Als ich die Augen öffne, liege ich auf dem Rücken. Moritz kniet neben mir und hält meine Hand. Ich blinzele, blicke mich um und kann umgestürzte Stühle und Tische sehen. Durch die offene Terrassentür fällt noch schwach das Licht des ausklingenden Tages, eine leichte Brise geht. Alles fühlt sich schon fast wieder normal an, bis auf mein Bein natürlich: Als ich mich aufsetze, kann ich einen tiefroten Striemen oberhalb des Knöchels erkennen. Außerdem ist mir schlecht.
»Wa… was ist passiert?«, stöhne ich und Moritz öffnet den Mund, um mir zu antworten.
»Was ist denn hier passiert?«, kommt ihm der Barkeeper zuvor, der wie aus dem Nichts neben uns auftaucht. »Haben Sie sich etwas getan, Fräulein?« Er stürzt sich auf mich, greift mir unter die Arme und hilft mir hoch. Dann dreht er einen der Stühle um und hilft mir, mich daraufzusetzen. »Es tut mir so leid. Durch ein Versehen ist die Terrassentür abgeschlossen worden und ich musste unbedingt kurz eine rauchen und dann komme ich zurück und sehe das hier …« Er macht eine hilflose Bewegung in Richtung Unordnung. »Ist Ihnen etwas passiert?«
»Das weiß ich noch nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß. Mein Bein tut weh, aber die Übelkeit lässt langsam nach.
»Was ist denn hier um Himmels willen los gewesen?« Der Barmann sieht sich fassungslos um. »Ich war doch nur ein paar Minuten weg.«
Mir fällt dazu nichts ein. Soll Moritz doch machen: Ich fühle mich noch schwach.
»Eine Explosion?«, versucht er, doch es klingt eher nach einer Frage als nach einer Erklärung.
»Wo ist Pluvius?« Ich greife nach seinem Arm, ohne mich noch weiter um den Barkeeper zu kümmern. »Wo ist er? Was ist mit ihm passiert? Hat ihn der Sammler erwischt? Hat er meine Väter gesehen? Wo ist er? Sag doch was!«
»Wenn du mich mal kurz zu Wort kommen lassen würdest.« Moritz holt tief Luft. »Pluvius ist ohnmächtig geworden. Er hat auch etwas … äh, gesehen.« Er sieht zum Barkeeper, der immer noch mit offenem Mund neben uns steht und aussieht wie ein Kalb, wenn’s donnert. »Haben Sie nichts zu tun?«, fragt er wenig charmant. »Aufräumen oder so?«
Der Barkeeper wirft mir einen Blick zu.
»Ich kümmere mich schon um sie«, verspricht Moritz und wartet, bis der Mann sich daranmacht, die umgestürzten Stühle und Tische aufzurichten. »Pluvius ist umgefallen«, sagt er leise und klingt dabei nicht gerade tief besorgt. »Wir sind abgehauen, so wie du. Und dann passierte etwas mit dem Licht: Es wurde dunkler oder so …«
»Ja«, nicke ich eifrig. »Und älter.«
»Älter? Na ja. Wie auch immer. Auf jeden Fall sind wir endlos rumgekrochen und dann haben wir von weit her den Sammler gehört, der mit dir sprach. Wir wollten zu dir, wollten dir helfen, aber …« Er runzelt die Stirn und sieht sich um.
»Aber ihr habt den Weg nicht mehr gefunden, stimmt’s?«
»Ja. Ist das nicht verrückt? Ich meine, diese Bar ist ja nun wirklich nicht riesig.«
»Erzähl weiter.«
»Wir wollten zu dir: Wir konnten dich lachen hören. Da mussten noch andere sein, aber wir haben irgendwie nicht begriffen, aus welcher Richtung die Stimmen kamen. Es schien fast so, als seien sie überall. Um uns herum oder so. Und wir waren so müde.« Moritz reibt sich über die Stirn, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu erinnern. »Und dann«, fährt er dennoch fort, »wurde es irgendwann heller. Jemand schrie und Pluvius rannte los, weil er dachte, du wärst es, die geschrien hat. Plötzlich blieb er stehen, starrte zur Terrassentür – und fiel um.«
»Was war da?«, frage ich atemlos, obwohl ich die Antwort kenne.
»Da stand jemand. Ein älterer Mann, glaube ich. Ich konnte ihn nicht so gut erkennen. Auf jeden Fall fiel Pluvius um wie eine Schranke und blieb liegen. Und dann wurde es wieder hell und du lagst auch da, ganz in unserer Nähe, und tja«, er zuckt mit den Schultern, »das war’s dann.«
Bevor ich noch etwas fragen kann, ist der Barkeeper schon wieder an unserer Seite. »Es ist mir unbegreiflich«, stammelt er, »es tut mir so leid. Kann ich … kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Moritz streckt sich. »Haben Sie mal ein Bier?«
Der Barkeeper kneift seine Augen zusammen. »Und Sie? Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«
»Schon gut«, murmelt Moritz und winkt ab. »War nur ein Versuch.«
Der Mann wirft ihm einen weiteren misstrauischen Blick zu und zieht sich hinter seine Bar zurück.
»Und wo ist er jetzt?« Ich blicke mich suchend um. »Pluvius, meine ich. Du hast ihn doch nicht einfach liegen gelassen?«
»Natürlich nicht«, sagt Moritz und schafft es tatsächlich, empört zu klingen. »Dein Vater hat ihn nach oben gebracht, in mein Zimmer. Ich soll so lange bei dir bleiben, bis er zurück ist, um dich zu holen.«
»Welcher Vater?«, frage ich.
Moritz zieht eine Augenbraue hoch. »Welcher?«
»Na, der bärtige Jetztzeitvater, der, den ich geholt habe, oder …« Ich breche ab. Den letzten, alten Vater unterschlage ich doch lieber. Zwei sind schon mehr als genug. »Also welcher?«
»Dein Jetztzeitvater.«
»Dann hilf mir mal.« Ich stütze mich auf dem Stuhl ab und stehe auf.
»Nein, Ariadne, wir sollen hier warten.«
»Wir gehen jetzt«, und ich betone das »Jetzt«, »hoch. Willst du mir nun helfen oder nicht? Gut.« Moritz merkt wohl, dass Diskussionen sinnlos sind. Er legt sich meinen Arm um die Schulter und stützt mich, während ich aus der Bar heraushumpele. Der Barkeeper ruft uns etwas nach, doch das schert mich nicht. Ich will jetzt gehen, ich will sofort zu Pluvius. Das ist alles, was ich will.
Pluvius schläft immer noch. Er liegt leichenblass in Moritz’ Bett und wir haben ihn in sämtliche Decken eingepackt, die im Zimmer waren. Wärme hilft gegen den Schock, hat mein Vater erklärt. Den Schock, sich selbst gesehen zu haben.
»Warum hat er sich überhaupt selbst gesehen?«, habe ich meinen Vater flüsternd gefragt, als ich die Decken um ihn herum festgesteckt habe. »Ist Pluvius, also sein älteres Ich, tatsächlich entkommen?« Ich habe also nicht geträumt, sondern ihn wirklich gesehen: Er hat mir zugewinkt.
»Offensichtlich«, hat mein Vater genauso leise geantwortet. »Zelos konnte den Zeitriss, in den er Pluvius gezogen hat, nicht länger aufrechterhalten. Dein Großonkel ist gerettet.« Und damit hat er auf Pluvius heruntergelächelt, der bleich und mit wirren Haaren direkt vor uns lag.
Das war vor ein paar Minuten. Und jetzt kommen noch mehr Erklärungen.
Moritz hat es sich dafür in einem der Sessel gemütlich gemacht, mein Vater in dem anderen.
Ich sitze auf der Bettkante. »Fangen wir am besten bei dem Zeitpunkt an, als du mich in der Hütte allein gelassen hast«, sage ich müde. Mein Knöchel tut mir weh. Mir ist nach einem heißen Bad. Und ein wenig Schlaf könnte ich jetzt auch vertragen.
»Allein gelassen, ja«, beginnt mein Vater zu erzählen. Er streicht sich über den Bart und versucht, sich zu konzentrieren. »Du erinnerst dich, dass ich zur Burg gehen wollte, um nachzusehen, ob Pandora immer noch dort ist: Ich war nie zuvor dort, das war mir immer zu gefährlich. Womit ich ja recht behalten sollte. Um Pandora zu finden und zu dem Kästchen zu befragen, musste ich also in die Höhle des Löwen. Und lief fast in eine Gruppe Menschen hinein: Vor mir auf dem Weg konnte ich vier Menschen sehen, zwei Frauen und zwei Männer. Sie waren zwar mittelalterlich gekleidet, doch irgendetwas stimmte nicht: Es lag an der Art, wie sie gingen …«
»Gingen?«, frage ich nach.
»Ja. Die beiden Frauen gingen so wie du und deine Schwester: Ihr wackelt ein wenig mit den Hüften.«
»Also, ich glaube nicht …«
»Doch, wirklich. Und diesen leichten Hüftschwung haben alle in unserer Zeit, also alle nach Elvis. Früher hätte das als anrüchig gegolten. Die Menschen bewegten sich viel steifer, ruhiger. Besser kann ich es nicht erklären.«
Na gut. Ich wackele also mit den Hüften beim Gehen.
»Die Gruppe trennte sich. Der große, bärtige Mann und eine junge Frau gingen in Richtung Burg weiter, die anderen nahmen den Weg ins Dorf. Niemand hatte die Hütte bemerkt, zumindest dachte ich das.« Mein Vater sieht schuldbewusst zu mir herüber. »Tut mir ehrlich leid, Ariadne. Die beiden müssen sich getrennt haben, kurz nachdem ich sie aus den Augen verlor. Ihr hattet großes Glück, dass ihr sie rechtzeitig bemerkt habt und euch verstecken konntet.«
Äh, ja. Ich finde es jetzt nicht unbedingt nötig, meinen Vater über unser »Versteck« beim Bruchenball aufzuklären. Moritz in seinem Sessel hustet, sagt aber ebenfalls nichts.
»Ich folgte den beiden zur Burg, ich musste einfach sehen, was sie vorhatten. Sie sind ohne Schwierigkeiten durch das Tor gekommen: Im Mittelalter war es üblich, junge Mädchen und Knaben zur Ausbildung auf die Burg eines befreundeten Adeligen zu schicken, und Sammler wissen so etwas: Sie bereiten sich akribisch auf die Zeit vor, in die sie reisen.«
Ich nicke. Das muss Bia gewesen sein. Doch wer war der Mann? Warum war er nicht mehr bei ihr, als wir sie getroffen haben?
»Ich wollte die Fremden im Auge behalten. Doch noch bevor ich ebenfalls mein Glück am Tor probieren konnte, kam in großer Hast ein Bote angaloppiert. Er berichtete, dass ein benachbarter Burgherr auf dem Weg sei und jede Menge Soldaten und Belagerungsmaschinen dabeihätte. Sofort rüstete sich die Burg für einen Angriff. Die Glocken läuteten und forderten die umliegenden Dörfer dazu auf, in die Burg zu kommen, sich zu verschanzen und zu kämpfen.«
Ja, ich erinnere mich. Pluvius, Moritz und ich hatten die Glocken gehört, sie aber nicht zu deuten gewusst. Und Alex und ich hatten am nächsten Tag gedacht, auf der Burg solle ein Markt abgehalten werden!
»Ich hatte Angst um euch und wollte sofort zur Hütte zurück, doch so einfach war das nicht: In Kriegszeiten wird jeder wehrfähige Mann zu den Waffen gerufen. Ich musste einem Haufen Ritter und anderen Spießgesellen ausweichen, bis ich es endlich geschafft habe. Und stellt euch meinen Schrecken vor, als ich die Hütte verwüstet vorfand und von euch keine Spur.« Mein Vater schüttelt den Kopf. Ihm scheint im Nachhinein ein Schauer über den Rücken zu laufen. »Ich habe gehofft, nein, ich habe regelrecht gebetet, dass euch nichts passiert ist. Dass ihr rechtzeitig zurückgesprungen seid.«
»Sind wir ja auch«, bestätige ich.
»Aber nicht für lange«, übergeht mein Vater meinen Einwand. »Von Penelope und Kassandra habe ich erfahren, dass du sie besucht hast. Dass du dich nach Pandora und dem Kästchen erkundigt hast. Es war nicht leicht, Moritz und Pluvius zu finden, das kann ich dir sagen, aber dank Moritz’ Handy konnte ich sie schließlich aufspüren.«
Ich werfe Moritz einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du versteckst dich mit einem unglaublich wertvollen Zeitkästchen und dann gehst du einfach so an dein Handy und verrätst jedem, wo du steckst?«
Moritz zuckt mit den Schultern. »Ich war verwirrt, schon vergessen? Ein Vergessenszauber oder so hatte mich getroffen.«
Mein Vater schüttelt wieder einmal den Kopf. »Mit Zauber hat das nichts zu tun: Zeitreisen ist, auch wenn es manchmal anders klingt, keine Magie, sondern eine Wissenschaft. Ich denke, dass der Sammler innerhalb einer extrem kurzen Jetztzeit einen temporären, tief reichenden Riss erzeugt hat. Wenn das sehr schnell geschieht wie bei dir, dann kommt es zu Nebenwirkungen wie Gedächtnisverlust oder Schwindel.«
Moritz und ich starren ihn nur verständnislos an.
»Dein Freund hier war für den Bruchteil einer Sekunde in der Antike oder einer ähnlich entfernten Zeit und ist ebenso schnell wieder zurückgesprungen. Das muss das Bewusstsein erst einmal verarbeiten und das dauert eine Weile. Wenn man es geschickt anstellt, dann kann man diese Blitzsprünge sehr wohl als Waffe gebrauchen.«
Wir starren immer noch. Mein Vater seufzt.
»Ich habe dir ja schon einmal erklärt, dass jede Zeitreise eine Art Loch hinterlässt. Und dass Sammler wie mit einem Skalpell diese Löcher erweitern, Abzweigungen errichten, Tunnel bauen.«
Ich nicke.
»So etwas nennt man einen Zeitriss. Es gibt nur ein Instrument, mit dem man so etwas hervorrufen kann.«
»Der Spazierstock«, fällt mir ein.
»Nun, das war wohl kaum ein Spazierstock, sondern vielmehr eine ›Lanzette‹. Wie Pandoras Karte sind sie ursprünglich eine Erfindung der Zeitwächter. Sie sehen aus wie diese hohlen Nadeln, mit denen der Arzt Blut abnimmt, nur um einiges größer. Zelos muss es gelungen sein, eine davon zu stehlen, und das macht mir Sorgen: Wie du gesehen hast, kann man damit großen Schaden anrichten. In unseren Kreisen dürfen sie nur die Zeitwächter einsetzen und selbst die nur in Ausnahmesituationen. Wer sie trotzdem benutzt, muss mit weitreichenden Konsequenzen rechnen.«
Oh. Oh nein! »Aber du … du hast doch so eine … eine Lanzette gebraucht, nicht wahr? Du hast dein älteres Ich damit geholt. Du hast ihn geholt und zu Alex und mir ins Mittelalter geschickt.«
Mein Vater lächelt traurig. »Gut aufgepasst, Ariadne. Ich konnte unmöglich noch einmal zurückspringen, dazu war ich zu schwach.«
»Und dein älteres Ich hat zunächst nicht gewusst, wo er war …«
»Ja, das war nicht gerade nett. Aber ich konnte davon ausgehen, dass es ihm schon wieder einfallen wird, schließlich hat er die Dinge schon erlebt. Er musste sich also nur noch erinnern.«
Das ist zwar kompliziert. »Es erklärt aber«, sage ich langsam und versuche, mich weiter zu konzentrieren, »dass dein älteres Ich wusste, wer Bia ist. Und dass er mich geschickt hat, um auch noch dein jüngeres Ich zu holen.«
Moritz hat Mund und Augen aufgesperrt, sieht aber nicht so aus, als würde er unserer Diskussion noch folgen. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen: Selbst mir wird schwindelig bei den vielen Vätern und Zeiten und in Zeiten verschwundenen Vätern.
»Das mit meinem jüngeren Ich, das hat selbst mich überrascht«, erwidert mein Vater. »Jetzt im Nachhinein glaube ich, mich zu erinnern, dass ich das vor vier Jahren tatsächlich erlebt habe, aber das ist wahrscheinlich nur …«
»Die Zeit, die gerade heilt.«
Mein Vater lächelt. »Genau. In ein paar Stunden werde ich davon überzeugt sein, dass es schon immer so gewesen ist. Aber noch kann ich dir sagen, dass das eine ganz hübsche Überraschung war. Und ich keine Ahnung habe, warum ich, also mein älteres Ich, gedacht habe, wir müssten zu dritt sein. Vielleicht hat er sich erinnert. Vielleicht haben wir es schon einmal zu zweit versucht, Zelos zu stoppen, und es hat nicht funktioniert.«
Also, das führt jetzt zu weit, finde ich. Da halte ich mich doch lieber an die Fakten: »Und wie habt ihr drei es nun geschafft?«
»Ich habe ein Paradox erzeugt, eine nicht aufzulösende Widersprüchlichkeit. Denn es widerspricht der menschlichen Natur ganz gewaltig, gleich mehrmals aufzutauchen«, erklärt mein Vater.
»Dann fällt man in Ohnmacht«, nicke ich. So habe ich es gelernt und so ist es ja wohl zweifellos auch Pluvius ergangen.
»An und für sich schon …« Mein Vater kratzt sich den Bart. Dann seufzt er. »Man begeht damit einen Verstoß gegen das Raum-Zeit-Kontinuum. Einen schweren Verstoß, den die Wächter sehr wohl ahnden. Du wirst zweifellos noch ihre Bekanntschaft machen und Pluvius auch.« Er blickt kurz zum Bett herüber. »Ich habe mithilfe meines vergangenen und zukünftigen Ichs ein sehr starkes Paradoxon erzeugt. Du kannst dir das vorstellen wie eine Art schwarzes Loch. Es ist natürlich kein wirkliches Loch, sondern eine Zeitverwirrung mit drei verschiedenen Ebenen.«
»Und da sitzt der Sammler jetzt drin?«
»Im Moment steckt er da fest, das stimmt. Jahre, Jahrhunderte: Das kann ich nicht sagen. Er kann befreit werden: Das haben wir ja gerade bei Pluvius erlebt.«
Noch bevor ich weiterfragen kann, schaltet Moritz sich ein. Den hatte ich fast vergessen. »Warum sind Sie nicht in Ohnmacht gefallen, als Sie Ihr eigenes Ich gesehen haben?«, will er wissen.
Mein Vater schiebt sich ein Stückchen zurück auf seinem Sessel. »Ich habe das bewusst herbeigeführt. Ich musste mein Bewusstsein nicht vor dem Paradox schützen, indem ich in Ohnmacht falle, denn das war es ja, was ich wollte.«
»Und nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Ichs«, ergänze ich fasziniert. Dann begreife ich. Mein Lächeln gefriert und mir läuft ein Schauer über den Rücken. »Und das gibt Ärger, oder?« Ich sehe meinem Vater ins Gesicht.
Der nickt.
»Großen?« Ich flüstere fast.
»Nun ja, seitdem war, bin und werde ich auf der Flucht sein«, lächelt er schief.
Tränen schießen mir in die Augen. »Dann war ich es, oder? Ich bin an allem schuld. Mit mir hat alles begonnen.« Ich kann sie nicht mehr aufhalten, sie laufen über meine Wangen. »Deswegen bist du gegangen. Deswegen habe ich dich vier Jahre nicht gesehen. Du hast uns geholfen gegen den Sammler. Und konntest deshalb nicht mehr zurück zu uns.«
Mein Vater ist mit wenigen Schritten bei mir. Er setzt sich vor mich auf die Bettkante und zieht mich zu sich heran. »Es ist nicht deine Schuld«, flüstert er in mein Haar, während mich Schluchzer schütteln, »nicht weinen. Ich wusste doch, was passiert, aber es war die einzige Möglichkeit. Wir hätten Zelos das Kästchen auf keinen Fall überlassen dürfen.«
Ich weiß nicht, wie lange ich weine. Irgendwann kann man wohl nicht mehr. Spätestens dann, wenn die Nase so zu ist, dass man keine Luft mehr bekommt und gleichzeitig so sehr läuft, dass man ein Taschentuch braucht.
»Taschentuch«, quäke ich, als ich mich losmache, und Moritz springt ins Badezimmer und holt eine Rolle Klopapier, von der er mir mehrere Blätter abreißt.
Neben uns schnarcht Pluvius leise.
Ich schnaube meine Nase, während mein Vater mein Haar streichelt.
»Wie hübsch du geworden bist, Ariadne, mein großes Mädchen«, sagt er zärtlich und gleich steigen mir wieder Tränen in die Augen.
»Und jetzt?«, frage ich mit meiner schönsten Donald-Duck-Stimme. » Wie geht es jetzt weiter?«
Mein Vater lächelt und seine Augen bekommen wieder die vielen strahlenförmigen Fältchen, die ich so sehr mag. »Ihr wartet, bis Pluvius aufwacht: Das dürfte nicht mehr allzu lange dauern. Dann nehmt ihr ein Taxi, hier ist das Geld.« Er legt einen Schein auf den Nachttisch, dann sieht er mir wieder in die Augen. »Und anschließend fahrt ihr zu deiner Mutter und erzählt ihr alles.«
»Alles?« Ich schnäuze mich noch mal.
»Alles.« Mein Vater steht auf.
»Ich habe sowieso schon Stubenarrest«, schniefe ich.
Mein Vater lacht und küsst mich auf den Kopf. »Ich muss jetzt wirklich los, Ariadne. Ich bin schließlich auf der Flucht.« Er lächelt schief.
Ich starre ihm mit offenem Mund nach. Nach all dem, nachdem ich ihn endlich wiedergefunden habe! »Aber das geht nicht! Ich meine: Wann sehen wir uns denn wieder?«
Er hält kurz inne. »Jetzt, wo du alles weißt und viel verstehst, werden wir uns öfter sehen, versprochen.« Mein Vater nickt uns noch einmal zu und ist dann verschwunden. Die Tür fällt leise ins Schloss. Es wird ruhig, für einen Moment.
»Und jetzt?«, fragt Moritz schließlich, der immer noch mit der Klopapierrolle neben mir steht.
»Jetzt heule ich noch eine Runde und dann wecken wir Pluvius«, sage ich und strecke die Hand nach dem Klopapier aus.
Im Taxi sind wir ruhig. Pluvius ist immer noch benommen, denke ich, und ich habe noch mit dem Abschied von meinem Vater zu kämpfen. Und dem von Moritz, obwohl der mir seine Lederjacke aufgedrängt hat (»Es ist saukalt draußen, du wirst erfrieren.«) und sie abholen kommt, sobald sein Hausarrest aufgehoben wurde. Aber merkwürdig war es schon, ihn zurückzulassen, nachdem wir so viel miteinander durchgestanden haben.
Heimlich vergrabe ich meine Nase in dem Leder und sehe aus dem Fenster.
»Was meinst du«, fragt Pluvius, »was ist mit den Helfern passiert von diesem … diesem …«
»Zelos«, ergänze ich. »Keine Ahnung. Sind wohl abgehauen, nachdem ihr Meister verloren hat. Vielleicht hat es sie auch gar nicht gegeben.« Obwohl sich mir ein Gedanke aufdrängt, den ich nicht recht packen kann. Es hat irgendwas mit einem Bart zu tun …
Pluvius schweigt wieder und ich bin dankbar dafür, dass er keine Fragen mehr stellt. Mein Kopf tut weh und meine Arme und Beine fühlen sich an, als wären sie aus Blei.
Unser Haus ist dunkel, bis auf das Licht in Küche und Flur, und ich kann mir schon lebhaft vorstellen, wie meine Mutter hinter der Haustür sitzt, eine Kanne Kaffee neben sich.
»Stimmt so«, sage ich dem Taxifahrer beim Aussteigen und überlasse ihm einfach das Geld, das mein Vater mir gegeben hat. Und atme einmal tief durch.
Im Flur ist niemand, aber sobald sie unsere Schritte hören, kommen sowohl meine Mutter als auch Alex in Begleitung zweier riesiger Schatten aus der Küche: Rufus begrüßt mich so stürmisch, dass ich mich an der Wand abstützen muss, während der neue Riesenhund nur erstaunt zusieht und leicht mit dem Schwanz wedelt. Wie hatte Alex ihn doch gleich getauft? Ach, ja, Kaspar. Die Reise aus dem Mittelalter hat ihm anscheinend nicht geschadet.
Alex trägt zwar ihr Nacht-T-Shirt, sieht aber hellwach aus.
Mama ist noch angezogen. »Gott sei Dank«, sagt sie und nimmt mich in ihre Arme. »Gott sei Dank«, wiederholt sie und zieht auch Pluvius zu sich heran.
»Schon gut. Du erstickst uns«, murmele ich nach einiger Zeit, weil es mir peinlich ist und weil Rufus sich zwischen uns drängelt.
Meine Mutter lässt uns los. »Aus, Rufus. Weg mit dir. Und du auch, Riesenvieh.«
»Kaspar«, wirft Alex in ihrem Rücken ein.
Unsere Mutter achtet nicht auf sie. »Ist alles in Ordnung mit euch? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Vor allem nach dem, was Alex mir erzählt hat …«
Über ihre Schulter werfe ich meiner großen Schwester einen Blick zu. Sie zuckt mit den Achseln und ich kann ihr nicht böse sein. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
Mit einem Mal werde ich müde, und wie. Als hätte mir jemand mit dem Hammer eins übergezogen. Ein Blick zu Pluvius sagt mir, dass es ihm nicht anders geht: Er lehnt an der Wand und ist bleich wie ein Gespenst.
»Mama«, bitte ich, »es ist alles in Ordnung. Wir erzählen dir alles, versprochen, aber nicht jetzt. Wir sind todmüde. Wärst du sehr sauer, wenn wir erst mal ins Bett gehen?«
Meine Mutter runzelt die Stirn.
»Morgen kannst du mir allen Hausarrest der Welt aufbrummen, versprochen. Ich putze das Badezimmer, passe auf Aella auf: Alles, was du willst. Aber jetzt will ich nur noch schlafen.«
Mama hält mir die Hand an die Stirn. »Na gut«, sagt sie zögernd. »Und essen wollt ihr nichts?«
Ich bin viel zu müde für Hunger und schüttele den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagt Pluvius.
»Dann schlaft euch mal richtig aus. Wir reden morgen«, beschließt meine Mutter.
Ich gebe ihr dankbar einen Kuss und steige hinter Pluvius die Treppe hoch. Ich bin so erledigt, dass ich mich kaum ausziehen kann, also schlüpfe ich in Unterwäsche unter die Decke. Kein Zweifel, dass ich einschlafen kann, aber bestimmt werde ich träumen.
Nichts, aber auch gar nichts habe ich geträumt. Zumindest kann ich mich an keinen Traum erinnern, als ich am nächsten Morgen geweckt werde. »Morgen?«, spottet Alex, die gnadenlos die Vorhänge beiseitezieht. »Es ist Nachmittag, du Schlafmütze. Du hast locker vierzehn Stunden geschlafen.«
»Was?« Ich sitze kerzengerade im Bett und werfe einen Blick auf den Wecker. Tatsächlich. Das darf ja wohl nicht wahr sein!
»Dein Freund hat schon zweimal angerufen, um sich nach dir zu erkundigen«, sagt Alex und hebt mit bedeutungsvollem Blick die Lederjacke auf, um sie über die Stuhllehne zu hängen.
»Moritz?«
»Wer denn sonst? Wie viele Freunde hast du denn?«
»Keinen. Ich habe gar keinen Freund«, erwidere ich, während ich mich strecke, und betone »Freund« dabei genauso übertrieben wie sie.
Alex lässt sich auf den Stuhl fallen. »Ich will alles, alles hören. Alles, was passiert ist, seit Papa, Pandora, Kaspar und ich weggesprungen sind.«
»Ich auch«, sage ich und bin mit einem Mal hellwach.
»Du zuerst«, verlangt meine Schwester.
»Nein, du. Ich ziehe mich derweil an.«
Meine Schwester lässt sich breitschlagen und folgt mir ins Badezimmer. Während ich die schnellste Katzenwäsche in der Geschichte der Menschheit mache und gerade mal so meine Zähne putze, erzählt sie mir, dass sie zunächst Großtante Pandora bei Oma Penelope und Uroma Kassandra abgeliefert haben.
»Und Oma Penelope war gar nicht erstaunt«, sagt Alex, die auf dem Klodeckel sitzt.
Ich nehme die Zahnbürste aus dem Mund und nuschele »Hekschendinge«, bevor ich weiterputze.
Oma Penelope will sich um Pandora kümmern, auch wenn Oma Kassandra nicht begeistert ist. Und Pandora immer noch keinen Schimmer hat, wer sie eigentlich ist, und sich fast zu Tode erschreckt hat, als ein Auto vorbeigefahren ist. Danach hat unser Vater Alex und Kaspar nach Hause gebracht und sich hastig verabschiedet. Und das war’s.
»Und bei dir?«, will Alex jetzt wissen.
Ich spucke aus, spüle meinen Mund aus und fange an zu erzählen. Wie ich unseren Vor-vier-Jahren-Vater geholt habe. Wie wir in der Bar festsaßen. Wie uns der Monokelmann bedroht hat und schließlich von allen drei Vätern gemeinsam besiegt wurde.
Alex unterbricht mich zwar nicht, sieht aber reichlich verwirrt aus. »Dann ist Papa, also unser älterer Vater, nicht zurückgesprungen, sondern ins Hotel gefahren?«
Ich nicke.
»Und da war schon …«
»… unser Jetztvater. Der mit dem Bart.«
»Und du hast noch …«
»… den Vor-vier-Jahren-Vater mitgebracht. Ohne Bart.« Und apropos Bart: Irgendwas war noch. Irgendetwas, das ich nicht recht zu packen kriege und das ich meine Schwester noch fragen wollte … Ich lasse das Handtuch, mit dem ich mir den Mund abgeputzt habe, sinken. »Sag mal, erinnerst du dich an den Ritter? Den mit den vielen Haaren?«
Alex kichert. »Na klar. Dem ist ziemlich heiß geworden in seiner Rüstung.«
»Ich überlege die ganze Zeit, ob er der mysteriöse Begleiter von Bia war.«
»Was? Welcher Begleiter?«
Achja. Ich vergesse immer, was welcher Vater wem von uns erzählt hat. »Papa, unser echter Jetztzeitvater, hat mir und Moritz erzählt, dass er vier Leute gesehen hat, die im Mittelalter unterwegs waren und nicht dorthin gehörten. Zwei sind zur Burg gegangen und eine davon war Bia. Der andere war ein großer, bärtiger Mann: Das könnte gut und gerne dieser Ritter gewesen sein, oder? Vor allem, weil doch auf der Burg die wenigsten einen Bart trugen. Und so groß waren sie auch nicht.«
Alex runzelt die Stirn. »Ist das wichtig?«
Tja, ist es das? Ich bin irgendetwas auf der Spur, das spüre ich deutlich. »Und beim Bruchenball, da habe ich auch jemanden gesehen. Eine alte Frau, ›Vogelscheuche‹ trifft es eigentlich ganz gut.« Und sie kam mir merkwürdig modern vor, allerdings kann ich nicht sagen, woran das lag. Vielleicht war es tatsächlich die Art, wie sie ging. Ja, je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich: »Die Vogelscheuche war Nummer drei. Und die war auch im Hotel.« Das wiederum hatte Pluvius beobachtet. »Bleibt noch der Monokelmann. Vier Sammler.«
Alex streicht sich durch die stoppelkurzen Haare. »Ich weiß noch immer nicht, worauf du hinauswillst.«
Ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Noch nicht. Zumindest nicht so genau. Mein Magen protestiert knurrend dagegen, dass er so ignoriert wird. Und ich kann mich zugegebenermaßen auch nicht richtig konzentrieren, wenn ich nicht wenigstens fünfhundert Kalorien intus habe.
Nicht einmal zehn Minuten später habe ich frische Klamotten an und stürze in die Küche. Jetzt habe ich Hunger, und wie!
Pluvius hat anscheinend schon gegessen. Er und Alex sehen mir dabei zu, wie ich einen Berg Cornflakes esse, danach noch Brokkoli und ein halbes Schnitzel vom Mittagessen und gierig nach den selbst gebackenen Keksen meiner Mutter schiele.
»Ein Wunder, dass du so schlank bist«, grinst er.
»Guter Stoffwechsel«, erwidere ich mit vollem Mund. »Und jede Menge Zeitgereise.«
Meine Mutter hält sich diskret im Hintergrund. »Ich setze schon mal Kaffee auf. Für dich auch, Pluvius? Und dann möchte ich als Erstes mit Ariadne reden. Und zwar allein«, stellt sie unmissverständlich klar, auch wenn Alex wild protestiert und sich weigert, die Küche zu verlassen. »Das musst du auch nicht. Du leistest Pluvius Gesellschaft und passt auf Aella auf. Ariadne? Kommst du?«
Jetzt wird mir doch ein wenig flau im Magen und ich weiß nicht, ob das an dem vielen Essen oder der drohenden Aussprache liegt. Pluvius lächelt mir aufmunternd zu, als ich ihm einen Hilfeblick zuwerfe, macht aber keine Anstalten mitzukommen. Meine Mutter kann sehr bestimmend sein, wenn sie will.
Im Wohnzimmer schließt sie sorgfältig die Tür und deutet aufs Sofa. Dann setzt sie sich mir gegenüber. »Also los«, sagt sie.
Und ich erzähle. Wieder einmal. Und zwar stundenlang, so scheint es mir. Mama unterbricht mich nicht, stellt mir keine Fragen. Als ich auf meinen Vater zu sprechen komme, verzieht sie schmerzvoll das Gesicht, sagt aber nichts. Erst als ich den Sammler erwähne, wird sie hellhörig.
»Zelos, sagst du?« Sie steht auf, geht zum Bücherregal und zieht den letzten Band des Lexikons heraus. »Zelos, ja, da ist er.« Mit dem Finger im Buch liest sie vor: »Zelos ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Titanen Pallay und der Styx. Er ist die Personifikation des eifrigen Strebens. Oh«, sagt sie dann.
»Was ›oh‹?«, frage ich alarmiert. »Gutes ›Oh‹ oder schlechtes ›Oh‹?«
Mama lächelt schwach und fährt fort: »Seine Geschwister sind Kratos, die Macht, Bia, die Gewalt, und Nike, der Sieg.« Sie lässt das Buch so laut zuschlagen, dass ich zusammenzucke. Dann stellt sie es zurück. »Es mag Zufall sein, aber Namen haben bei uns oft eine Bedeutung.« Rasch dreht sie sich zu mir um. »Hast du jemals irgendjemanden bei Zelos gesehen? Einen, der ihm hilft?«
Kratos, der Ritter. Bia, das Burgfräulein. Und die Vogelscheuche muss Nike sein.
»Nein«, schüttele ich den Kopf und konzentriere mich auf meinen nächsten Satz, der auf keinen Fall eine Lüge sein darf. »Ich habe Zelos immer nur allein gesehen.« Und das ist es auch, das ist die Wahrheit. Ich will ihr auf keinen Fall noch größere Angst machen. Sie hat genug zu tun mit Aella, ihrem verschwundenen Mann und jetzt auch noch mit einer Tochter, die in der Zeit springen kann und an der gleich ein ganzer Schwarm Sammler hängt. Zelos ist weg. Bleiben noch drei.
Meine Mutter seufzt erleichtert auf. »Du weißt jetzt einiges über diese Hexendinge. Viel mehr, als ich dir je verraten hätte, Ariadne, viel mehr, als ich dir sagen werde. Ich tue das, um dich zu schützen, dich und deine Schwestern. Das musst du mir glauben.«
»Du wirst mir meine Fragen also nicht beantworten.« Warum sollte ich mit ihr reden, wenn sie mir doch auch nichts erzählt? Ich schütze sie, wie auch sie mich beschützt. Das ist anscheinend so Politik bei uns in der Familie.
»Du hast Fragen?« Meine Mutter setzt sich wieder mir gegenüber.
»Natürlich habe ich Fragen.« Jetzt werde ich wirklich sauer. »Ganz allgemeine, wo diese Hexendinge herkommen und warum wir sie haben, zum Beispiel. Und ganz spezielle: Hast du auch ein Hexending? Sicher hast du eins und was ist damit passiert? Und … und …«, mir fällt so schnell nichts Weiteres mehr ein, denn ich will auf keinen Fall wieder auf die Sammler kommen. Also frage ich in meiner Verzweiflung: »Und was ist eigentlich mit Andromeda passiert, deiner Urur-irgendwas-Verwandten, nachdem sich ihr Onkel erhängt hat?«
Meine Mutter lächelt. Ich bin wütend und sie lächelt!
»Die kennst du also auch, die Geschichte von Andromeda und Phineus?«
Ich muss wider Willen ebenfalls ein bisschen grinsen. »Ja. Pluvius hat sie mir erzählt.«
»Andromeda hat sich wieder erholt. Ihre linke Hand blieb gelähmt, ansonsten wurde sie wieder gesund. Sie hat ihren Verlobten geheiratet und die beiden waren glücklich bis an ihr Lebensende.«
Ich starre sie an. »Das hast du dir ausgedacht.«
»Habe ich nicht.« Meine Mutter schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre Locken fliegen. Zum ersten Mal seit langer Zeit, vielleicht überhaupt das erste Mal kann ich in ihr das junge Mädchen sehen, das sie einmal war. Das Mädchen mit den Hexendingen und den Locken ihrer Großmutter.
»Dann war es also gut, dass Phineus ihr ihre Zukunft vorhergesagt hat? Nicht für ihn, natürlich, aber sie und ihr Verlobter konnten sich so ihrem Schicksal stellen und es überlisten«, überlege ich laut.
Meine Mutter seufzt und steht auf. »Das Interpretieren überlasse ich ganz dir«, sagt sie. »Und jetzt komm.« Sie deutet auf die Tür. »Lust auf einen Kakao und ein paar selbst gebackene Kekse?«
Ich erhebe mich ebenfalls. »Und wie«, sage ich. Ich kann das, bei dem Stoffwechsel!
Die Stimmung in der Küche ist gelöst und heiter. Aella ist sichtbar, matscht an einem Keks herum und kichert über irgendwas, das Pluvius gerade gesagt hat, und Alex stellt Teller und Tassen auf den Tisch. Die beiden Hunde liegen rechts und links neben Aella und warten darauf, dass ihr etwas runterfällt.
»Ihr kommt genau richtig«, sagt Alex, als sie uns entdeckt hat. »Kaffee ist fertig. Und Kakao auch.«
»Wunderbar«, sagt Mama und setzt sich an den Tisch.
»Ja, lecker«, sage ich und greife zur Kanne.
»Wartet mal«, sagt Alex. »Was ist denn nun mit diesem geheimnisvollen Kästchen? Kann ich das mal sehen?«
Pluvius und ich sehen uns an. »Das Kästchen«, sage ich. »Das habe ich völlig vergessen.«
Sein Blick sagt mir, dass er ebenfalls nicht mehr daran gedacht hat. »Das muss euer Vater mitgenommen haben.«
»Stimmt«, stelle ich erleichtert fest und schenke mir Kakao ein. »Man gut. Hätte keine Lust, das Ding hier im Haus …« Ich halte inne. »Oh nein.« Alle sehen zu mir. »Ich habe, glaube ich, noch den Schlüssel. Bin gleich wieder da.« Ich stelle die Kanne hin und stürme aus der Küche und die Treppe hoch.
Die Jeans, die ich gestern anhatte, habe ich achtlos in den Wäschekorb geschmissen. Ich fische sie heraus und suche in der Hosentasche, und tatsächlich: Da ist er.
Ich nehme das kleine Samtsäckchen heraus, doch es fühlt sich merkwürdig an. Irgendwie … härter. Eckiger. Neugierig öffne ich es, schüttele den Schlüssel in meine Hand und hole dann noch etwas heraus, was ich vorher nie bemerkt habe: einen Brief. Die letzte Zeit hatte ich wahrlich viel um die Ohren, daher hätte ich auch nicht sagen können, ob der Brief von Anfang an dort drin war oder nicht.
Neugierig falte ich ihn auseinander.
»Liebe Ariadne«, steht da. »Wenn du diesen Brief liest, bin ich nicht mehr da. Genauer gesagt: ich, dein alter Großonkel. Mein jüngeres Ich bleibt dir noch ein bisschen erhalten. Zu dieser Zeit haben wir uns kennengelernt. Und wie es halt so ist bei Zeitreisenden, muss eines der Ichs verschwinden, bevor es zu Ohnmachtsanfällen kommt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir uns das erste Mal getroffen haben. Meine Erinnerungen sind deine Zukunft und glaube mir: Unsere Zukunft hat gerade erst begonnen. Mehr darf ich nicht verraten: Du weißt ja, Raum-Zeit-Kontinuum. Ich werde verreisen, wollte immer schon einmal nach Italien und dann weiter, vielleicht nach Südamerika. Wir werden uns also nicht mehr wiedersehen (dabei sehen wir uns jetzt täglich), aber glaub mir: Es war wunderbar, dich als Kind gekannt zu haben. In ewiger Liebe, dein Großonkel Pluvius.«
Das ist mit Abstand das Merkwürdigste, was ich jemals gelesen habe. Und das Traurigste. Denn so viel verstehe ich: Onkel Pluvius kommt nicht mehr zurück. Auch jetzt nicht, nachdem er dem Sammler und dem Zeitriss entkommen ist. Er darf es nicht, weil Pluvius jetzt hier ist, sein junges Ich, und das hat er gewusst an dem Tag, nachdem er ins Essen mit den Perrevoorts geplatzt ist. Er hat es gewusst, weil es schließlich seine Erinnerung ist. Deshalb hat er mich so angesehen, so traurig, als wolle er sich mich für immer einprägen.
Tränen schießen mir in die Augen, während ich mir das alles durch den Kopf gehen lasse und es auch nach angestrengtem Nachdenken reichlich verwirrend finde.
Tatsache ist und bleibt, dass Pluvius hierbleiben wird, wenigstens, bis er wieder stark genug ist, um zu springen. Und ich werde meinen Großonkel wohl nicht mehr wiedersehen. Das ist schön und traurig zugleich. Ich werde Großonkel Pluvius vermissen, seine Scherze, seine Kochkünste, seine Art, Geschichten zu erzählen … obwohl, warum eigentlich? Ich bringe es Pluvius einfach bei. Ich wische die Tränen weg und starre auf das Blatt Papier. Halt, da steht noch was, es gibt ein PS:
»PS: Gib mir keinen von Theresas Keksen: In der Füllung ist Erdbeermarmelade.«
In diesem Augenblick höre ich einen Schrei, dann einen Knall. So schnell ich kann, laufe ich nach unten, um nachzusehen, was geschehen ist, und treffe meine Mutter im Flur.
»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist«, sagt sie und drückt einen Armvoll Luft an sich, die meine unsichtbare Schwester Aella sein muss. »Eben stand er noch da, hat Kaffee getrunken und einen Keks gegessen und puff, mit einem Mal war er verschwunden und die Tasse lag auf dem Boden.«
»Einen Keks? Oh nein, Mist«, rufe ich, drücke ihr Zettel, Schlüssel und Säckchen in die Hand und laufe nach draußen.
Pluvius liegt unter dem Baum und hält sich den Knöchel. Er hat Blätter im Haar und um ihn herum liegen Zweige. »Gebrochen, glaube ich«, stöhnt er, als ich mich neben ihn knie.
»Beweg mal die Zehen«, sage ich und finde, dass er das für einen Bruch noch ziemlich gut kann. »Nur verstaucht, würde ich sagen.«
»Ach so. Nur«, sagt er und seine Augen blitzen.
Ich sehe ihn an, werde rot und muss lächeln.
Pluvius lächelt auch, obwohl es ein wenig schmerzverzerrt aussieht. Er beugt sich vor, kommt näher, noch näher …
»Eins ist ja wohl klar«, sage ich, als unsere Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt sind.
»Was denn?«, will Pluvius wissen.
»Wenn du noch einige Zeit hierbleibst, und danach sieht es ja aus, dann brauchen wir unbedingt …«
»Ja?«
»… ein Baumhaus.«
Pluvius kommt noch näher. »Unbedingt«, sagt er.
Na also. Alles andere wird sich finden.