aufgesetzt, aber es fühlte sich aufregend und befreiend an, überhaupt nicht dem Männlichkeitsbild entsprechen zu müssen, das wir aus unseren Familien gewohnt waren. An einem Abend parkte ich mal wieder das Auto vor dem Haus meines Freundes und wartete auf ihn. Es dauerte ewig, bis er übereilig auf den Beifahrersitz stürzte. Er hatte eine lange, offenbar entnervende, Unterhaltung mit seiner Schwester gehabt. »Die hat mich gefragt, ob du schwul bist«, sagte mein Kumpel. »Wie bitte? Wie kommt sie denn darauf? Du bist doch derjenige mit drei Zentimeter Make-up im Gesicht!«, antwortete ich scheinbar entrüstet und schnipste demonstrativ mit dem Finger. Wirklich, wie war die Schwester bloß auf eine solch abstruse Idee gekommen?
Zweimal wurde ich Vater, als wir in Frankfurt lebten. Mein Alltag bewegte sich zwischen Berufsschule, Ausbildung und den Babys. Eines Tages – ich war gerade 18 – machte mein Freund den Vorschlag, der alles veränderte. Er hatte die Idee, in einen Schwulen-Club zu gehen. Ich war begeistert. Das Outfit des Abends: braune Wildleder-Buffalos mit Plateau, dazu eine weiß-gelb karierte Latzhose und eine Baskenmütze. Wir fuhren zu dem kleinen Club in einer Seitenstraße und klingelten am Eingang. Ein kleines Fenster öffnete sich, der breite, sehr nette Türsteher musterte uns nur kurz und dann passierte es: Ohne Diskussionen ließ er uns rein. Wir, die sonst an jeder Discotür Theater hatten, wurden durchgewunken. Ein Türke und ein Rom durften ohne blonde Frauenbegleitung feiern gehen. Drinnen roch es nach Mann, der Duft von Testosteron in der Luft erschlug mich fast. Überall waren Männer: schöne, große, dicke, dünne, muskulöse, behaarte Männer in Leder, Latex oder Holzfällerhemden … Es war 1996 und ich fühlte mich wie im Himmel. Ich stürzte auf die Tanzfläche und drehte durch. Der DJ spielte R ’n’ B und Popmusik – Brandy & Monica, Ricky Martin, Culture Beat … Ich hätte nirgendwo auf der Welt glücklicher sein können. Mein bester Freund saß ein paar Meter weiter auf einem rosafarbenen, plüschigen Sofa und beobachtete mich. Als unsere Blicke sich trafen, war da nur Verständnis füreinander. Wir erkannten uns, so wie wir waren, und fühlten uns frei. »I see you, girl«, formten seine Lippen. Zumindest bildete ich mir das ein. Ich rannte zu ihm, wir umarmten uns, und ohne es zu sagen, war klar: Ab sofort würden wir vor einander zu unserer wahren Identität stehen. Aber jetzt musste ich erstmal pinkeln.
In der Schlange vor dem Club-Klo wartete ich mit einem Typen in Hotpants. Er sprach mich an, ich fand ihn so heiß wie seine Hosen, und nach einer Cola war ich bereit, zu knutschen. »Du küsst, als wäre es das erste Mal«, sagte er. Und er hatte recht, ich hatte noch nie einen Mann richtig geküsst. Bei allen anderen Begegnungen hatte ich vor dieser Intimität Angst gehabt. Mein Nürnberger-Nachrichten-Chiffre-Schwarm hatte mich nur mal ganz zart auf die Stirn geküsst. Mehr konnte ich nicht aushalten. Als die Hotpants und ich das also geklärt hatten, machten wir weiter rum. Ich schwebte.
Nachdem ich meinen Freund mit meinem klapprigen weißen Renault R19 zu Hause abgeliefert hatte, fuhr ich zu mir. Es war sechs Uhr morgens – meine Eltern, meine Frau und die Kinder schliefen tief und fest. Es fühlte sich verrückt an, ich hatte noch den Geschmack von Männerküssen im Mund, roch nach Zigaretten und einer durchtanzten Nacht. Ich konnte und wollte gar nicht glauben, was gerade passiert war. Ich ging ins Bad, stützte die Hände auf dem Waschbecken ab und sah lange in den Spiegel. Dann flossen die Tränen und ich konnte nicht aufhören, zu heulen: »Du bist schwul«, sagte ich. »Gianni! Du bist schwul, verstehst du das?!« Outing Nummer eins. Es war eine Qual, diesen Satz auszusprechen. Ich war kein Teilzeitschwuler, der sich ab und zu von einem Mann einen blasen ließ. Nein, ich liebte und begehrte Männer. Scheiße! Mein Leben, meine Ehe, alles fühlte sich so falsch an, aber ich konnte nicht weg. Ich konnte meine Familie nicht im Stich lassen und wollte unbedingt weiterhin die Erwartungen erfüllen, die alle an mich hatten. Also schmiedete ich einen Plan. Ich würde durchhalten und meine Rolle als Ehemann spielen, bis meine Kinder erwachsen wären. Ich hatte also noch 16 Jahre vor mir. Ich wusste, mich früher zu outen, würde alles zerstören. Meine Eltern würden mich verstoßen und man würde mir meine Kinder wegnehmen. Wer wäre ich, wenn ich nicht für meinen Sohn und meine Tochter da sein könnte? Wie würden sie erzogen, wenn ich nicht da wäre? Wer würde sie wie ich voller Liebe durch ihr Leben begleiten? Meine größte Angst war es aber, dass beide so früh verheiratet werden könnten wie ich. Um das zu verhindern, müsste ich bei ihnen sein. Ich wollte sie beschützen und immer ein Teil ihres Lebens sein. Also würde ich schweigen.
Der Pakt mit mir selbst war der Beginn eines Doppellebens. Während der Woche ging ich arbeiten, sorgte für meine Kinder und spielte den Ehemann. Am Wochenende war ich wie ausgewechselt. Ich log meine Familie an, zumindest verriet ich nie, mit wem ich mich wo traf. Mit meinem Freund zog ich durch die einschlägigen Clubs und Bars. Für jede Location hatte ich ein passendes Outfit dabei. Ich machte mich zurecht, bevor wir etwas trinken gingen. Gingen wir tanzen, zog ich mich schnell auf der Rückbank meines Wagens um. Kaum war ich fertig, stieg ich mit hoch erhobenem Kopf aus. Ich war bereit für meinen Auftritt. Wenn wir unterwegs waren, lernte ich jede Menge neue Leute kennen. Menschen, die mich sahen, wie ich wirklich war. Ich trank keinen Alkohol und nahm keine Drogen, aber ich war high. Bis in die frühen Morgenstunden tanzte ich mich frei. Dann kam ich brav wieder nach Hause und legte mich neben meine schlafende Frau. Ich starrte noch eine Weile im Dunkeln vor mich hin, bevor ich einschlief. Etwa ein Jahr lang ging das so. Doch dann beschloss mein Vater, dass wir nach Köln ziehen würden, denn dort lebte der größere Teil unserer Familie. Außerdem hatte mein Vater immer wieder Probleme mit der Aufenthaltsgenehmigung in Frankfurt. In Köln, versprach er, würden die Dinge anders laufen als früher. Dort kümmere man sich inzwischen besser um Rom*nja, und davon sollten wir profitieren. Ich hasste die Idee. Immerhin verdiente ich in Frankfurt schon gutes Geld als Zahnarzthelfer und konnte meine Familie versorgen. Ich hatte mir etwas aufgebaut und wollte nicht weg. Es half nichts, wir packten unsere Sachen und zogen an den Rhein.
In Köln ging es mir beschissen. Ich hasste diese Stadt, und ich fand einfach keine Arbeit. Mit meiner Rechtschreibschwäche verfasste ich unzählige schlechte Bewerbungen und versuchte, einen Job in einer Zahnarztpraxis zu finden. Ich wollte natürlich wieder gutes Geld verdienen, aber ich hatte Pech. Es kamen nur Absagen zurück, falls die Arbeitgeber*innen sich überhaupt die Mühe machten, mir zu antworten. Es war der reinste Krampf. Ich war gefrustet, nahm immer mehr zu und verfluchte mein Leben. Um Abstand zu meinen Eltern zu gewinnen, hatte ich eine Wohnung für meine kleine Familie gesucht. Aber meine Frau und ich verstanden uns zunehmend schlechter und stritten viel. Sie misstraute mir und unterstellte mir manchmal sogar, eine Affäre mit einer anderen Frau zu haben. Diese Anschuldigungen amüsierten mich kurz und regten mich dann extrem auf. Das Schlimmste war aber, dass meine Frau versuchte, mich zu kontrollieren. Je mehr sie fürchtete, dass ich ihr entglitt, desto mehr Zeit wollte sie mit mir verbringen. Oft verlangte sie, dass ich zu Hause blieb. Doch ich setzte mich meist durch, denn auf meine durchtanzten, freien Wochenenden wollte ich auch in Köln nicht verzichten. Zumindest bei den Partys hatte ich Anschluss gefunden und konnte für einen Moment durchatmen. Trotzdem war es schrecklich anstrengend, den anderen immer etwas vorzumachen. Außerdem belog ich auch mich selbst. Je mehr ich mich verleugnete, desto mehr fühlte es sich an, als würde etwas in mir absterben. Teile von mir waren bereits tot.
1999 war ich schon seit einem Jahr arbeitslos. Ich war total depressiv und kam schlichtweg nicht zur Ruhe. An einem Abend war ich wie ein Tiger im Käfig. Mal rannte ich konfus im Wohnzimmer herum, mal versuchte ich auf der Couch zu gammeln und zappte unmotiviert von einem Fernsehsender zum nächsten. Aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Meine Frau merkte, dass mit mir etwas nicht stimmt und stellte mich zur Rede. Jetzt war die Gelegenheit, mir ein Herz zu fassen. Ich lag mit dem Kopf auf ihrem Schoß und brach zusammen. Ich weinte und weinte. Als ich die Augen öffnete, sah ich sie direkt an und sprach es aus: »Ich bin schwul.« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war das pure Entsetzen. Ich konnte spüren, dass es sie wie ein Blitz traf. Sie schrie mich panisch an: »Nein, das stimmt nicht! Nein, nein, nein!« Alles was ich antworten konnte, war: »Doch. Ich bin schwul.«
Sie war nicht wütend, aber ich konnte sehen, wie groß ihre Sorge war, dass ich sie verlassen würde. Wir beide wussten nur zu gut, was eine Trennung für uns und insbesondere für sie bedeutet hätte. Das Stigma hätte schwer auf ihr gelastet: Verlassen von einem homosexuellen Mann. Eine absolute Demütigung. Noch dazu hatte meine Frau keine Schulbildung, keine berufliche Qualifikation, keinen Zugang zu Ressourcen, die sie in einem Leben als Alleinstehende versorgt hätten. All das war mir natürlich irgendwie bewusst, und ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Auf meinen plötzlichen Gefühlsausbruch war auch ich selbst nicht vorbereitet gewesen, ich hatte keinen Plan geschmiedet. Ich beschloss, die Nacht bei einem Freund zu verbringen und mich am nächsten Tag wieder zu melden. Ich wollte uns Zeit geben, wir mussten erst einmal darüber schlafen. Ich dachte, das sei rücksichtsvoll und eine gute Idee von mir. Doch ich war gerade zehn Minuten aus dem Haus, da klingelte mein Telefon. Mein Vater war dran und mir war klar, dass meine Frau mich in ihrer Verzweiflung geoutet hatte. Was ich in der Stimme meines Vaters hörte, war ein Mix aus Besorgnis und Hilflosigkeit. Er sagte, wir müssten reden und ich solle zurückkommen. »Das ist alles nicht so schlimm«, sagt er. »Gianni Versace ist auch schwul.« Mein Vater, der Checker. Vielleicht hätte er bei der Namensgebung einen Augenblick länger nachgedacht, wenn er schon 1978 gewusst hätte, wie viel ich mit Gianni Versace gemeinsam haben würde. Ich war jedenfalls bereit, mit meiner Familie zu sprechen, und fuhr zurück zur Wohnung. Meine Eltern und meine Frau saßen im Wohnzimmer. Was dann passierte, war wie ein tragikomisches Theaterstück. Meine Mamo bekam einen gekünstelten Ohnmachtsanfall nach dem anderen. Im Nachhinein war es Comedy pur. Das war meine Familie, wie ich sie kannte: Tränen, Drama, Theatralik. Alle heulten, und mein Vater schaltete in den Leugnungsmodus. »Du bist nicht schwul«, rief er. Er reichte mir eine Zigarette und zündete sich selbst eine an, obwohl er gar nicht rauchte. Mein Dade lamentierte, ich sei schon immer anders gewesen und jetzt habe jemand mich verzaubert, mich mit irgendeinem Fluch belegt. Hokuspokus Fidibus. Ich sei krank, sagte er.
»Nein, ich bin schwul und nicht krank«, entgegnete ich. Eigentlich wusste ich ja immer, dass mit mir alles stimmte. Und inzwischen hatte ich Freund*innen, die mir genau das spiegelten. Aber mein Vater war nicht zu überzeugen. Für ihn stand fest, er musste etwas tun, um mich zu heilen und die Dinge für die Familie wieder in Ordnung zu bringen. Queere Menschen gab es natürlich auch damals schon in unserer Community. Allerdings kannten weder ich noch meine Familie jemanden. Deshalb hatten sie – aber auch ich selbst – unzählige stereotype Bilder im Kopf, wenn es um schwules Leben ging.
Wen wundert es also, dass mein Vater mich kurzerhand zum Arzt schleppte. Der sollte den schwulen Sohn wieder heile machen. Da saßen wir dann: Mein stinkwütender Vater, der sehr attraktive (schwule) Psychiater und ich. Mein Vater verlangte, dass man mir auf der Stelle Pillen geben solle, die mich wieder auf den rechten Pfad der heterosexuellen Normalität bringen würden. Der Arzt hörte zu und schwieg. Im Einzelgespräch fragte er mich dann: »Herr Jovanovic, Sie wissen schon, dass ich Ihnen da nichts geben kann, oder?« Das wusste ich, also einigten wir uns darauf, dass er mir irgendetwas Wirkungsloses verschrieb, damit mein Vater endlich seine homophobe Fresse hielt. Ich bekam also ein Päckchen mit bunten Pillen – für meinen Vater. Am Ende nahm er die Tabletten nämlich selbst – vermutlich, um auf Nummer sicher zu gehen und auch wirklich jede Form von Homosexualität in der Familie im Keim zu ersticken.
Nach einer Weile ging meinem Vater auf, dass sein Vorhaben irgendwie nicht funktioniert hatte. Die Medizin half nicht. Sein Sohn war immer noch anders. Deutsche Psychologen taugten eben nichts. Also traf er eine Entscheidung, die kein größeres Roma-Klischee hätte sein können. »Dann müssen wir jetzt auf eine Reise gehen«, sagte er. So wollte er sicherstellen, dass ich mich wieder mehr auf die Familie konzentrierte und Heilung fand. Ich fragte mich nur, warum ich nicht einfach den Mund gehalten hatte. Aber jetzt war es raus, alle wussten Bescheid. Ich war wieder ein braver Sohn und fügte mich. Mit einem riesigen Wohnmobil traten wir die Reise an. Wir besuchten Verwandte, und ich verbrachte unendlich viel Zeit draußen in der Natur. Wir hatten immer etwas zu tun. Ich kochte, machte Ausflüge mit meinen Kindern und hangelte mich von Tag zu Tag. Was wir nicht taten: über mein Outing reden. Kein Sterbenswort verloren wir darüber. Es war die völlige Realitätsflucht. Bei jeder Gelegenheit ging ich meiner Frau und meinen Eltern aus dem Weg.
Insgesamt sechs Monate waren wir durch Süddeutschland, die Schweiz und Österreich kutschiert. Nach der Reise hatte sich natürlich nichts verändert. Zurück in Köln traf ich mich wieder mit meinen Freund*innen. Sie waren schockiert, mich wiederzusehen, die meisten hatten angesichts meines plötzlichen Verschwindens geglaubt, meine Familie habe kurzen Prozess gemacht – und mich umgebracht. Nicht ganz, dachte ich.
Mein Vater und ich führten damals ein ernstes Gespräch über meine Zukunft und die der Familie. Für ihn war klar, ich würde bei meiner Frau bleiben. Sein Vorschlag: Ich sollte mindestens einmal im Monat mit ihr schlafen. Das sei immerhin die Pflicht eines guten Ehemannes. Ansonsten könne ich tun und lassen, was ich wolle. Das sollte ich durchziehen, bis meine Frau ungefähr Mitte 50 sei. Dazu hatte mein Vater eine fachmännische Prognose auf Lager: Die Wechseljahre würden ihrer sexuellen Lust ein Ende bereiten, die Kinder wären dann aus dem Haus und ich wäre frei. Ich erinnerte mich an mein ursprüngliches Vorhaben, bis etwa 30 bei meinen Kindern zu bleiben. Den Plan holte ich jetzt für einen Handel wieder heraus. Ich wollte meine Freiheit früher bekommen, erklärte ich. Und außerdem würde ich jedes Wochenende Party und regelmäßig mit meinen Freunden Urlaub machen. Ich sah meinem Vater tief in die Augen – und er ging tatsächlich darauf ein. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne meine Psyche gemacht. Aber hey, man muss Opfer bringen.
Herzlich willkommen im Jahr 2002. Ich saß auf der Vogelsanger Straße in Köln in einem weißen, ungefähr acht Quadratmeter großen Container. Drinnen hatte ich einen Schreibtisch mit Computer und Drucker, eine Kaffeemaschine und einen Toaster. An der Wand hing der obligatorische Pirelli-Kalender mit halb nackten Frauen. Ich war bereit für Business. Meine Aufgabe war es hier, die Gebrauchtwagen zu verticken, die mein Vater auf dem Platz rund um mein Container-Büro und das Dixi-Klo geparkt hatte. Wir hatten die allerbeste Ware – versprochen – und ich war ein hoch motivierter, erfolgreicher Verkäufer. Den ganzen Tag lief das Album »Elle’ments« von den »No Angels«. Ich wartete auf Kundschaft. Die Sängerinnen Nadja, Sandy, Vanessa, Jessica und Lucy steigerten derweil meine Verkaufslaune und machten mein Leben um einiges erträglicher. Den ganzen Tag kamen Händler vorbei. Männer aus Polen, Russland, Ghana, Nigeria, der Ukraine, Kasachstan und dem Rest der weiten Exportwelt. Mit ihnen fachsimpelte ich über die Automodelle, Motorleistungen und natürlich den letzten Preis. Die Jungs mochten mich und lobten sogar meinen Musikgeschmack. »Gute Musik«, sagten sie augenzwinkernd und reckten einen Daumen hoch, wenn sie auf dem kleinen Sofa eine Tasse Kaffee tranken. Wenn ich wieder allein war, guckte ich mit langsamem Internet auf meinem Rechner irgendwelche Gay-Pornofilme und sang gleichzeitig »Still in love with you«, »Something about us« oder natürlich »Daylight«. Letzteres knallte jedes Mal rein. Ich liebte die erste »Popstars«-Band Deutschlands. Wie viele andere junge Menschen auch hatte ich bei der Castingshow mitgefiebert. Gerade in Nadja Benaissa fand ich mich wieder, weil sie so schön war und eine sehr junge Mutter. Wir waren Schwestern im Geiste. Aber auch die rothaarige Lucy hatte viel mit mir gemeinsam, sie war ganz offensichtlich lesbisch, verheimlichte das aber damals noch. Sandy wurde tatsächlich bei ihrer Schicht im Jeansshop damit überrascht, dass sie es in die Band geschafft hatte. Ein ikonischer Moment. Und hallooo! Auch ich arbeitete schließlich eine Weile in einem Klamottenladen. Die Castingshow gab mir damals also logischerweise das Gefühl, dass auch ich alles werden konnte, wenn ich nur gut genug war. »Popstars« vermittelte wie nichts anderes, dass die Geschichte vom Jeansverkäufer zum Millionär realistisch war. Ich war längst in Köln sozialisiert. Ich hatte mich bei Viva als Moderator beworben und als Gast in irgendwelchen Nachmittags-Talkshows geglänzt. Ich wollte in die Medien – wie alle damals. Davon träumte ich im Container als Nachwuchsautohändler, und ich war mir schon damals ganz sicher: Niemals würde ich vergessen, wie es sich anfühlte, wenn am Wochenende im Lulu – The next generation »Daylight« lief. Danach spielte der DJ Emilias »Big World« und Ultra Natés »You’re freeeeeeeeeeeeee«. Hymnen meines Lebens und ich fieberte den Partys entgegen.
Mit meinen zwei besten Freunden war ich in der ganzen Stadt als »Destiny’s Child« bekannt. Nennen wir sie also Kelly und Michelle. Die beiden waren die Kinder von Italiener*innen. In ihren Familien hatte niemand eine Ahnung, in welchen Läden sie sich rumtrieben. Wir fuhren bis ins Ruhrgebiet oder nach Düsseldorf auf Partys. Ich war gerne mit ihnen zusammen, weil sie für mich ein queerer Space waren, in dem es nicht nur um Klamotten und andere Oberflächlichkeiten ging. Wir redeten auch darüber, wie es für uns war, sich nicht outen oder wirklich offen mit unserer Sexualität umgehen zu dürfen. Aber was uns am meisten miteinander verband, war Musik. Wir hatten exakt den gleichen Geschmack. Wenn wir in Kellys Fiat unterwegs waren, drehte er die Boxen auf und los ging es. »If I ever fall in loooooove«, stimmte ich an und alle sangen mit. Die Rückfahrten von den Clubs mit Musik und viel Albernheiten waren heilig für uns. Einmal lieh ich einen VW Sharan von meinem Vater und wir fuhren auf eine Party nach Berlin. Wir vertrieben uns die Zeit mit Musikvideo-Raten. Einer von uns beschrieb eine Szene und die anderen mussten raten. Also sagte ich: »Rotes Dreirad?« Und Kelly und Michelle riefen in einem Atemzug: »Take That – Never Forget!« Wir schrien. Wir waren einfach komplett auf einer Wellenlänge. Wir konnten sehr vulgär sein, und das tat uns gut.
Meine Familie kannte die zwei nicht, aber sie hatten eine Ahnung, dass ich auf Gay-Partys ging, und das gefiel ihnen überhaupt nicht. Ständig hatten wir Diskussionen. »Du kümmerst dich nicht richtig um deine Frau«, schimpfte mein Vater. Oder er behauptete, ich hätte ein Auto zu billig verkauft oder zu teuer angekauft. Irgendwann hielt ich die Stimmung nicht mehr aus. Meine Familie und ich hatten uns mal wieder gestritten. Ich setzte mich in meinen Peugeot und fuhr los. Ich raste planlos durch die Gegend, und während ich fuhr, klingelte ständig mein Handy. Mal rief mein Vater an, dann meine Mutter, wenig später wieder meine Frau. Irgendein Name erschien ständig auf dem Display. Manchmal ging ich ran, dann schrien wir, und ich legte noch wütender wieder auf. Ich war kurz vorm Durchdrehen, brüllte rum, schlug aufs Lenkrad und schmiss das Handy durch den Wagen. Rumms.
Zwei Jugendliche zogen mich aus dem Auto, nachdem ich es gegen eine Mauer gesteuert hatte. Sie wählten die letzte Nummer an, die sie in der Anrufliste meines Telefons fanden. Es war die meiner Mutter gewesen und nun hob sie ab. Die Jungen erzählten ihr, dass sie mich gefunden hatten. Am anderen Ende hörte ich meinen Vater erst schreien – und dann wimmern. Seit Jahrzehnten spürte ich das erste Mal wieder ein Zeichen seiner Liebe. Meine Eltern waren bereits auf dem Weg gewesen, als der Anruf sie erreichte. Sie waren in Sorge, dass ich mir etwas antun würde. Nun waren sie binnen zehn Minuten da. Körperlich war ich in Ordnung, aber mental war ich völlig hinüber. Meine Eltern glaubten natürlich nicht, dass ich einfach die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte, sie fragten aber auch nicht weiter nach. Mein Vater war der Meinung, ich bräuchte mal einen Tapetenwechsel. Natürlich.
Wir packten also wieder unsere Sachen ins Wohnmobil und reisten nach Nürnberg. Und das war nun wirklich die schlechteste Wahl. Als wir an dem Haus meiner Familie ankamen, wollte ich mit niemandem auch nur ein einziges Wort wechseln. Ich versteckte mich heimlich in einem Schuppen neben dem Haus und darin brach ich komplett zusammen. Meine Eltern suchten mich, aber ich reagierte nicht. Stattdessen griff ich zum Handy, rief meinen gleichaltrigen Onkel an, damit er mich einsammelte. Mit ihm, dachte ich, könnte ich reden. Er kam und ich erklärte ihm, was mit mir los war. »Ich bin schwul«, sagte ich ihm. Und er antwortete wenig überrascht. »Weiß ich.« Zumindest innerhalb meiner Familie war das Geheimnis wohl doch nicht ganz so geheim gewesen, wie ich gedacht hatte. Kraftlos, erschöpft und extrem müde – so fühlte ich mich. Es ging nicht mehr. Ich bestand darauf, dass mein Onkel mich von hier wegbrachte. Sofort. Ich wollte, dass er mich in eine psychiatrische Klinik in Erlangen fuhr. Ich zog die Reißleine.
In der Psychiatrie hatte ich endlich meine Ruhe. Ich blieb mehrere Wochen, um mich zu erholen. Die Therapie tat mir unheimlich gut, genauso wie das Kennenlernen der anderen Patient*innen. Nach dem Irrsinn mit meiner Familie empfand ich diese Menschen als extrem warmherzig und »normal«. So kam ich langsam, aber sicher heraus aus meiner Depression. Denn nichts anderes war es gewesen, was ich hatte. Dank eines sehr netten Therapeuten wusste ich das. Doch als ich aus der Klinik in Erlangen entlassen wurde, ging es mir zwar besser, aber ich musste ja zurück nach Köln.
Meine Familie hatte offenbar beschlossen, mir weniger Druck zu machen. Zumindest ließen sie mich erst einmal in Ruhe ankommen. Natürlich meldete ich mich wieder bei Kelly und Michelle. Destiny’s Child waren jetzt genau das, was mir guttun würde. Jeden Samstag pilgerte ich ins Lulu in der Kölner Innenstadt. Dort lebte ich mich aus, bekam positives Feedback und wurde in meiner Homosexualität bestätigt. Ich brauchte diese queeren Menschen, die mich hielten und mir den Rücken stärkten. Diese Freund*innen teilten meinen Humor und mein Bedürfnis nach Quatschmacherei und konnten trotzdem mit meiner Ernsthaftigkeit umgehen. Ich war erst 22 Jahre alt. Doch schon damals steckten in meinem jungen Körper ein Clown und zugleich ein sehr, sehr weiser alter Mann.
Pünktlich um 2 Uhr begann die legendäre Tropical Late Night Show. Der DJ machte wieder seine typische Ankündigung und spielte einen Song an: »Finally, it has happened to me, right in front of my face …«, klang es aus den Boxen. Kreisch! Ich liebte dieses Lied von CeCe Peniston. Mein Englisch war nicht das beste, aber das hielt mich nicht davon ab, lauter als alle anderen mitzusingen. Ich lebte mein bestes Leben. Und plötzlich erblickte ich zum ersten Mal Nani La Belle.
Nani La Belle war eine unglaubliche Erscheinung. Groß, perfekt geschminkt und gekleidet in ein Kostüm, das mir den Atem raubte. Auf einem knallengen Body war die US-Flagge in glitzernden Pailletten gestickt. Dazu trug Nani silberne Stiefel und eine schneeweiße Perücke. Mit ausladenden, perfekt abgestimmten Gesten performte sie mein Lied. Ich sah das erste Mal in meinem ganzen Leben eine Dragqueen. Ich war völlig verwirrt und begeistert. Wer war dieser schöne Mensch? War das eine Frau oder ein Mann? In diesem Moment dachte ich mir: Das will ich auch! Ich will diese Klamotten, diesen Auftritt, dieses alles. Wenn das ein Typ ist, konnte ich das noch dreimal besser. Spoiler: Konnte ich nicht. Aber wir würden sehr enge Freund*innen werden. Nani La Belle würde eine der größten Inspirationsquellen für mich werden – und meine erste Dragmother.
Nani La Belle war eine Wucht, und sie kam nicht alleine. Ihre Begleiter*innen in Clubs, auf Bühnen und im Leben waren damals zwei weitere Dragqueens: Lana Delicious und Mimi Marcia. Die drei waren mir weit voraus, wenn es um ihre schwule Identität ging. Mit ihrer Erfahrung imponierten sie mir sehr. Und was mir damals besonders viel bedeutete: Alle drei waren People of Color und stammten aus Brasilien. Dort hatten sie Rassismus und wegen ihrer Sexualität und ihrer Kunst auch heftige Ausgrenzung und Diskriminierung erlebt. Diese Vulnerabilität verband uns vom ersten Moment miteinander. Die drei verstanden meine Lebensrealität als schwuler, nur halbwegs geouteter junger Rom. Ich bewunderte sie und unsere Freundschaft bedeute mir unendlich viel. Wir standen in schwierigen Zeiten füreinander ein und besprachen unsere Gefühle. Ich war längst noch nicht so weit in meiner persönlichen Entwicklung, deshalb half es mir, wenn Nani ihre Erfahrungen mit mir teilte. Aber es gab auch Situationen, in denen Nani die Worte fehlten. Unser Draht zueinander war aber so besonders, dass ich in diesen Situationen ihre Emotionen moderieren konnte. Gefühle besprechen – darin waren wir ganz große Könner*innen.
Mit Lana Delicious und einigen anderen Freund*innen fuhr ich das erste Mal nach Gran Canaria in den Urlaub. Lana ist eine der lustigsten, klügsten, egozentrischsten und missgünstigsten Menschen, die ich kenne. Lana versteckt nichts, diese Authentizität finde ich bewundernswert. Es war Lana, die mir einmal – ich hatte wie immer Spaghetti Bolognese gekocht – sagte: »Gianni, weißt du, was du bist? Du bist ein Star, Bicha!« Ich lächelte gerührt. Dieser Mensch, mit den dunklen, leicht schielenden Augen und dieser bildschönen Hakennase bedeutete mir so viel. Ich hatte damals das Gefühl, das in mir ein verborgenes Licht steckte. Und meine Drag-Freund*innen gaben alles, um es zum Strahlen zu bringen.
Die Freundschaft der drei untereinander war besonders, aber neben Nettigkeit, Vertrauen und Wohlwollen hatte sie auch zerstörerische Elemente. Insbesondere Lana Delicious und Nani La Belle waren echte Konkurrent*innen. Sie kämpften um Geld, Aufträge und Anerkennung, gerieten regelmäßig aneinander und konnten extrem bissig und gehässig sein. Ich war lange wie ein Assistent für die drei. Ich liebte Partys, trank nach wie vor keinen Alkohol, hatte ein Auto und himmelte die König*innen an. Das qualifizierte mich bestens für diese Aufgabe. Ich fuhr sie zu ihren Auftritten und begleitete sie in wirklich alle Clubs. Wenn Lana sich für den Abend auf einer Bühne, Tanzfläche oder Partymeile vorbereitete, schaute ich ihr bewundernd beim Schminken zu. Gleichzeitig versuchte ich natürlich, Lana und den anderen optisch in nichts nachzustehen. Einmal fragte ich in Lanas Wohnung, ob ich Haargel haben könnte. Mit einem Fingerzeig wurde ich ins Bad geschickt. Ich griff mir die Tube und legte los. Aber das funktionierte irgendwie nicht. Ich fluchte, weil das Zeug so flüssig war und die Haare einfach nicht halten wollten. »Was ist das für ein Scheißzeug?«, brüllte ich. Lana stutzte, legte ihren Puderpinsel beiseite und machte sich fast nass vor Lachen, als sie sah, dass ich ihr Gleitgel benutzte. Selbstverständlich baute sie mich am gleichen Abend in ihre Nummer ein. Sie stand auf der Bühne und machte spontan ihre Witze. Eigentlich war das Stand-up, was sie da performte. Auf jeden Fall nahm sie mich ins Visier, zeigte vor dem versammelten Publikum mit dem Finger auf mich und grölte los: »Diese Bicha hat heute versucht, mit meinem Arschgel ihre Haare zu machen.« Der ganze Saal lag auf dem Boden vor Lachen. Ich auch.
Diese Abende waren großartig. Ich liebte alles daran. Das Schminken in der Garderobe, das Vorbereiten der Kostüme, das Tanzen, Singen – und immer wieder diese unendlichen Lachanfälle. Wir lachten, bis uns alles wehtat. Ich wäre so gerne wie Nani und Lana gewesen. Ich wollte Britney Spears, Whitney Houston, Mariah Carey und all die andern Diven auf der Bühne parodieren. Ich wollte mich im Fummel sehen und wissen, wie Make-up mich verändern könnte. Also bettelte ich Mimi Marcia eines Tages an, mich für die Parade des Christopher Street Days aufzuhübschen. Mimi lachte und ließ sich nicht allzu lange bitten. Stundenlang wurde ich zurechtgemacht. Ich sah verrucht aus mit meiner Perücke und den halsbrecherischen Overknee-Stiefeln mit Leopardenmuster in Größe 43: wie Tina Turner auf Christal Meth. Mimi hatte mich gewarnt, ich würde den kilometerlangen Umzug niemals in den Stilettos durchhalten. Natürlich glaubte ich, es besser zu wissen – und starb. Meine Füße waren voller Blasen. Sie fühlten sich taub an und schmerzten gleichzeitig so schlimm, als wäre ich über Rasierklingen gelaufen. Aber trotzdem: Meine Drag-Premiere war ein Riesenspaß, und ich war definitiv auf den Geschmack gekommen. Kurz darauf begann ich als Kellner im »Star Treff« zu arbeiten.
In dem Travestietheater schlich ich mich vor meiner Kellnerschicht natürlich wieder mit meinen Freund*innen in die Garderobe. Das war unser Ritual. Manchmal schminkten sie nicht nur sich, sondern trugen auch bei mir Make-up auf. Ich fühlte mich besonders und merkte, was Puder, Lippenstift und falsche Wimpern mit mir machten: Mit jedem Tupfer Make-up und jedem Pinselstrich Lidschatten empfand ich ein wachsendes Gefühl von Selbstermächtigung. Wenn ich in den Spiegel blickte, war es verrückt und aufregend, wie ich mich verändert hatte. Ich wusste ja: Was ich da tat, war in meiner Community und meiner Familie etwas völlig Infames. Dieser Zwiespalt war bittersüß.
Mein Name als Dragqueen war Aishwarya Rai, gewissermaßen eine Verbeugung vor den indischen Wurzeln der Rom*nja. Drag als Kunstform und Kultur faszinierten mich. Nun wollte auch ich mehr mit Geschlechterbildern experimentieren. Aishwarya Rai reflektierte Teile meiner Persönlichkeit, die sonst nie gesehen werden durften. Nani ließ mich bei meinen ersten Schritten als Dragqueen nicht alleine. Mit ihr gemeinsam traute ich mich das erste Mal auf eine Bühne. Sie mimte Mariah Carey und ich Luther Vandross. »Endless Love«, das waren wir. Ein anderes Mal schlüpften Nani und ich in ein Gerupftes-Hühnchen-Kostüm und machten zu Janet Jackson-Songs Quatsch auf der Bühne. Das war nicht glamourös, ich trat nicht als große Diva auf, aber ich hatte den Spaß meines Lebens. Die Verwandlungen und das Spielen mit Geschlechterrollen waren mein erster Schritt auf die Bühne und damit auch eine Vorstufe meiner Comedy-Auftritte.
Aishwarya Rai sah übrigens ziemlich gut aus. Zeitweise hatte mein Alter-Ego sogar ein eigenes Datingprofil. Meine Freund*innen hatten mich darauf gebracht. »Du würdest dich wundern, was für geile Typen du im Fummel abbekommen würdest«, sagten sie. Das wollte ich selbstverständlich ausprobieren. Und die Dragqueens wussten offensichtlich, wovon sie sprachen. Als schwuler, Anfang-20-Jähriger hatte ich niemals so viele Nachrichten bekommen. Jetzt meldeten sich unentwegt alle möglichen Männer bei mir: weiße, Schwarze, Männer of Color, Muslime, Politiker, Schauspieler … Es war unfassbar. Fast alle waren Heteros, manche lebten in Beziehungen mit Frauen oder waren verheiratet wie ich. Und fast alle wünschten sich von mir dasselbe: Ich sollte mich mit meinem aufwändigen Make-up und Kleid mit ihnen treffen – und sie dann vögeln. Als Drag war ich ihre fleischgewordene Phantasie. »Du bist perfekt«, sagte einer der Männer zu mir. Ich verurteilte das nicht – aber ich verstand es wirklich überhaupt nicht. Meine sexuelle Präferenz war eindeutig. Quelle-Katalog, BRAVO und so – ich stand eben unheimlich auf Männer, und auch im Kleid mit Nylonstrümpfen hatte ich nie das Gefühl, »unmännlich« zu sein. Nach dem Sex unterhielt ich mich lange mit den Verehrern von Aishwarya Rai, aber kam dem Geheimnis dennoch nicht auf die Spur oder kapierte es einfach nicht.
Nach den spektakulären Nächten als Drag, einem ewig langen, sehr aufwändigen Abschminkprozess und einem Frühstück mit Nani und den anderen, fuhr ich wieder zu meinen Kindern und meiner Frau. Dort blickte ich in fragende und wütende Gesichter. Ich musste mich erklären und vor allem gegenüber meiner Mutter und meiner Frau Rechenschaft ablegen.
Dass ich eine Karriere als Dragqueen nicht ernsthaft verfolgte, hatte aber andere und sehr profane Gründe. Von meinen Freund*innen wusste ich: Drags brauchen einen 100-Quadratmeter-Keller und einen Riesenraum für Kostüme und Make-up – wo hätte ich das im Wohnwagen machen sollen? Da gab es höchstens ein geräumiges Vorzelt. Bei meiner Familie wäre das Projekt Drag-Makeover auch nicht gut angekommen. Also dachte ich gar nicht weiter darüber nach. Vor ein paar Jahren hatte ich dennoch kurz den Impuls, mich ernsthaft als Dragqueen auszuprobieren. Aber um Drag zu zelebrieren, muss man auf die Straßen und in die Clubs. Das wäre mit meinem heutigen Leben gar nicht vereinbar, zumal ich voller Demut vor der großen Kunst meiner Geschwister bin und mir nicht einbilde, ich könnte das mal eben so. Außerdem glaube ich, dass die Menschen mein – fast – ungeschminktes Gesicht sehen müssen, um die Geschichte dahinter zu verstehen. Alles andere würde mir meine Glaubhaftigkeit nehmen. Wer weiß, vielleicht werde ich irgendwann in einem meiner Programme noch einmal mit Stilettos und Kleid auf der Bühne stehen. Das in Erwägung ziehen zu können, ist das Privileg, das ich mir hart erkämpft habe. Meine Drag-Freund*innen haben wirklich meine ganze Bewunderung. Sie sind seit Jahren in Deutschland und in der Szene unterwegs und bekommen als People of Color doch noch immer nicht genug Raum und Anerkennung. Für mein Leben werden sie immer wichtig sein. Drag empowerte mich. Drag hat mir Mut gemacht und mir Angst genommen. Das ist Freiheit.
Die Begegnungen und Freundschaften mit anderen schwulen Männern bedeuteten mir eine Menge. Schließlich hatte ich lange überhaupt keine wirkliche Vorstellung davon, wie ein Leben als Schwuler aussehen könnte. Und auch wenn ich mir längst eingestanden hatte, dass ich gay war, konnte ich viele Ängste nicht einfach abschütteln: Würde ich als schwuler Mann jemals ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern haben? Und würde ich jemals in einer Beziehung mit einem Mann leben? Und wollte ich das?
Partys und Drag, dann wieder Arbeit und Familie … Die Wochen zogen sich so hin. Ich arbeitete in einem Bleaching-Studio und kam zurecht. »Gianni, bleib bei deinem verdammten Plan. Halte aus. Du kannst das. Du bist ein guter Vater und du kannst ein guter Ehemann und Sohn sein.« Manchmal flüsterte ich mir leise Durchhalteparolen zu. Nur noch ein paar Jahre, das war doch abzusehen. Ich wollte den Hetero mimen, bis meine Kinder erwachsen wären. Ganz sicher. Doch dann kam Paul.
Wir lernten uns in einem Club kennen. In dem kleinen Laden konnte man schnellen Sex haben oder einfach gemütlich etwas trinken. Ich war hier, um auf der Box zu tanzen und angehimmelt zu werden. Paul lebte damals eigentlich in München und war nur zufällig in Köln, um sich für einen neuen Job zu bewerben. Als schwuler Mann ging er abends natürlich auch schwul weg. Köln, die deutsche »Capital City of Gays« kannte er noch nicht. Auf der Treppe, direkt neben dem Tanzbereich, sah er mich das erste Mal. Er dachte sich: »Boah, ist der geil!« Ich dachte mir: »Süßes Lächeln« – ganz der künftige Dentalhygieniker. Weil ich aber niemanden aufreißen wollte, versuchte ich, Paul mit meinem Freund zu verkuppeln. Der hatte mir nämlich gerade noch in den Ohren damit gelegen, wie gerne er mal etwas Ernstes hätte. So eine klassische, gut funktionierende, ziemlich monogame Beziehung. Das war doch die perfekte Gelegenheit. Wir verbrachten alle einen lustigen Abend miteinander. Paul und mein Freund tauschten Nummern aus, um später ein paarmal miteinander zu telefonieren. Aber irgendwie funkte es zwischen den beiden einfach nicht.
Paul bekam die Stelle und zog kurze Zeit später nach Köln. Er meldete sich bei mir und wir trafen uns. Was soll ich sagen? Wir hatten Sex und es war bombastisch. Wir passten einfach perfekt zusammen. Wenn wir uns sahen, vögelten wir uns das Hirn aus dem Schädel. Toll. Nach mehreren Dates war aber offensichtlich, dass wir uns nicht nur körperlich attraktiv fanden. Paul entwickelte Gefühle für mich und ich für ihn. Nur eingestehen wollte ich mir das nicht. Ich hatte genug mit meiner anstrengenden Familie zu tun. Niemals hätte ich sie und eine Beziehung mit einem Mann unter einen Hut bekommen. Und eine Scheidung war bekanntlich ausgeschlossen. Schließlich hatte ich den Deal mit meinem Vater. Mindestens bis zur Volljährigkeit meiner Tochter müsste ich das Spiel mitmachen. Einmal im Monat meine Frau beglücken, fertig. Wenn ich das hinbekam, würde ich meine kleinen Freiheiten behalten. Clubs, Urlaub und neuerdings auch Sex-Dates mit Paul.
Aber ich mochte diesen grünäugigen Mann wirklich. Eines Abends lud ich ihn deshalb zum Italiener ein. Und dann packte ich aus, ich legte einfach alles auf den Tisch. Ich sprach über meine Frau, meine Eltern und meine Kinder. Zwischendurch heulte ich, holte Luft und dann redete ich weiter. Paul saß einfach nur mit offenem Mund da. Ich konnte sehen, wie beeindruckt er war. So viel kompromisslose Ehrlichkeit hatte er wohl nicht erwartet. Ich hingegen hatte mit allem gerechnet, vor allem damit, dass er aufspringen und gehen würde. Dass er mir sagen würde, dass er keinen Bock auf Familienstress habe.
Aber Paul blieb sitzen. Er ließ sich nicht abschrecken, er war eben ein stabiler Typ. Er war schon 40 und stand beruflich und persönlich mitten im Leben, hatte viel erlebt und auch durch Psychotherapie einiges über sich gelernt. Jedenfalls ließ er sich nicht von meinen Horrorstorys abschrecken. Wie naiv – von uns beiden. Wir ließen uns also aufeinander ein. Vorerst. Denn als Paul und ich mit meinen Destiny’s-Child-Freunden weggingen, eskalierte die Lage irgendwie. Meine Freunde und ich waren in unserem Element. Auf der Tanzfläche drehten wir durch, so albern waren wir. Ich als Beyoncé Knowles und die anderen zwei als Kelly Rowland und – Wie heißt die Dritte noch mal? – Michelle Williams. Jeden einzelnen Song performten wir mit. Wir schaukelten uns gegenseitig so weit hoch, dass wir irgendwann auf dem Boden lagen, lachten, schrien und uns an den Haaren zogen. Paul war – gelinde gesagt – geschockt. Gerade hatte er sich noch das Drama meines Lebens angehört und war sich sicher gewesen, den reifsten Mittzwanziger aller Zeiten getroffen zu haben. Mit meiner reflektierten Art hatte ich ihn umgehauen. Doch jetzt stand er hier, starrte uns an und kam sich vor wie auf dem Kindergeburtstag von drei Vierjährigen. Eine durchgeknallte Roma-Familie hatte er sich zugetraut, aber mit Kindergarten-Schwuppen konnte er einfach nichts anfangen. Also drückte er die Stopptaste.
Am nächsten Tag besuchte er mich bei der Arbeit und offenbarte mir nachdenklich: »Ich bin zurzeit in einem ganz anderen Lebensabschnitt als du.« Er war höflich und ruhig. Aber natürlich versuchte er mir nur nett zu sagen, dass das mit uns nichts werden würde. Er wollte Abstand. Ich war schrecklich enttäuscht, als er ging, und bereute, dass ich mich so geöffnet hatte. Vielleicht hätte ich einfach den Mund halten sollen. Warum hatte ich ihn mit meinem ganzen Ballast behelligt? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Paul hatte das wohl geahnt. Er war noch vor dem Laden stehen geblieben und beobachtete mich von der anderen Straßenseite durchs Fenster. Er kehrte noch einmal um, und erklärte mir, dass er nicht wegen meiner Familie einen Rückzieher mache. An meiner Herkunft lag es auch nicht. Er war einfach zu verwirrt, weil er die krassen Extreme meiner Persönlichkeit kennengelernt hatte. Die konnte er in seinem Hirn nicht in Einklang miteinander bringen. Was sollte ich sagen? Das war ich eben: ein völlig verrückter Typ. Das konnte und wollte ich nicht ändern. Ich war 24, und ich brauchte die Nächte in Bars und Diskos. Für Paul war es vielleicht zu viel, aber wenn ich mit Kelly und Michelle unterwegs war, konnte ich ich sein. Ich blühte auf und genoss mein Gay-Life in vollen Zügen.
Ein paar Wochen sahen wir uns nicht, bis ich ihn wieder anrief. Wenn wir schon nichts Ernstes starteten, wollte ich wenigstens wieder Knaller-Sex. Danach lagen wir nebeneinander und es fühlte sich gut und vertraut an. Paul räusperte sich: »Gianni, ich glaube, ich muss revidieren, was ich gesagt habe. Ich entwickele sehr, sehr starke Gefühle für dich«, sagte er. Ich war glücklich, wir wollten es also probieren. Paul und ich wurden ein Paar. Bei meiner Frau und den Kindern blieb ich trotzdem.
Pauls Freunde hatten mehr als Bedenken, als er ihnen von mir erzählte. Die Vorurteile prasselten nur so auf ihn ein. »Lass die Finger von dem«, »Pass bloß auf, nachher beklaut er dich«, »Der spielt nur mit dir und dann geht er zurück zu seiner Familie«, »Bist du verrückt? Bei denen gibt es Ehrenmorde, nachher töten sie dich auch«, warnten sie ihn. Paul hatte vor mir schon mehrere feste Beziehungen gehabt, aber die waren anders gewesen. Meine Vorgänger hatten sich bereits geoutet. Unsere Liebe war eine heimliche, wenn wir nicht in irgendwelchen Szenebars oder seiner Wohnung waren. Wenn ich mit ihm geschlafen hatte, konnte ich nie bleiben, sondern fuhr zurück in mein anderes Leben. An Weihnachten brutzelte Paul mühevoll eine Pute und servierte Klöße und Wein. Wir feierten gemeinsam, doch um 19 Uhr verabschiedete ich mich, um mit meinen Kindern und dem Rest der Familie die Bescherung zu begehen. Ich war hin- und hergerissen, hatte immer das Gefühl, keiner Seite gerecht zu werden. Aber auch Paul litt wie ein Hund. Oft hatte er Zweifel und Angst, dass ich ihn doch irgendwann für die Familie sitzen lassen würde. Ich gab mir Mühe, damit wir eine schöne Zeit miteinander verbringen konnten. Ich wollte mich wirklich auf ihn einlassen. Doch ständig klingelte das Telefon, kontrollierte meine Frau mich und wollte wissen, wo ich mich herumtrieb. Wir kamen einfach nie zur Ruhe.
Stundenlang auf mich zu warten, das war schwierig für Paul auszuhalten. Nachts war ich nicht da, und er fühlte sich einsam. War ich bei ihm, strengte er sich wahnsinnig an, um mich zu verwöhnen und mir die Zeit mit ihm schön zu machen. Gleichzeitig spürte er den ständigen Druck meiner Familie. Damit mein Doppelleben funktionierte, probierten wir verschiedene Strategien aus. Eine sah vor, dass ich Paul meiner Familie irgendwann als meinen Geschäftspartner vorstellte. Und Paul spielte mit. Er war lustig, charmant und versuchte sogar, ein paar Brocken Romanes zu sprechen. Alle mochten ihn, und er war selbst beim Geburtstag meiner Frau dabei. Es war verrückt, aber wir genossen es, inmitten der anderen zu sein.
Paul hatte keine Eltern mehr, und diese Treffen mit Essen und viel Gelächter gaben ihm für einen kurzen Moment das Gefühl von Familie. Doch diese Konstellation war vollkommen irre. Wir waren in einem Moment verzweifelt und hatten in anderen Augenblicken des Beisammenseins die große, aber natürlich absurde Hoffnung, es würde sich alles in Wohlgefallen auflösen. Vielleicht könnten wir eine große, glückliche Roma-Kartoffel-Familie werden.
Zwei Jahre lang war unser Leben ein Versteckspiel. Aber Paul war der Jackpot. Ich wollte ihn nicht mehr loslassen, wollte mit ihm leben. Deshalb gab es nur eine Lösung für mich. Ich war 25, als ich es meiner Frau wieder – ein letztes Mal – sagte: »Ich bin schwul.« Diesmal rastete sie aus, schlug nach mir, warf meine Kleidung auf die Straße. Es war mein drittes Outing, und ich ging und zog zu Paul – dieses Mal endgültig. Am nächsten Tag rief ich meine Kinder an, um ihnen zu erklären, dass ich sie eine Weile nicht sehen könne und dass ich nicht nach Hause zurückkäme. Mein Vater beschimpfte mich und fällte sein Urteil: Ich war nicht länger sein Sohn. Meine Mutter setzte noch einen drauf: »Ich wünschte, ich hätte einen Stein geboren und nicht dich.« In seiner Wut drohte mein Vater auch Paul, er würde ihn fertigmachen. Was immer das bedeutete. Wir hatten Phantasie und konnten uns einiges vorstellen. Natürlich hatten wir Angst. Paul schob nachts ein altes Sofa vor die Wohnungstür, damit niemand in den Flur eindringen konnte. Wenn meine Familie ankündigte, mir die Kinder wegzunehmen, fühlte sich Paul dafür verantwortlich. In der Zeit drehte sich fast alles um mich und die Auseinandersetzung mit meiner Familie. Für Paul war es, als zählten seine Bedürfnisse gar nicht. Er teilte mich mit meinen Freund*innen, mit meinen Kindern und meiner Familie. Meist bereitwillig, aber oft tat es ihm weh und er hasste es.
Paul und ich hatten in dieser Krisenzeit aber auch viele gute Gespräche. Er half mir sehr, mich besser zu verstehen. Während wir lecker aßen, redeten wir über das kleine Kind in mir – über Wut, Verletztheit und Ängste. Doch ein Anruf genügte, um alles kaputt zu machen. Wenn ich mit den anderen Jovanovics telefonierte, war die Stimmung aufgeladen. Meine Mutter, meine Ex oder mein Vater machten mich abwechselnd zur Schnecke. Ich flippte regelmäßig aus, hatte mich vor lauter Emotionen kaum unter Kontrolle. Keine Chance, dass ich dann vernünftig mit meinem Partner reden konnte. Er mochte nicht, was er da sah: meine aufbrausende Art, die Aggressivität, die Lautstärke. Ich gab ein Männerbild ab, das ihm überhaupt nicht behagte. Aber er sah auch, wie ich litt. Der Druck machte mich dünnhäutig. Ich war gestresst, frustriert und niedergeschlagen. Aber ich gab nicht auf. Ich hielt es aus, denn ich wollte ein neues, freies Leben. Der wichtigste Teil davon war die Partnerschaft mit ihm.
Paul war eine wichtige Stütze für mich in jeder Hinsicht. Ohne ihn wäre ich vermutlich nicht so erfolgreich als Unternehmer. Er half mir, mich selbstständig zu machen. Mit ihm stellte ich einen professionellen Businessplan auf die Beine. Außerdem begleitete er mich zu Banken für die nötigen Kredite – ein weißer Mann an meiner Seite war für die Bewilligung enorm von Vorteil – und stemmte mit mir die finanzielle Belastung. Inzwischen sind Paul und ich mehr als 18 Jahre zusammen. Wir haben uns identische Hasen auf die Waden und den Kussmund des jeweils anderen auf die Arme tätowiert. Wir haben geheiratet und unsere Gelübde mehrfach erneuert. Klingt schön und romantisch, ist es auch.
2011 heirateten wir das erste Mal inoffiziell – aber dafür kirchlich. Tatsächlich traute uns ein ehemaliger schwuler Pfarrer in einer entweihten Schlosskapelle. Der Ort – aber vor allem unsere Gelübde vor Gott abzugeben – bedeutete uns damals sehr viel. Es war einer der schönsten Tage unseres gemeinsamen Lebens. Monatelang machten wir eine Metabolic-Balance-Diät, um umwerfend auszusehen. Sehr oberflächlich, aber wirkungsvoll das Ganze: Wir waren rank und schlank wie nie. Wir ließen uns schneeweiße Smokings schneidern, und ich suchte sechs verdammte Wochen nach weißen Lackschuhen. Zu der Trauung fuhren wir mit einem schwarzen Hummer vor. Understatement ist einfach nicht unsere Kernkompetenz. Das Luxusfahrzeug im Military Style hatten wir von einem solventen Bekannten geliehen. Als wir ausstiegen, spielte bereits Musik: die Rom*nja-Hymne »Djelem, Djelem«. Weitere Songs des Tags: »Hero« (Mariah Carey) und »Mein Herz tanzt« (Mia). Alles war perfekt. Meine Kinder waren dabei und begeistert von der Trauung. Mein selbst bereits verheirateter Sohn war unser Ringjunge. Nach der Trauung ließ Paul, der Romantiker, weiße Tauben als Zeichen unserer Liebe fliegen. Mir gefiel das nicht so gut – ich hätte sie lieber auf dem Teller gesehen. Am Abend feierten wir eine riesige Sause bis in die späte Nacht.
Für den zweiten Tag hatten wir eine Mottoparty ganz in Weiß organisiert. Nani La Belle war nicht nur Gast, sie performte auch. Andere Freund*innen gestalteten das ganze Programm. Wir tanzten ausgelassen zu 80er- und 90er-Jahre-Musik und am Abend hielt meine Tochter eine Rede, bei der wirklich alle weinten. Paul und ich hatten unabhängig voneinander versucht, ein Feuerwerk zu buchen und uns damit zu überraschen. Beim gleichen Anbieter, der uns dann leider absagte. An unserer Festlocation am Rhein war Knallerei verboten. Wie schön, dass gefühlt 300 Meter weiter eine andere Party ein Höhenfeuerwerk zündete. Das Spektakel kostete uns keinen Cent und startete exakt zum Ende der Rede meiner Tochter. Boom! Der perfekte Einstieg in unser Eheleben.
Ich kann gar nicht beschreiben, was dieses Fest mir bedeutete. Es war für mich purer Widerstand. Es war eine freiwillige Heirat mit einem Mann, den ich körperlich begehrte und seelisch liebte. Mit dieser Trauung bewies ich mir: Ich bin ein Mann, der lange Zeit jeden Tag dafür kämpfen musste, einen Mann lieben zu dürfen. Nichts, was an diesem Tag geschah, war für mich selbstverständlich. Natürlich stand es mir zu, glücklich zu sein – aber das Leben, das vor mir lag, war so lange unerreichbar für mich gewesen. Für Paul kam noch etwas hinzu: Ich schenkte ihm das Versprechen, bei ihm zu bleiben. Ich würde nicht zu meiner Ex-Frau zurückkehren. Mit unserer Hochzeit entfernte ich mich noch einmal sehr deutlich von den Traditionen meiner Eltern.
Wir konnten nicht genug voneinander bekommen. 2015 ließen wir unsere Lebenspartnerschaft offiziell eintragen. Auch das war ein wichtiger Schritt, den wir ausgiebig feierten. 2021 heirateten wir noch einmal standesamtlich. Mit dabei waren die wichtigsten Menschen in unserem Leben. Wir feierten den ganzen Tag. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass alle von unserer Liebe angesteckt wurden. Einer unserer Gäste sagte, er habe die folgende Arbeitswoche in seiner eigenen Firma mit den folgenden Worten eingeläutet: »Hier ist eindeutig zu wenig Liebe unterwegs, das werde ich ändern müssen!« So funktioniert unsere Partnerschaft. Unsere Liebe erfüllt erst uns, schwappt über und ergreift dann andere. Es gibt kein Entrinnen.
Aber nichts ist perfekt. Wir zwei kommen aus unterschiedlichen Welten und das birgt bis heute eine Menge Konfliktpotenzial. Paul ist 1962 geboren. Sein Vater war Spätheimkehrer, kam 1949 aus dem Kaukasus. Dort wurde er in einen Zug gesetzt, der bis Berlin nicht hielt. Zurück in seinem Heimatort baute er sich mit seiner Frau ein gutbürgerliches Leben auf. Paul traf in den Schulen, die er besuchte, nicht auf People of Color oder Schwarze Menschen. Er wurde groß mit Sprüchen wie »Achtung, die Z*** kommen, holt die Wäsche rein!«. Wenn über »Ausländer« oder »Gastarbeiter« gesprochen wurde, dann war das nie nett gemeint. Heute sagt er selbst: »Ich bin in einem Haushalt mit vielen Ressentiments aufgewachsen.« Diese abzulegen, ist ein Kraftakt.
Am Anfang unserer Beziehung waren wir ausschließlich damit beschäftigt, unser Leben irgendwie in den Griff zu bekommen. Wir mussten uns gegen die ständigen Interventionen meiner Familie rüsten. Ich hatte also gar keine Zeit, mich mit meinen Rassismuserfahrungen oder Rassismen in meiner Beziehung zu beschäftigen. Das bedeutet aber nicht, dass Rassismus zwischen Paul und mir kein Thema war. Es wurde nur überlagert. Aber als ich mich politisierte und mit der Geschichte der Rom*nja beschäftigte, brachte ich das natürlich auch mit an den Esstisch. Dann flogen die Fetzen. Ich sagte Paul, dass auch er sich wie andere Weiße mitunter rassistisch verhielt und immer wieder die Deutungshoheit über mein Leben und meine Empfindungen übernahm. Pauls Reaktion war wie ein Klassiker aus dem Lehrbuch: totale Abwehrhaltung. Er war sich sicher, im Recht zu sein und empfand meine Vorwürfe als undankbar. Hatte er nicht alles für mich getan? Und jetzt wagte ich es, ihn mit Rassismus in Verbindung zu bringen? Manchmal stimmten sogar meine Kinder mit ein. Sie nannten Paul »Gadjo« und machten ihm damit deutlich, dass er der andere in unserer Roma-Familie war. Unsere Diskussionen waren so belastend und verletzend für mich, dass ich irgendwann sagte, dass es so nicht weiterginge. Trennung war eine reelle Option. Diese Drohung wirkte. Paul kriegte seinen Arsch hoch und fing an, seine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Ihm gefiel nicht, wie ich mit ihm darüber geredet hatte. Tief in sich wusste er aber, er konnte sich auf mich verlassen. Irgendetwas würde an meinen Vorwürfen dran sein, und er wollte herausfinden, was. Er begann die gleichen Bücher zu lesen wie ich und hörte zu, wenn das Thema irgendwo aufkam. Nach und nach erkannte er, wie strukturell Rassismus verankert ist und wo auch er selbst einen Anteil daran hat.
Ich war jahrzehntelang unpolitisch. Ich hockte in einem verschimmelten Kokon voller Diskriminierung. Jetzt schälte ich mich frei und kotzte meinem Mann den ganzen Rassismus-Scheiß, den ich gefressen hatte, vor die Füße. Ich nahm seinen Frust in Kauf, irgendjemand musste dafür herhalten. Wir diskutierten heftig, und nicht immer konnte ich ihn argumentativ sofort überzeugen. Ich stand ja bei vielen Themen auch erst am Anfang, hatte noch nicht für alles die richtigen Worte gefunden. Es nervte und kränkte mich, wenn er meine Erfahrungen negierte. Dieser zweifelnde Blick, wie er mich unterbrach, den Kopf schüttelte und im tiefsten Brustton der Überzeugung sagte, dass die Dinge doch ganz anders seien. Solche Situationen gibt es nach wie vor – aber sie sind seltener geworden.
Heute ist Paul wie mein Anwalt. Er verteidigt mich vor anderen – auch wenn ich gar nicht dabei bin. Paul ist der Verbündete – der Ally –, den wir alle brauchen. Er diskutiert mit Kolleg*innen, Freund*innen und Angehörigen über ihr rassistisches Verhalten. Er beschwert sich in der Kantine, wenn das Schnitzel mit der Rassismus-Soße auf dem Speiseplan steht. Er bereitet mit mir Demonstrationen und Veranstaltungen gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit vor. Er bleibt im Hintergrund, hält seine Klappe, und manchmal verlässt er diskret unser Esszimmer. Nicht aus Desinteresse, sondern damit andere BIPoC genug Raum bekommen. Er hat gesehen, wie ich in meinem Leben gelitten habe, und meinen Schmerz erkannt. Er akzeptiert nicht, wenn andere darüber einfach hinweggehen. Er gibt mir den Rückhalt, wenn ich mal nicht mehr kann. Außerdem hat er erkannt, dass er als weißer Mann in der Bringschuld ist und etwas verändern muss. Er druckt Plakate, schreibt stundenlang Regiepläne und Mails oder filmt meine Veranstaltungen. Mein Mann ist mein größter Bewunderer. Warum er mich so unterstützt? »Weil es sinnstiftend ist«, erklärt er immer wieder.
Ich bin an meinem Outing, das in so vielen Schritten erfolgte, fast zerbrochen. Der Prozess war unsagbar schmerzhaft. Aber es war das Wichtigste, was ich je getan und erlebt habe. Ich bin unendlich dankbar für die Menschen, die mich in dieser Zeit bestärkt haben. Mein Mann und meine Freund*innen waren die Blase, die mich schützte. Ihnen verdanke ich, dass ich keine Angst habe, Fehler zu machen. Ich habe genug Mut, um für mich und meine Ideen, aber auch für die Rechte anderer einzustehen. Ich habe verstanden: Ich bin wertvoll und liebenswert. Ich verdiene es, meine Persönlichkeit, meine Sexualität und meine Liebe frei zu leben. Dieses Recht haben alle Menschen und sie sollten es auch ausüben dürfen.