Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit

Mein Leben in einer weißen Dominanzgesellschaft

Minderheit ist ein Scheißwort. Ich spreche schon lange nur noch von kleinen Mehrheiten. Das ist (m)ein kleiner Akt der Selbstermächtigung. Ich lebe in einer demokratischen Gesellschaft, also bin ich mir der Bedeutung von Mehrheiten bewusst. Sie entscheiden. Sie bestimmen über die politische Zukunft eines Landes, sie beeinflussen, was wir sehen, hören und lesen. Mehrheiten haben Macht und sie zeigen sogenannten Minderheiten mehr oder weniger deutlich, wo es langgeht. Wer einer kleineren Gruppe angehört, darf sich zwar zu Wort melden – das ist zum Glück ein wichtiger Teil der Demokratie –, allerdings entscheidet dann die jeweilige Mehrheit, ob sie den Äußerungen überhaupt zuhört und ob sie Forderungen berücksichtigt. Minderheiten müssen auf das Wohlwollen und die Sympathie der Mehrheit hoffen. Das ist natürlich nicht unproblematisch, denn nur weil Gruppen zahlenmäßig überlegen sind, bedeutet das nicht, dass sie immer recht haben, moralisch integer sind oder rücksichtsvolle und weise Entscheidungen treffen.

Ich liebe Männer und bin ein Rom, der extrem jung Vater und Großvater geworden ist. Alles an meiner Biographie schreit »Minderheit«, aber ich war mit dem Wort nie glücklich. Ich fühlte mich dadurch immer schlecht, minderwertig, klein, nicht gesehen, minderbemittelt und exkludiert.

Und irgendwann fing ich an, mich zu fragen: Gibt es Minderheiten faktisch überhaupt? Sprechen wir in Deutschland nämlich von Mehrheit, dann meinen wir weiße Menschen, christliche oder atheistische Menschen, nichtbehinderte Menschen und Cis-Personen. Es geht also weniger um die eine Mehrheit, sondern vielmehr um das Dominanzverhalten von Gruppen, die vermeintliche Normen prägen. Deutlich wird das in vielen Lebensbereichen, zum Beispiel im Bildungssystem. Die Schüler*innenschaft ist schon lange nicht mehr mehrheitlich weiß. In den Lehrer*innenzimmern und Lehrmaterialien sieht die Sache allerdings ganz anders aus.

Mindestens jeder vierte Mensch in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, fast zehn Millionen haben eine Behinderung. Ist es angesichts solcher großen Gruppen angemessen, von Minderheiten zu sprechen? Ich finde nicht! Ich finde, wir sind keine Minderheit, wir sind die kleinen Mehrheiten. Aber auch für mich bedeutete Mehrheit bislang immer, es mit einer weißen Dominanzgesellschaft zu tun zu haben.

Meine Vorfahren waren Menschen, die in extrem brutalen und lebensbedrohlichen Situationen gelebt haben. Wir Rom*nja waren hier in Deutschland – und genauso überall sonst – immer in der Unterzahl. Ursprünglich aus Indien stammend, wurden wir immer wieder vertrieben und reagierten darauf, mit dem »Wandern« und »Umherfahren«, das für uns als so typisch gilt. Sinti*zze und Rom*nja waren seit jeher Opfer von Verfolgung und immer wieder auf der Flucht. Wir sind eine Gruppe, die stets ausgegrenzt, benachteiligt und in den schlimmsten Zeiten deutscher Geschichte in Massen getötet wurden. 500 000 Sinti*zze und Rom*ja wurden von Nazis in Konzentrationslagern ermordet. Diese traumatischen Erfahrungen meiner Ahnen stecken in mir, ihr Vermächtnis lebt in mir weiter, ich kann ihr Leid, aber auch ihre Stärke spüren. Wären sie nicht so klug und überlebensfähig gewesen, gäbe es mich heute nicht.

Als vor einigen Jahren meine persönliche Politisierung begann und ich zum Aktivisten wurde, brauchte ich viel Liebe und hatte das Gefühl, mich und meine Roma-Identität erklären zu müssen. Ich fühlte mich als Außenseiter und Sonderling. Meine Hautfarbe und mein Aussehen machten mich übermäßig sichtbar für die weiße Gesellschaft, gleichzeitig wurde ich kategorisch ignoriert. Schon in Kinderjahren machten mich Menschen zum Objekt. Sie rempelten mich an, zeigten mit dem Finger auf mich und behandelten mich wie einen unliebsamen Gegenstand. Das war eine sehr unangenehme Erfahrung, denn nirgendwo hatte ich einen sicheren Ort. Als bekennender Deutsch-Roma mache ich heute auf die prekäre Lage meiner Geschwister aufmerksam. Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland sollen nicht länger unsichtbar sein. Unsere Geschichte ist Teil der deutschen und europäischen Geschichte, sie gehört ins kollektive Bewusstsein. Deshalb prangere ich regelmäßig die Verwendung des Z*-Wortes an, denn es steckt voller Schmerz, Gewalt und Rassismus. Manchmal fühle ich mich wie der Erklärbär der Nation, aber es braucht wohl diese Kontinuität und ständige Wiederholungen. Wie ein Mantra erzähle ich meine Geschichte, versuche, andere emotional zu berühren. Manchmal bin ich am Ende und kann nur noch weinen, auch in Interviews mit Journalist*innen habe ich schon gesessen und hemmungslos geflennt. Zwischendurch hatte ich deswegen die Sorge, mich lächerlich zu machen. Doch dann weinten auch die Journalist*innen, weil sie spürten, was ich zu sagen habe. Tränen sind kein Zeichen von Schwäche, sie sind kraftvoll und Ausdruck meiner stärksten Emotionen. Sie sind Ausdruck meines Leides, aber auch Teil meines schmerzhaften Heilungsprozesses. All das durchzustehen, ist es wert, denn es geht mir um so viel mehr.

Ich habe einen starken Willen und musste mich stets mühsam durchsetzen. Mein Outing, meine vielen kleinen und großen Kämpfe waren nötig, um dort anzukommen, wo ich heute bin. Ich hatte dabei immer ein Ziel: Ich wollte, dass deutsches Roma-Leben noch in vielen hundert Jahren ein Thema ist. Das soll mein Vermächtnis sein und das meiner vielen Geschwister, die mit mir für unsere Sache kämpfen. Ich empfinde es als meinen Auftrag, ein Vorbild und eine Stimme zu sein für all diejenigen, die sich noch nicht trauen oder nicht meine Möglichkeiten haben. So viele von uns haben nicht die Chance, über Dinge wie Selbstverwirklichung, aktivistische Projekte oder neue Narrative nachzudenken. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, zu überleben und jeden Tag etwas zu Fressen auf dem Tisch zu haben. Dass es bei mir anders ist, ich in einer großen Wohnung lebe und auf der Dachterrasse über die Lage der Nation sinnieren kann, ist ein fucking Privileg – aber es ist unfassbar hart erarbeitet. Niemand hat mir etwas geschenkt. Ich bettelte, schuftete und betete, um Sichtbarkeit zu bekommen. Aber ich bin nicht der Einzige mit diesem Anspruch. Viele meiner Geschwister kämpfen um ihren Platz in dieser Gesellschaft und an dem Tisch, an dem unsere Themen verhandelt werden. Solange ich den Fuß in der Tür habe, ist es meine Pflicht, sie für andere geöffnet zu halten. Meine Familie hat sich innerhalb ihrer Möglichkeiten für mich den Arsch aufgerissen, damit ich diesen Weg gehen kann. Genau das versuche ich nun für andere zu tun.

Gemeinsam mit meinen Mitstreiter*innen möchte ich Sinti*zze und Rom*nja, aber auch andere People of Color und Schwarze Menschen gleichermaßen empowern, denn wir alle sind die kleinen Mehrheiten. Ich arbeite mit dieser Wortschöpfung, mit diesem Bild, weil ich es wichtig finde, dass wir als kleine, große Gruppen unsere eigene Wirklichkeit schaffen und uns von – nicht selbstgewählten – Grenzen befreien. Dann können kleine Mehrheiten starke, selbstbewusste Gemeinschaften sein. Für Sinti*zze und Rom*nja, People of Color, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderungen oder andere diskriminierte Gruppen sind sie enorm wichtig, weil unsere Communitys uns schützen und stärken – sie machen uns groß.

Wir sind keine homogenen Gruppen, aber oft verbinden uns ähnliche Lebensrealitäten und Erfahrungen. Die Viertel, in denen wir aufgewachsen sind, ähneln einander oft. Unsere Slangs, unsere Musik, die vergleichbaren Biographien unserer Eltern schaffen Brücken zwischen uns. Womöglich waren unsere Eltern strenger und dominanter als bei anderen Kindern, die in Deutschland aufgewachsen sind. Vielleicht waren sie ärmer oder mussten mehr arbeiten. Oder wir mussten für sie übersetzen und den Haushalt führen. Unter Umständen teilen wir auch unsere Existenzängste. Viele wissen nicht, wie sie ihre Miete zahlen sollen, andere fürchten um ihre körperliche Unversehrtheit. Im Alltag haben wir unzählige Anknüpfungspunkte. Das gilt auch für unsere Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Jedes Kind, das nicht weiß gelesen wird, kennt Rassismus und Stigmatisierung im Schulkontext. Die Erwachsenen haben dieselben Probleme am Arbeitsplatz, bei der Wohnungs- oder Partner*innensuche. Sind wir unter uns, müssen wir uns deshalb nicht erklären. Sprechen wir über Rassismus oder andere Diskriminierungen, werden unsere Erfahrungen nicht infrage gestellt. Wir glauben einander. Das hat den Vorteil, dass Menschen loslassen und verletzlich sein können. Für viele ist das eine völlig neue Erfahrung. Denn da draußen, umgeben von der weißen Dominanzgesellschaft, müssen wir stark sein. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Wir müssen besser sein als alle anderen und können uns keine Fehler erlauben. Unsere Kinder müssen sich benehmen, leise sein und sich in der Schule mehr anstrengen als Weiße. Erwachsene müssen im Job oft viel mehr leisten, um eine durchschnittliche Karriere zu machen. Nicht umsonst sind so viele von uns selbstständig, um etwas zu erreichen. Die Selbstständigkeit ist dabei oft der Versuch, rassistische Strukturen im Alltag so weit wie möglich zu vermeiden. Begegnet mir im Angestelltenverhältnis Rassismus, bin ich meist machtlos, doch erlebe ich im eigenen Betrieb Rassismus, sind die Wirkungsmechanismen andere. Für den wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Aufstieg tragen wir ein überdurchschnittlich hohes Risiko, um uns selbst zu versorgen und abzusichern. Aber immerhin kann ich als Unternehmer Kund*innen vor die Tür setzen, wenn sie mich beleidigen oder mit dem Z-Wort betiteln. Dieses Recht habe ich mir hart erarbeitet. Dieses Beispiel ist mir wichtig, weil wir in meinen Augen eine respektvolle Sprache brauchen. Dadurch übernehmen wir die Deutungshoheit über unser Leben, unsere Gefühle und Erfahrungen. Wir bestimmen mit, welches Bild sich die Öffentlichkeit von uns macht.

Uns kleine Mehrheiten verbindet auch der Wunsch, Bedeutung in dieser Welt zu erlangen. Wir verdienen Anerkennung für unsere Leistungen und die vielen Kämpfe, die wir täglich im Kleinen und Großen durchstehen. Anerkennung, die uns so lange verweigert wurde. Wir wollen gesehen werden mit unserer Geschichte, unsere Perspektiven sollen in allen Lebensbereichen repräsentiert werden. Unternehmen, Medien, Lehrer*innenzimmer, Kliniken, Parlamente – wir müssen überall vorkommen. Nur so können wir Narrative verändern und Geschichte schreiben.

In den letzten Jahren hat sich vieles verändert: Lange gab es kaum ein Miteinander zwischen verschiedenen kleinen Mehrheiten. Die Communitys blieben trotz vieler Schnittmengen meist unter sich, oft hetzten sie sogar gegeneinander. Das ist heute vor allem in der aktivistischen Blase anders. Sinti*zze und Rom*nja gehen Seite an Seite mit Schwarzen Menschen auf Black Lives Matter-Demonstrationen. Schwarze Menschen zeigen sich solidarisch mit asiatischen Menschen. Menschen der LGBTIQA+-Gemeinschaft highlighten Menschen mit Behinderung.

Meine Politisierung ist eigentlich noch sehr frisch. Seit rund zehn Jahren beschäftige ich mich mit Themen wie Rassismus und Intersektionalität. Noch bin ich an einem Punkt, an dem ich Räume, in denen ich mich sicher und empowert fühle, dringend brauche. Dass ich entsprechende Orte kreiere, wo sie mir fehlen, ist da eine logische Konsequenz. Manchmal fühlen sich diese Orte an wie das Paradies, und wir schweben wie auf einer pinken, fluffigen Wolke durchs Community-Leben. Wir protestieren gemeinsam, planen Veranstaltungen, geben und besuchen Workshops und schmeißen gute Partys. Aber es wäre falsch zu glauben, dass unsere Communitys grundsätzlich schützende Räume sind. Oft sind sie keine heile, harmonische Welt. Wir sind wie Familien, die sich lieben, streiten und auch kränken. Jedes einzelne Familienmitglied bringt seine eigene Wut, Enttäuschung, Hoffnung und persönlichen Bedürfnisse und Forderungen mit an den Tisch. Und je aktivistischer das Umfeld, desto mehr brennen die Herzen für die Themen. Die Menschen widmen diesen Themen ihr Leben, und das macht sie streng. Nicht nur mit der Dominanzgesellschaft – auch miteinander.

Keine Frage: Die kleinen Mehrheiten haben Power, sie sind hartnäckig, klug und eloquent – wo sie austeilen, besteht deshalb auch die Gefahr, einen irreparablen Schaden zu verursachen. Manche haben es vielleicht nicht anders verdient, dennoch sollte man sich dieser Verantwortung bewusst sein. Auch bei aller notwendigen Kritik müssen wir empathisch bleiben und darauf achten, nicht noch brutaler untereinander zu sein, als es die Gesellschaft ohnehin mit uns ist. Viele Gefechte sind leider oft gar nicht zielführend: Sie spalten unsere Communitys, lenken uns von unserer wichtigen, gesellschaftsrelevanten Arbeit ab und verhindern, dass wir unsere gesamte Stärke entfalten. Deshalb müssen wir künftig wieder Wege finden, konstruktiv miteinander ins Gespräch zu kommen und einen dauerhaft wertschätzenden, respektvollen Umgang miteinander zu pflegen. Ich selbst bin ein impulsiver, emotionaler Mensch, und ich merke, wie viel ich noch lernen muss. Ich habe immer mit traditionellen Gesellschaftsstrukturen gehadert. Heute mit 43 mühe ich mich mehr denn je am Patriarchat und an Cis-Männlichkeitsbildern ab. Denn mir wird immer bewusster, wie sehr ich persönlich von diesen Konstrukten geprägt bin. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr stelle ich mich selbst infrage und arbeite daran, festgefahrene Verhaltensmuster abzulegen. Meine Sprache ist nicht perfekt, manche Themenfelder sind mir nicht so vertraut wie andere. Ich habe Weiterbildungsbedarf. Umso schöner ist es, wenn andere sich auf mich einlassen und bereit sind, mir ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Auch da ist es wie in einer Familie: Probleme lassen sich nur klären, wenn alle tief durchatmen und miteinander reden, anstatt sich die Köpfe einzuschlagen. Leute, gibt es ein Problem, sprecht miteinander! Allerdings mache ich mir da gar keine Illusionen: Auseinandersetzungen in den Communitys, aber auch mit der Dominanzgesellschaft brauchen Geduld, und sie sind schmerzhaft. Das liegt auch daran, dass wir dazu immer wieder aus unseren Komfortzonen herausmüssen. Aber wer sich auf die Herausforderung einlässt, wird wachsen und stark werden. Miteinander reden und einander zuhören lohnt sich. Nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Wir haben oft eine kindliche Vorstellung vom Verzeihen und Entschuldigen: Wir reichen uns die Hände, sagen »Entschuldigung« und dann ist gefälligst alles wieder gut. Aber so funktioniert es nicht. Ja, wir können hoffen, dass unser Gegenüber seinen Fehler einsieht und seine Verhaltensweise ändert. Aber eigentlich wissen wir es doch besser. Von jetzt auf gleich wird das nichts. Wir müssen einander Zeit geben und im Austausch über die Themen bleiben. Die anderen müssen sich sicher fühlen, wissen, dass wir sie nicht einfach aufgeben und im Regen stehen lassen. Wir müssen zeigen, dass wir bereit sind, aufeinander zu warten. Die Auseinandersetzung mit meiner Familie beispielsweise war hart, intensiv und sie dauert immer noch an.

Bei essenziellen Themen – wie Rassismus oder Feminismus – müssen wir auch bedenken, dass wir nicht alle die gleichen Startbedingungen haben. Wer die schlechtesten Voraussetzungen im Spiel des Lebens hat, sollte am meisten Zeit und auch Freiversuche bekommen. Von denjenigen, die mit mehr Vorsprung durch mehr Geld, Bildung und andere Privilegien starten, darf man mehr erwarten. Diskriminierende Sprache oder Sexismus sollte immer angeprangert werden, doch wenn sie vom reichen, alten, weißen Mann ausgehen, ist das besonders schockierend. Wie lange sollen wir denn noch darauf warten, dass ihr es hinbekommt? Habt ihr nicht die besten Voraussetzungen?

Ich trage all das, was ich gesehen und erlebt hab in mir. Ich weiß, wo ich herkomme. Darmstadt ist in mir, genauso wie Nürnberg und jeder Schlafplatz, an dem ich jemals eine Nacht verbracht habe. Manchmal heule ich wie ein kleiner Junge und breche zusammen. Wenn ich fertig bin, ist da dieser eine Gedanke: Seht meinen Schmerz! Er ist real und er ist echt. Mein Schmerz ist historisch belegt, ihr Miststücke! Meine Geschichte ist keine vom Mars oder vom Pluto. Es ist eine deutsche Geschichte. Ich werde meinen Mund nicht mehr halten, und ich werde dafür sorgen, dass alle unsere Namen kennen und sich täglich mit unseren Perspektiven auseinandersetzen müssen. Aber das Schönste ist, dass ich nicht der Einzige bin. Meine Geschwister der kleinen Mehrheiten: Ich sehe euer Leuchten, und die gesellschaftliche Veränderung ist längst im Gange. Unser gemeinsames Ziel heißt Teilhabe. Es ist der tiefe Wunsch, Gerechtigkeit in allen Räumen unserer Demokratie zu ermöglichen. Wir brauchen eine gerechte Wohnsituation, ein sicheres Gesundheitssystem, Gerechtigkeit am Arbeitsplatz und gerechte Repräsentation in den Medien. Es darf nicht dabei bleiben, zu bestimmten Uhrzeiten diverse Persönlichkeiten im Fernsehprogramm zu platzieren. Wir gehören auch auf den Stuhl des Programmchefs und an andere Schlüsselpositionen. Menschen mit internationaler Familiengeschichte müssen sich stärker beteiligen und einbringen können – zum Beispiel auch durch ein verändertes Wahlrecht.

Die weiße Dominanzgesellschaft trägt eine große Verantwortung, ohne sie geht es nicht. Sie muss Privilegien erkennen und teilen! Weiße Menschen müssen Allys, Verbündete, sein. Und Allyship ist kein Hobby, nichts, was man punktuell ausüben kann, wenn es gerade passt. Allyship bedeutet, den Mund zu halten, wenn es um Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen von anderen geht. Es bedeutet, auf Privilegien zu verzichten, damit andere partizipieren können. Es bedeutet, Plätze in allen Lebensbereichen zu räumen, um Vielfalt zu ermöglich. Schicke Viertel, in denen weder Sinti*zze und Rom*nja, PoC oder Schwarze Menschen wohnen, sind eben nicht erstrebenswert, sondern ein »soziales Problem«. Allyship bedeutet außerdem, dass auch weiße Menschen sich nicht länger wohl und sicher fühlen sollten, wenn sie sich in rein weißen Cis-Räumen bewegen. Diese Räume und die Ausgrenzung, für die sie stehen, müssen auch ihnen zutiefst suspekt sein. Dazu müssen weiße Menschen selbst aktiv werden, wir können diesen Job nicht für euch erledigen.

Ich glaube an Veränderung, und ich glaube an Liebe. Manchmal schließe ich die Augen und dann sehe ich Schwarze, PoC, queere Menschen und Menschen mit Behinderung vor mir. Manche haben klaffende Wunden, andere unsichtbare, körperliche oder seelische Narben. Sie haben Schmerzen durchlitten und Traumata erlebt, doch sie alle sind stark, sie haben Superkräfte. Sie ziehen sich selbst aus den tiefsten Löchern, und sie schützen andere vor Angriffen und neuem Leid. Sie beschreiben ihre eigenen Gefühle und finden heilende Worte, wo sie anderen noch fehlen mögen.

Viel zu lange haben wir uns wie Einzelkämpfer*innen gefühlt, aber inzwischen wissen wir, dass wir nicht allein sind. Gemeinsam sind wir laut, stolz und schön, und was uns alle eint, ist der Wille zur Gerechtigkeit. So sehe ich uns an einem gemeinsamen Tisch sitzen. Wir reden, streiten, lachen, weinen und essen eine gute Bolognese. Wir teilen den Tisch, das Bad und das Bett. Irgendwann wird so viel Vertrautheit und Verständnis zwischen den verschiedenen Gruppen sein, dass ich rein theoretisch von allen die stinkenden Füße im Gesicht und die Hoden im Nacken ertragen könnte. Dann wären wir Familie, und aus kleinen Mehrheiten würden gemeinsame Mehrheiten.