Lilie  37   Lilie

Die Katakomben sind nicht leicht zu finden. Man könnte meinen, es handelte sich um einen geheimen Ort.

Ich bin aus der Métro-Station Denfort-Rocherau heraufgekommen und zehn Minuten herumgewandert, bis ich ein kleines Schild entdeckte, das mir den Weg wies. Dann musste ich einen Kreisverkehr überqueren und einen Park umrunden, bis ich den Eingang fand. Die Warteschlange davor ist ziemlich lang. Warum, weiß ich nicht. Schließlich liegt Jim Morrison nicht hier begraben. Sondern drüben auf dem Père Lachaise.

Ich reihe mich hinter einer redseligen amerikanischen Familie ein. Sie sind zu fünft: Mom und Dad, zwei Mädchen im Teenageralter und ein Junge von elf oder zwölf. Sie wirken wie frisch geschrubbt. Auf ihren Turnschuhen ist nicht der kleinste Fleck. Sie haben Gürteltaschen, Wasserflaschen, Karten und Energieriegel bei sich. Sie sehen aus, als wären sie für alles gerüstet in ihren reißfesten, wasserabweisenden und winddichten Jacken – Mr. und Mrs. Allzeitbereit und ihre Kinder.

Der Sohn liest aus einem Reiseführer vor. Er erklärt dem Rest der Familie, dass gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Stadtfriedhöfe hoffnungslos überfüllt gewesen seien und die verwesenden Leichen ein ernsthaftes Gesundheitsproblem dargestellt hätten. Krankheiten hätten sich auf den Friedhöfen ausgebreitet und ebenso Ratten. Der Gestank sei fürchterlich gewesen. Gelegentlich hätten die Friedhofsmauern nachgegeben und Leichen seien auf die Straßen gequollen. Nach zunehmenden Beschwerden der Bürger hätten die Behörden beschlossen, alle Gräber zu öffnen und die Toten in die aufgegebenen Kalksteinbrüche unterhalb von Paris zu verlegen. Die Toten seien auf Karren verladen und im Schutz der Nacht durch die Stadt transportiert worden. Die Karren seien mit schwarzen Tüchern verhängt gewesen und von Priestern begleitet worden, die auf dem Weg Totenmessen sangen.

Der Junge redet immer weiter. Die Schlange bewegt sich nur langsam voran. Ich nehme Alex’ Tagebuch heraus.

7. Mai 1795

Ich spürte Blicke auf mir.

Aber von wem? Wenn ich mich umdrehte, konnte ich niemanden entdecken.

Es war fast Mitternacht. Nebelschwaden zogen durch die leeren Höfe des Palais Royal. Ich hatte einem schwankenden Betrunkenen Voltaire vorgespielt, aber der hatte es vorgezogen, sich statt meinen Dramen einer anderen Vorstellung hinzugeben, die ihm von einer dürren Hure unter den Kolonnaden geboten wurde.

Die Uhr schlug Mitternacht. Ich beugte mich hinab, um meine Mütze mit den Münzen aufzuheben, und da sah ich es – ein glänzendes Goldstück unter all den matten und schmutzigen Sous. Ich blickte mich um. Der Mann, der es hineingeworfen hatte, war sicher noch in der Nähe und winkte mir lüstern grinsend zu. Das geschah bisweilen. Schauspielerinnen und Huren werden oft miteinander verwechselt. Aber niemand war zu sehen.

Ich dachte an all die Dinge, die ich mit der Münze kaufen könnte – einen Teller gebratene Ente, Kaffee, Wollstrümpfe, eine Unze Nelken zum Kauen. Bei diesen Gedanken hätte es mir warm werden sollen. Stattdessen fröstelte ich. Ich steckte meinen Verdienst ein und eilte aus dem Palais auf die Straßen hinaus.

Ich ging ein Stück die Saint-Honoré hinunter und bog dann in die Sainte-Anne ein. Der Nebel kräuselte sich in bleichen Schwaden um die Straßenlaternen und dämpfte ihr Licht. Ich ging am Club der Jakobiner vorbei, der nachts geschlossen war, und bog dann in eine schmale Gasse ein, nicht breiter als ein Ochsenkarren.

In dem Moment hörte ich Schritte. Im Dunkeln hinter mir.

Er war es. Der Mann, der mir den Louis d’or zugeworfen hatte. Er will etwas für sein Geld. Dessen war ich mir sicher. Ich fuhr herum, bereit, ihn in die Flucht zu schlagen.

Wer ist da? Wer sind Sie?, rief ich.

Keine Antwort.

Es muss dieser Trunkenbold Benoît sein, der Küchenjunge aus dem Foy, der mir einen Streich spielen will, sagte ich mir.

Benoît?

Erneut keine Antwort. Nur Schritte. Langsam. Ohne Eile. In der Gewissheit, das Opfer bald zu stellen.

Wenn nicht heute Nacht, dann morgen, sagten sie. Wenn nicht morgen, dann bald.

Trotz allem behielt er mich im Auge.

Beobachtete mich.

Wartete.

Trotz allem.

Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. »Verdammte Scheiße!«, schreie ich und hätte fast das Tagebuch fallen lassen.

Es ist der Junge. Mister Allzeitbereit junior. Er sieht aus, als hätte er einen solchen Ausdruck noch nie gehört.

»Tut mir leid«, sage ich. »Was ist?«

»Der will was von Ihnen«, antwortet er und deutet auf die Straße. »Er winkt und hupt schon die ganze Zeit wie wild.«

Ich blicke in die Richtung, in die er deutet, und sehe einen verbeulten blauen Renault an der Ampel. Der Fahrer hängt zum Fenster heraus und winkt mir zu. Es ist Virgil. Virgil mit seinen kaffeebraunen Augen, seinem schönen Gesicht und der samtigen Stimme. Jules ist bei ihm. Ich ermahne mich, cool zu bleiben, was aber schwer ist, wenn das Herz im Sechs-Achtel-Takt schlägt.

»Ich halte Ihnen den Platz frei«, sagt der Junge. Wahrscheinlich ist er Pfadfinder oder so was.

Ich laufe zur Straße, bin aber immer noch ein paar Meter von dem Renault entfernt, als Virgil »Fang!« ruft und eine durchsichtige Plastikhülle durch die Luft geschossen kommt. Ich hechte danach.

»Was ist das?«, frage ich.

»Der beste Rap, den du je gehört hast.«

»Von dir?«, will ich idiotischerweise wissen. Virgil verdreht die Augen. Jules prustet los.

»Was ist mit meinem iPod?«, frage ich.

»Den hab ich zu Hause vergessen. Ich bring ihn dir vorbei. Versprochen. Machst du eine Tour durch die Katakomben?«

»Ja.«

»Cool«, sagt Virgil.

Jules tut so, als würde er sich gruseln und gibt die entsprechenden Laute von sich. Die Ampel schaltet auf Grün. Alle Autos fahren an. Außer Virgils. Ein Hupkonzert bricht los.

»Kommst du zu Rémy?«, schreit Jules gegen den Lärm an.

Ich schüttle den Kopf. »Mein Flug geht am Sonntag«, rufe ich zurück.

»Dann cancel ihn«, brüllt er.

»Das … das kann ich nicht.« Es soll sich eigentlich bedauernd anhören, aber ich klinge total verzweifelt und sehe Virgil dabei an, nicht Jules.

Das Hupen wird noch heftiger. Der Typ hinter Virgil beugt sich aus dem Fenster und sagt, er solle sich zum Teufel scheren. Virgil zeigt ihm den Mittelfinger. Also fängt der Typ an zu fluchen. In meine Richtung. Ich würde es vorziehen, nicht mitten in Paris an der Straße zu stehen, über ein Hupkonzert hinwegzuschreien und verflucht zu werden. Ich möchte anderswo sein. Wo es still und sicher ist. Mit Virgil. Ich möchte die Augen schließen und seine sanfte, leise Stimme hören.

Auch er sieht mich an. Und seine Augen scheinen zu sagen, dass er dasselbe will. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass ich mir das so sehr wünsche.

»Ruf mich an«, sagt er. »Heute Abend, okay?« Ich nicke. Er macht eine Faust und streckt sie heraus. Ich schlage dagegen. Jules winkt. Und sie sind fort.

»Danke«, sage ich zu dem Jungen, als ich mich wieder in die Schlange einreihe. Sie hat sich nicht wirklich bewegt. Ich stecke die CD in meine Tasche, versuche meinen Herzschlag zu beruhigen und lese weiter.

Lilie  38   Lilie

8. Mai 1795

Ich begann zu stehlen. Hauptsächlich Essen. Oder Dinge, die ich gegen Essen eintauschen konnte. Ich stahl wie eine Elster. Es war der Herbst des Jahres 1790. Meine Mutter war wieder krank. Wir hatten kein Geld.

Ich stahl Kartoffeln von einem Händlerkarren. Würste von einem Marktstand. Ich klaute Fächer und Schnupftabaksdosen von Laden- und Kaffeehaustischen, die unachtsame Kunden liegengelassen hatten. Ich nahm hektischen Damen Handschuhe und betrunkenen Männern Börsen ab. Ich schnappte mir kleine Hunde und brachte sie gegen Belohnung wieder zurück. Ich schnitt Pferden die Schwänze ab und verkaufte sie an Perückenmacher.

Eines Abends war ich halb tot vor Hunger, sonst hätte ich sie nicht angerührt – eine Börse, klein und braun, geschwollen wie eine tote Ratte.

Ich befand mich auf dem Heimweg vom Palais, Requisiten in der Tasche und keinen Sou im Beutel, als ich sie sah. Ihr Besitzer diskutierte mit einem Kellner. Er hatte sie auf den Tisch gelegt und ihr den Rücken zugekehrt. Es sollte kein Problem sein, sie mir im Vorbeigehen zu schnappen.

Ich blickte mich um. Die Garden des Palais waren nirgendwo zu sehen. Ich bewegte mich langsam vorwärts, zum ersten Mal zufrieden mit dem, was ich war – eine arme Straßenschauspielerin, ein Gassenkind, dem niemand besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als ich an dem Tisch vorbeikam, griff ich mir die Börse. Seltsam schwer lag sie in meiner Hand, dann ließ ich sie vorn in meinem Hemd verschwinden.

Einen Moment später war ich bereits zur Hälfte die Kolonnade hinuntergelaufen. Ich war schon fast auf der Straße, als sie mich packten. Einer riss mir die Tasche aus den Armen. Ein anderer drückte mich an eine Wand. Hart schlug mein Kopf gegen die Mauer. Feuerwerkskörper explodierten darin.

Ich versuchte wegzurennen, wurde aber wieder gefasst und erneut gegen die Mauer geschleudert. Einer der Gardisten packte mich am Hals und drückte mich an die Wand. Ein anderer riss mein Hemd auf und griff sich die Börse. Ganz und gar kein Junge, sagte er und sah mich lüstern an. Ich trat nach ihm, aber er lachte bloß. Ich konnte nicht atmen. Meine Lunge platzte fast. Das Feuerwerk in meinem Kopf verblasste. Alles wurde schwarz.

Und dann hörte ich eine andere Stimme. Seine Stimme.

Genug.

Der Gardist ließ mich los. Ich fiel auf die Knie und schnappte nach Luft.

Komm mit mir, kleiner Spatz.

Ich blickte auf. Ein Mann stand vor mir. Sein schwarzes Haar war zusammengebunden. An einem seiner Ohren baumelte ein goldener Ring. Seine Augen hatten die Farbe der Mitternacht.

Und wenn ich nicht will?, erwiderte ich und versuchte, nicht ängstlich zu klingen.

Dann kannst du mit ihnen – er deutete mit dem Kopf zu den Gardisten – ins Sainte-Pélagie gehen.

Das Sainte-Pélagie war das schlimmste Gefängnis in Paris. Ich sah den Gardisten an, der mein Hemd aufgerissen hatte. Aus seinem lüsternen Blick schloss ich, dass es vorher einen kleinen Umweg geben würde. Vier Gardisten und ich in irgendeiner schmutzigen Gasse.

Plötzlich vermeinte ich die Stimme meiner Großmutter zu hören. Als Kind pflegte ich mich überall herumzutreiben. Eine Straße hinunter, die nächste hinauf. Zum Fluss. Manchmal durch die Stadttore hinaus. Auf die Felder. In den Wald.

Eines Tages wirst du mit dem Teufel spazierengehen, mein Mädchen, hatte sie gesagt, und nie mehr zurückkommen.

Immer noch auf den Knien, griff ich nach meiner Tasche.

Lass sie liegen. Die brauchst du nicht mehr, sagte der Herzog von Orléans.

Und ich wusste, dass dieser Tag gekommen war.

10. Mai 1795

Er nahm mich mit in seine Gemächer.

Gemächer? Es war ein Palast im Kleinen. Wie das Innere der Lampe eines Dschinns. Überall fanden sich Gold und Spiegelglas, Kristall und Silber und warfen das Licht von hundert Kerzen zurück. Myrrherauch hing in der Luft. Aus der Ferne erklang Musik.

Er warf einem Diener seinen Umhang zu, bellte einem anderen zu, Essen und Wein zu bringen. Er führte mich durch ein Foyer, so groß wie eine Markthalle, vorbei an Salons, drei Bibliotheken und einem Ballsaal in einen Speisesaal.

Ich stahl ein Silbermesser vom Tisch und schob es in meinen Ärmel, als er mir den Rücken zukehrte.

Du Närrin. Du wirst nicht viel erreichen in dieser Welt, wenn du dich mit so wertloser Beute begnügst, sagte er.

Wie hatte er das sehen können? Er hatte sich abgewandt, um eine Flasche zu entkorken.

Es ist bloß versilbert, fügte er hinzu.

Er nahm einen Salzstreuer und drehte ihn um. Ich zitterte. Verstreutes Salz bedeutet Unglück. Für ihn, hoffte ich inständig. Er warf mir ihn mir zu. Ich fing ihn auf.

Das ist Silber. Was man an dem feineren Glanz erkennt.

Er schenkte zwei Gläser Wein ein und reichte mir eines. Ich streckte argwöhnisch die Hand danach aus, wie ein Kaninchen, das die Falle wittert. Schließlich trank ich und der Wein schmeckte wie Rubine, die auf meiner Zunge schmolzen.

Setz dich, sagte er und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. Er ließ sich mir gegenüber nieder, nahe am Feuer, und löste seine Halsbinde.

Es war fast Mitternacht, ganz Paris war schon im Bett, doch keine fünf Minuten vergingen, bis ein alter Diener ein Festmahl auftrug. Ich aß Austern, Langusten, Forellenmousse. Ein Teller mit Gartenammern wurde gebracht. Der Herzog von Orléans nahm sich eine und biss den winzigen Kopf mit den Zähnen ab. Ein Gericht aus Kürbissen mit Minze wurde aufgetragen. Zarte Kartoffeln, nicht größer als meine Handknöchel. Danach Lamm. Ein ganzer Schlegel. Mit Rosmarin eingerieben und mit Salz bestreut. Der Koch hatte die Fettschicht eingeritzt und Knoblauchstücke darunter geschoben. Das Fleisch schmeckte so köstlich, dass mir die Tränen kamen.

Du bist hungrig, sagte der Herzog von Orléans und beobachtete mich über den Tisch hinweg. Und doch ist der Hunger in deinem Magen nichts im Vergleich zu dem in deiner Seele.

Ich hörte zu essen auf – ich, die ich halb verhungert war – und starrte ihn an, verblüfft darüber, dass er in mein Inneres gesehen hatte. Er, der mir nichts bedeutete.

Du bist die Straßenschauspielerin. Die Gefährtin des Dauphins. Der Spatz in der Grotte. Du bist hoch hinauf geflogen, kleiner Spatz, aber tief gefallen. Statt für den Prinzen von Frankreich zu spielen, führst du jetzt Marionettenstücke für Pariser Straßengören auf.

Mein Mund war voll, und ich konnte nur nicken.

Und wenn du mit den Marionetten fertig bist, kommst du hierher und trägst Monologe aus Dramen vor. Ich habe dich viele Abende lang beobachtet. Du bist ein Chamäleon, ein Mädchen, das sich in alles Mögliche verwandeln kann – in einen Jungen, ein Ungeheuer, einen Bettler, einen Kobold. Warum tust du das?

Ich schluckte mein Essen hinunter. Weil es viel leichter ist, als Junge oder Ungeheuer in dieser Welt zurechtzukommen, denn als Mädchen, antwortete ich.

Das stimmt, sagte der Herzog von Orléans. Aber das ist nicht der Grund, warum du das tust.

Ich blickte weg. Also gut, sagte ich. Ich tue es für Geld. Ich muss essen.

Wenn es nur Geld ist, was du willst, kannst du zehn Mal mehr verdienen, wenn du schlüpfrige Lieder singst. Warum Shakespeare? Warum Molière? Ich will eine ehrliche Antwort. Keine Lügen mehr oder ich gebe dich an die Gardisten zurück. Er war von seinem Stuhl aufgestanden und ging in dem Saal umher.

Ich kann mir nicht helfen, antwortete ich. Die Worte …

Ah, die Worte … Du bist verliebt in die Schönheit der Worte.

Ja.

Wieder eine Lüge! Wenn du die Worte so liebtest, würdest du selbst Stücke schreiben, nicht welche aufführen. Also raus mit der Sprache! Es sind die Charaktere des Dichters, in die du verliebt bist, nicht in seine Worte.

Ja, gab ich leise zu.

Weil …, half er mir auf die Sprünge.

Weil ich, wenn ich sie bin, nicht ich bin.

Der Herzog von Orléans nickte. Kein Spatz in der Gosse, sagte er. Nicht verzweifelt und hungrig. Nicht schmutzig. Missachtet. Fortgejagt. Vergessen.

Erneut brachte ich nichts heraus. Aber nicht wegen meines vollen Mundes, sondern weil mir das Herz bis zum Hals schlug.

Noch mehr Essen wurde aufgetragen. Ich verschlang Honigmelone und Käse auf Raukenkraut, mit Rum getränkte Kuchen und mit Nelken gewürzte Schokolade, Marzipan, gezuckerte Pflaumen und kandierte Orangen. Wie ein Ertrinkender, den man aus dem Meer gezogen hatte, war ich nur froh, gerettet worden zu sein, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, warum.

Erst als ich so vollgestopft war, dass ich kaum mehr atmen konnte, hörte ich auf zu essen. Erst da fiel mir auf, dass die Dienerschaft fort war, die Musik nicht mehr spielte, die Kerzen tropften. Und da war es zu spät, denn plötzlich stand er ganz nah bei mir. Hinter mir. So dicht, dass ich das Lamm zwischen seinen Zähnen riechen konnte.

Obwohl ich Todesangst hatte, erinnerte ich mich an das Messer. Das ich gestohlen hatte. Ich zog es aus dem Ärmel, fuhr auf meinem Stuhl herum und drückte es ihm an die Kehle.

Mit größter Vorsicht und Bedachtsamkeit schob er meine Hand weg und nahm mir das Messer ab. Dann riss er mich vom Stuhl hoch und versetzte mir einen so heftigen Schlag, dass ich taumelte. Die weißen Hände des Herzogs waren so kräftig wie die eines Gerbers. Ich stolperte rückwärts und fiel zu Boden. Er riss mich hoch und zerrte mich zu einer Spiegelwand. Das Messer hielt er noch immer in der Hand. Es glänzte silbern.

Ich schloss die Augen und hatte so große Angst, dass ich nicht einmal schreien konnte. Bei den Huren im Palais war er als Mann mit abseitigen Vorlieben bekannt, und ich hatte schreckliche Furcht vor dem, was auf mich zukommen würde. Ich spürte seine Hände in meinem Haar, ein kräftiges Ziehen. Etwas hatte sich gelöst. War abgefallen. Verloren. Mein Leben.

Ich öffnete die Augen. Nirgendwo Blut. Keine Wunde. Aber er hatte nicht meinen Hals durchtrennt, sondern mein Haar abgeschnitten. Meine braunen Locken, die mir zuvor über den Rücken hinab gefallen waren, reichten mir jetzt kaum mehr bis zu den Schultern. Er riss ein Stück Spitze von einer Manschette und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz.

Als Nächstes machte er sich an den Knöpfen meiner Weste zu schaffen und streifte sie mir ab. Dann riss er mein Hemd herunter. Meine geflickten schmutzigen Reithosen kamen als Letztes an die Reihe. Er bat mich, aus ihnen herauszusteigen, und beförderte sie mit einem Fußtritt in die Ecke.

Nackt und hilflos stand ich vor dem Spiegel und wartete, dass seine rohen Hände mich begrapschten würden. Stattdessen traf mich ein Guss kalten Wassers. Ich schnappte nach Luft und blinzelte. Es tropfte mir vom Kopf, vom Kinn und von den Schultern, und ich sah, dass er einen silbernen Wasserkrug auf den Tisch zurückstellte. Dann nahm er eine Serviette und rieb mir Gesicht und Hals damit ab, bis das Tuch schwarz war vor Schmutz.

Als er fertig war, öffnete er einen Schrank, nahm ein schmales Leinentuch heraus und band es um meine Brust, um meinen Busen flach zu drücken. Dann reichte er mir ein Hemd aus feinem Baumwollstoff. Wollstrümpfe, Kniehosen und eine blaue Weste mit Silberknöpfen.

Er goss sich Wein nach, während ich mich anzog, und als ich fertig war, ging er um mich herum, um die Verwandlung zu begutachten.

Er lächelte, tauchte den Daumen in seinen Wein und machte mir damit ein Kreuzzeichen auf die Stirn. In nomine Patris, et Filii et Spiritus Sancti, sagte er spöttisch.

Und dann begriff ich. Und das machte mir noch mehr Angst als alles andere, was zuvor geschehen war.

Ich sollte in dieser Nacht nicht sterben. Das wäre einer Begnadigung gleichgekommen.

Ich sollte wiedergeboren werden.

Lilie  39   Lilie

»Entschuldigen Sie bitte.«

Ich blicke auf und sehe in ein Paar pechschwarzer Augen. Einen Moment lang packt mich Panik. Ich weiß nicht, wo ich bin. Wer ich bin.

»Die Schlange … ist weitergerückt«, sagt ein Mann mit italienischem Akzent.

»Oh, ja, tatsächlich. Tut mir leid«, antworte ich.

Selbst Familie Allzeitbereit ist zehn Meter vor mir. Ich stecke das Tagebuch in meine Tasche und schließe die Lücke. Meine Gedanken sind noch beim letzten Eintrag. Warum hat der Herzog von Orléans Alex in einen Jungen verwandelt? Was zwang er sie zu tun, dass sie glaubte, Sterben wäre im Vergleich dazu eine Gnade gewesen?

Aber ich werde mich gedulden müssen, weil ich inzwischen nur noch ein paar Meter vom Eingang in die Katakomben entfernt bin. Ein Schild an der Tür nennt den Eintrittspreis, erklärt, dass man sich auf einen längeren Fußmarsch einstellen solle und dass die Katakomben nichts für kleine Kinder und Leute mit schwachen Nerven seien.

Ich bezahle bei dem unfreundlichen Menschen an der Kasse, gehe an dem Sicherheitsmann vorbei, zu einer steilen steinernen Wendeltreppe und steige in ein kaltes, feuchtes Zwielicht hinab. Ein Typ vor mir macht einen Scherz über Dantes Inferno und behauptet, wir näherten uns dem ersten Ring der Hölle. Jemand anderes entgegnet: »Nein, das ist der Louvre.« Alle lachen. Zu laut.

Wir steigen weiter hinab, etwas über achtzig Stufen und gelangen in einen Ausstellungsraum voller Schautafeln. Ich gehe herum und informiere mich über den historischen Hintergrund. Offensichtlich gibt es kilometerlange verlassene Tunnel im Untergrund von Paris – nicht sieben oder acht, sondern hundertsechsundachtzig.

Seit der Römerzeit bis ins achtzehnte Jahrhundert holten die Leute Gips und Kalkstein unter der Stadt heraus und gruben so ein riesiges Netzwerk aus Gängen und Räumen. So verwandelten sie den Untergrund in einen Schweizer Käse, was auch der Grund ist, weshalb es im Zentrum von Paris keine Wolkenkratzer gibt, denn der restliche Fels könnte ihr Gewicht nicht tragen. Die meisten der Gänge sind gefährlich instabil und für die Öffentlichkeit gesperrt. Die Ossuarien oder Friedhöfe, in die ich mich begebe, bestehen aus einer 780 Meter langen Strecke unter dem 14. Arrondissement und beherbergen die Überreste von annähernd sechs Millionen Menschen. Sechs Millionen.

Ich gehe weiter entlang der Schautafeln und lese über einige Persönlichkeiten, deren Gebeine wahrscheinlich hierhergebracht wurden. Über Madame Elizabeth, die Schwester des Königs. Über Madame de Pompadour, die Mätresse von Ludwigs XV. Über Robespierre und Danton. Über Rabelais, den Dichter, und Scaramouche, den Schauspieler. Ich wette, nachts finden hier einige interessante Unterhaltungen statt.

Ich lese weiter und erfahre, dass nach dem Sturz von Robespierre seine Partei – die Jakobiner – einen herben Rückschlag erlitt. Junge Adlige, die sein Regime überlebt hatten, setzten den Weißen Terror in Gang und verprügelten Jakobiner auf der Straße. Sie veranstalteten Bälle für die Hinterbliebenen, für Menschen, die ein Familienmitglied durch die Guillotine verloren hatten. Tänzerinnen trugen das Haar kurz geschnitten wie die Verurteilten, und schlangen sich rote Bänder um den Hals, um zu zeigen, wo das Beil gefallen war. Einige dieser Bälle wurden sogar in den Katakomben abgehalten.

Ich sehe mich nach weiteren Informationen um, um herauszubekommen, ob sich während der Revolution Leute in den Katakomben versteckten, denn ich hoffe, einen Hinweis auf ein verrücktes Mädchen zu finden, das sich als Junge verkleidete, Feuerwerke zündete und ein Tagebuch führte. Aber nichts.

Die Ausstellungsräume sind zu Ende. Ein Schild an der Wand weist den Weg zu den Ossuarien und erklärt, dass im Fall eines Stromausfalls die Notbeleuchtung angeschaltet wird und den schwarzen Streifen an der Decke des Tunnels zum Ausgang zu folgen ist.

Ich gehe weiter, hinter einem älteren Ehepaar, einer Gruppe Teenager und den Amerikanern her, und komme in einen niedrigen Korridor, einen früheren Steinbruch. Es ist kalt, und ich muss mich ducken beim Gehen. Nach einigen Metern bin ich in der Port-Mahon-Galerie, wo ein Grubenarbeiter, der in der Armee von Ludwig XV. diente, das Modell jener Festung in die Wand geschnitzt hat, in der er einst als Gefangener festgehalten worden war. Als Nächstes passiere ich das Fußbad der Grubenarbeiter – einen tiefen Brunnen mit klarem Grundwasser – und komme schließlich zum Eingang der Grabstätten.

Die Paneele zu beiden Seiten der Tür sind schwarz und weiß gestrichen. Darüber steht eine Inschrift: Halt! Dies ist das Reich der Toten. Und plötzlich will ich zurück. Zurück durch den Ausstellungsraum, die Treppen hinauf, ins Licht hinaus. Aber ich tue es nicht. Ich reiße mich zusammen, weil ich wissen will, wie dieser Ort ist. Ich will wissen, wo Alex war.

Ich trete durch die Tür. Und dann sehe ich sie – die Knochen. Wand um Wand voller menschlicher Knochen. Der Anblick lässt mich erstarren. Schädel sind auf Schädel gehäuft. Oberschenkelknochen auf Oberschenkelknochen. Manche sind säuberlich aufgeschichtet. Andere zu dekorativen Mustern verarbeitet – zu Streifen und Bändern, Kreuzen und Blumen. Es fühlt sich an, als wäre ich unverhofft in den Keller eines Massenmörders gestolpert, der Sinn für Inneneinrichtung hat.

Die Leute um mich, die kurz zuvor noch gescherzt und geplaudert hatten, sind jetzt still. Einige gehen in einer Art schweigsamer Ehrfurcht herum. Andere ertragen es nicht und wollen zurück. Ich höre Schniefen und Schluchzen. Ich drehe mich um und sehe, dass die Allzeitbereits doch nicht auf alles vorbereitet waren. Die Mutter wirkt verstört. Wie es aussieht, transportiert Mikrofaser nur Schweiß ab, nicht Todesangst.

Ich gehe weiter. Die Tunnel scheinen kein Ende zu nehmen. Ich gehe zehn, zwanzig, dreißig Minuten lang weiter, und immer gibt es noch mehr Knochen. Es gibt auch Brunnen, Grabsteine, Kreuze und Obelisken. Gedichte und Wehklagen. Es gibt Warnungen und Eisentore, um Besucher davon abzuhalten, den falschen Weg einzuschlagen. Schilder erklären, dass die Gebeine vom Friedhof der Unschuldigen oder vom Friedhof Saint-Nicolas stammen, aber sie erklären nicht, warum es so viele sind.

Wer waren sie alle?

Ich gehe weiter. Und bin wahrscheinlich zu langsam und lasse mir zu viel Zeit, denn alle anderen sind weit vor mir. Ich bin ganz für mich, und es ist so still. Ich denke an Alex und wie es gewesen sein muss, hier unten allein zu sein und nur das Licht einer Laterne bei sich zu haben. Der Gedanke ist so schrecklich, dass ich meine Schritte beschleunige. Ein paar Minuten später komme ich an eine Gabelung und weiß nicht, welchen Weg ich einschlagen soll. Die schwarze Linie an der Decke biegt nach links ab, aber ich höre leise flüsternde Stimmen aus dem Tunnel zu meiner Rechten, also gehe ich dorthin.

Dieser Tunnel ist dunkler und schmaler. Die Knochen sind näher um mich herum. Ich gehe an einem großen Schädel vorbei, der oben auf einer Mauer sitzt, und plötzlich kann ich den Mann sehen, dem er gehörte. Es ist ein großer, bulliger Metzger, der schlüpfrige Lieder singt, während er ein Schwein zerhackt. Und der Schädel daneben mit der hohen Stirn gehörte einem blassen, steifnackigen Schulmeister. Der darüber, der kleine, einem kleinen Mädchen. Sie war hübsch mit rosigen Wangen und voller Leben. Ein Schädel nach dem anderen, mit leeren, blicklosen Augenhöhlen.

Die Stimmen, die ich gehört habe, werden lauter, drängender. Ich rede mir ein, dass es die Katakomben-Besucher vor mir sind. Oder das Geräusch von tropfendem Wasser. Ich habe feuchte Stellen auf dem Boden gesehen und Tropfen an den Wänden. Aber hier sind keine Menschen. Und die Wände sind trocken. Und dann wird mir klar, was es ist – es sind die Schädel. Sie flüstern mir zu.

»Ich möchte den Regen wieder spüren«, sagt einer, direkt neben mir.

»Ich möchte Melonen schmecken. Von der Sonne gewärmt« – ein anderer.

»Ich möchte meinen Mann lachen hören. Seine Haut auf meiner spüren.«

Immer mehr fallen ein, bis ein einziger, trauriger Sehnsuchtschor entsteht. Sie möchten gebratenes Hähnchen. Seidenkleider. Limonade. Rote Schuhe. Den Duft der Pferde riechen.

Ich verliere den Verstand. Das wird es ein. Da fegt ein Windstoß durch den Tunnel, was unmöglich ist, weil wir uns fünfundzwanzig Meter unter der Erde befinden, und ich nehme einen seltsamen Geruch wahr, würzig und stark – Nelken. Jetzt drehe ich völlig durch. Die Stimmen sind in meinem Ohr, und der Geruch in meiner Nase ist so stark, dass er mich zu ersticken droht.

»Hilf mir«, sage ich. »Bitte.«

»Mademoiselle? Entschuldigen Sie, Mademoiselle, aber Sie dürfen sich nicht in diesem Bereich aufhalten.«

Ich drehe mich um. Ein Sicherheitsmann steht im Tunnel und richtet das Licht seiner Taschenlampe auf mich.

»Mademoiselle? Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt er.

»Ich glaube nicht.«

Er kommt zu mir und nimmt meinen Arm. »Hier entlang«, sagt er. »Stützen Sie sich auf mich, wenn nötig.«

Das ist tatsächlich nötig. Ich stolpere neben ihm her, und nach ein paar Minuten sind wir zurück an der Gabelung. Er schwingt ein Metallgitter vor den Tunneleingang und sperrt es ab. Daran hängt ein rot-weißes Schild mit der Aufschrift GENERATOREN-RAUM – ZUGANG NUR FÜR PERSONAL. Diese Tür hatte ich vorhin überhaupt nicht gesehen.

»Tut mir leid. Ich … ich … habe keine Luft mehr bekommen«, sage ich verlegen.

Er lächelt. »Das kommt vor. Manche Menschen reagieren heftig. Ihnen wird schlecht, sie werden ohnmächtig oder verlieren die Orientierung. Auf Manche wirkt dieser Ort sehr bedrückend.«

Aber es hat nichts mit der Luft zu tun. Ich habe gelogen. Es ist Alex. Sie wollte, dass ich dorthin gehe. In diesen Tunnel. Sie wollte, dass ich ihr folge. Sie finde.

Der Sicherheitsmann bringt mich in den richtigen Gang zurück und führt mich zu einem Klappstuhl. An der Wand hängt ein Erste-Hilfe-Kasten neben einem Telefon. Er rät mir, mich ein paar Minuten zu setzen. Das mache ich, den Kopf in die Hände gestützt.

Es sind die Tabletten, das Qwell. Das wird es sein. Ich habe zu lange zu viel genommen, die Wirkung hat sich mit der Zeit potenziert und macht mich jetzt total fertig. Lässt mich Dinge sehen und hören. Auf der Henry Street. Auf dem Quai. Und nun hier in dieser durchgeknallten Horrorszenerie. Es bringt mich dazu zu glauben, ich hätte irgendeine verrückte Verbindung zu einem toten Mädchen.

Der Sicherheitsmann lässt mich noch eine Weile sitzen, dann begleitet er mich den restlichen Rückweg durch den Tunnel und die Treppe zum Ausgang hinauf.

»Ich raten Ihnen, etwas Wasser zu trinken, wenn Sie draußen sind. Und etwas zu essen«, sagt er.

Ein anderer Sicherheitsmann durchsucht meine Tasche, um sicherzugehen, dass ich keine Souvenirs eingesteckt habe. Als hätte mir danach der Sinn gestanden. Und dann bin ich draußen. Über der Erde. Zurück unter den Lebenden.

Ich besorge mir sofort eine Käse-Crêpe und eine Flasche Wasser, lasse mich in einem Park auf einer Bank nieder und esse. Als ich fertig bin, schließe ich die Augen und hebe mein Gesicht zur Sonne. Hole ein paar Mal tief Luft. Nach einer Weile fühle ich mich besser. Ruhiger. Was in den Katakomben passiert ist, war bloß eine seltsame Reaktion, die von zu vielen Tabletten herrührt. Wie andere seltsame Dinge, die mir kürzlich passiert sind. Ich muss die Qwellify-Dosis runterschrauben. Weniger nehmen. Und das werde ich auch. Ab heute Abend.

Ich öffne die Augen und sehe auf die Uhr. Es ist zehn nach eins. Ich muss los, zum Archiv zurück und dort Yves Bonnard untertänig um Verzeihung bitten. Wenn mir das gelingt, werde ich so viele von Malherbeaus Unterlagen fotografieren, wie ich kann, dann gehe ich zu G. zurück und arbeite an meiner Gliederung. Und alles wird gut.

Während ich den Abfall von meinem Mittagessen zusammenpacke, wackelt auf unsicheren Beinchen ein kleines Mädchen auf mich zu. Die Mutter ruft dem Kind zu, dass es zurückkommen soll. Schwankend bleibt es stehen, als müsse es sich erst noch daran gewöhnen, seinen Beinen zu vertrauen.

Das Kind sieht mich mit großen ernsten Augen an, macht dann ein paar vorsichtige Schritte in meine Richtung und streckt mir eine Faust entgegen. Es hält etwas fest darin.

»Hallo«, sage ich. »Was hast du denn da?«

Das Mädchen öffnet nacheinander die Finger, bis ich sie in seinem kleinen Patschhändchen erkennen kann.

Eine kleine braune Feder. Von einem Spatzen.

Lilie  40   Lilie

»Heute hat mich Dr. Becker angerufen«, sagt Dad.

Ich bin gerade damit beschäftigt, Beethoven mittels Photoshop einen Nasenring anzuhängen, und blicke auf.

»Was hat er gesagt?«

»Dass es deiner Mutter ein bisschen besser geht. Sie verträgt die neuen Medikamente. Sie isst und nimmt an der Gruppentherapie teil.«

»Hat er gesagt, ob wir sie schon anrufen können?«

»Er meinte, wir sollten noch einen oder zwei Tage warten.«

»Okay«, antworte ich umgänglich.

Sicher. Warum auch nicht? Ich werde zwei Tage warten – Samstag und Sonntag. Aber am Montag bin ich in der Klinik. Und dann wird Dr. Becker jeden Sicherheitsmann brauchen, um mich davon abzuhalten, mit ihr zu sprechen.

»Wie läuft es mit deinem Entwurf, Andi?«, fragt er. »Machst du irgendwelche Fortschritte?«

»Ja. Ich habe einen ersten Entwurf. Ich muss noch daran feilen, aber es ist ein Anfang. Und ich habe schon einen großen Teil der Einleitung«, antworte ich lächelnd.

»Das ist großartig«, sagt er und erwidert mein Lächeln.

»Ja«, sage ich. »Wie läuft es mit den Tests?«

»Recht gut, in der Tat. Am Montag erwarten wir die Ergebnisse.«

»Cool«, erwidere ich und lächle so angestrengt, dass mir das Gesicht weh tut.

»Am Mittwoch gibt es ein Dinner. Im Elysée-Palast. Du kannst mitkommen, wenn du willst«, sagt Dad.

»Wow. Ja. Es ist nur so, dass ich für Samstagabend ein Flugticket habe. Schon vergessen?«

»Ah ja. Richtig. Bist du bis dahin mit deinem Entwurf fertig?«

»Sicher.«

»Und wird er auch gut?«

»Ich denke schon.«

Er nickt und wendet seine Aufmerksamkeit wieder seinem Laptop zu. Ich dem meinen. Dad ist heute Abend früh heimgekommen. Wir haben etwas beim Thai bestellt und gemeinsam mit Lili gegessen. Danach ist sie in ihr Atelier gegangen, und Dad und ich haben den Esstisch in Beschlag genommen. Jetzt sitzt er an einem Ende und ich am anderen. Stundenlang haben wir hier schweigend gearbeitet. Ohne zu streiten. Was gut ist. Ich muss nur noch heute Abend, morgen und Sonntag ohne weiteren Wutausbruch durchstehen.

Ich bin mit dem Nasenring fertig und beschließe, Ludwig auch grüne Haare zu verpassen. Es steht ihm. Das wird sich gut als Hintergrundbild in der Einleitung machen. Aus dem Allegretto seiner 7. Symphonie habe ich bereits die Takte entnommen, die ich brauche, und mit einem Teil von Paint It Black der Stones vermischt, um ein Beispiel für meine Prämisse zu liefern. Es illustriert auf hübsche Weise eine a-Moll-E7/C-G7-Parallele. Außerdem habe ich mich mit meiner Handykamera gefilmt, während ich erklärt habe, wie Malherbeaus Verwendung von a-Moll in einigen seiner früheren Werke wahrscheinlich das Allegretto beeinflusste. Den Clip habe ich an meine E-Mail-Adresse geschickt und in PowerPoint abgespeichert. Die Qualität lässt ein bisschen zu wünschen übrig, reicht aber aus, um es Dad vorzuführen. Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich das Ganze mit der Video-Ausrüstung von St. Anselm noch einmal neu aufzeichnen.

Ich bin fertig mit Ludwig und logge mich aus. Ich habe gearbeitet wie eine Wahnsinnige, seit ich Yves Bonnard überreden konnte, mich wieder in die Bibliothek zu lassen. Ich flehte ihn geradezu an und versprach bei meinem Leben, dass ich auf die anderen Rücksicht nehmen und nicht mehr stören würde. Den ganzen Nachmittag fotografierte ich Malherbeaus Papiere und begann gleich nach dem Abendessen mit meiner Skizze. Gegen acht hatte ich einen groben Entwurf, und danach habe ich an der Einleitung gearbeitet.

Ich denke, dass ich es schaffen werde. Morgen Abend werde ich mit beidem fertig sein – und Dad bleibt dann noch genügend Zeit, alles zu lesen und abzusegnen.

Jetzt wünsche ich ihm gute Nacht, packe meine Sachen zusammen und gehe in mein Zimmer. Sobald ich dort bin, kippe ich den Inhalt meiner Tasche aufs Bett und suche nach Virgils CD. Seit er sie mir bei den Katakomben zugeworfen hat, bin ich gespannt, sie zu hören. Vorhin habe ich gleich Lili gefragt, ob sie einen CD-Player hat, und sie hat mir einen alten Discman gegeben.

Ich lege die CD ein und drücke auf Play. Eine Stimme erklingt, eine einsame Männerstimme, und singt eine Art afrikanischen Song. Die Stimme tritt in den Hintergrund, Trommeln setzen ein, dann singen viele Stimmen, etwa hundert, denselben Song und Virgil setzt mit seinem Rap ein. Es ist gut. Wirklich gut. Gänsehautmäßig gut.

Der nächste Song ist über Amerika, irgendein Rapper verspricht, es im Sturm zu erobern. Banloser ist ebenfalls drauf, klingt aber anders als neulich Nacht – wesentlich glatter. Ein Song heißt I’m Shillin’ und handelt davon, wie man sich selbst untreu wird. Ein anderer trägt den Titel Morning Light und beschreibt, wie es ist, auf dem Hügel von Sacré-Cœur die Sonne aufgehen zu sehen. Ich erkenne ihn wieder. Letzte Nacht hat Virgil ihn mir vorgesungen.

Die Texte sind stark und die Musik sogar noch stärker. In einem Song greift er auf eine Reggae-Gitarre zurück. In einem anderen auf Siebziger-Jahre-Funk. Es gibt Samples von amerikanischen Gospelsongs. Eine Sitar. Den Ruf eines Muezzins. Französische Schüler, die Kinderlieder singen. Eine chinesische Violine. Songs, die die ganze Welt in sich tragen, wie er gesagt hat.

Sobald die CD zu Ende ist, nehme ich mein Handy. Um ihn anzurufen und ihm zu sagen, wie sehr mir seine Songs gefallen.

»Was?«, bellt er.

»Ähm, hallo. Ich bin’s, Andi«, melde ich mich ein wenig unsicher.

»Hallo. Bleib einen Moment dran.«

Ich höre Bremsen quietschen, dann schimpft Virgil los und rät einem Typen, etwas zu tun, was physisch unmöglich ist.

»Tut mir leid«, sagt er zu mir.

»Schlimmer Tag?«

»Entsetzlich. Diese verdammte Stadt ist heute Abend total außer Rand und Band. Kann ich dich zurückrufen? In einer halben Stunde?«

»Sicher. Ja.«

Ich lege auf und starre an die Decke, unschlüssig, was ich tun soll, während ich warte. Ich bin irgendwie hungrig. Seit dem Abendessen habe ich nichts mehr zu mir genommen. Ich könnte in die Küche gehen. Etwas von den übrig gebliebenen Thai-Rollen essen. Eine Orange. Ein Stück Käse. Ich könnte mich waschen und bettfertig machen. Was keine schlechte Idee wäre, da morgen Samstag ist und noch eine Menge Arbeit vor mir liegt. Ich habe vor, Malherbeaus Haus zu besuchen und weitere Fotos zu machen. Und ich muss eine zweite Fassung meines Entwurfs schreiben.

Mein Blick wandert zu meinem Bett und zu den Sachen, die ich dort ausgekippt habe. Das Tagebuch liegt da, unter meinen Schlüsseln. In dieser Nacht sollte ich nicht sterben. Das wäre einer Begnadigung gleichgekommen. Ich sollte wiedergeboren werden, schrieb Alex. Wiedergeboren als was? Um was zu tun?

Einerseits möchte ich weiterlesen, andererseits lieber nicht. Ich bin neugierig und habe gleichzeitig Angst. Ich muss herausfinden, was Alex passiert ist, und Louis Charles – aber was, wenn ich wieder ausflippe? Wie in den Katakomben?

Ich lasse das Tagebuch liegen und gehe ins Badezimmer. Es ist nicht das Tagebuch, das den Anfall ausgelöst hat, sage ich mir beim Zähneputzen. Weil das nicht möglich ist. Es ist nur ein Tagebuch. Worte auf Papier. Mehr nicht. Es lag an den Tabletten. Ich muss einfach endlich begreifen, dass ich schlichtweg zu viele nehme.

Ich gehe in mein Schlafzimmer zurück, nehme das Fläschchen vom Nachttisch und schüttle zwei Pillen heraus. Ich möchte die Dosis verringern. Das macht mich jedoch nervös. Während der letzten Tage war ich ziemlich ruhig und stabil. Zumindest was die Traurigkeit anbelangt. Ich habe zwar Dinge gesehen und gehört, mich aber nicht mehr plötzlich an irgendwelchen Abgründen wiedergefunden. Weder an der Seine noch auf irgendjemandes Dach. Ich will nicht wieder in dieses dunkle Loch fallen. Aber ich will auch keine flüsternden Schädel mehr treffen, keine kreischenden Puppen und keine alten Typen, die sich vor meinen Augen in junge Männer verwandeln.

Ich stehe hier und versuche, mich zu entscheiden. Eine Orange? Etwas Käse? Ins Bett? Das Tagebuch? Suizidale Anfälle oder Halluzinationen? Zwei Pillen? Oder nur eine?

Ich schlucke eine und gebe die andere zurück in das Fläschchen.

Vielen Dank, ich nehme das Tagebuch. Ohne alles, bitte, und lassen Sie auch den Irrsinn weg.

Lilie  41   Lilie

12. Mai 1795

Nur die Hoffnungslosen lieben Gott.

Haben Sie je ein schönes Mädchen gesehen, das einen Augenblick länger als nötig in der Messe verweilt? Kniet ein reicher Mann sich nieder, wenn keiner ihn beobachtet?

Die Hässlichen, die Fetten, die Armen und Stinkenden. Leprakranke, denen Körperteile abfaulen. Die mit übelriechendem Atem und Pockennarben. Stotterer. Sabbernde und Zuckende. Irre. Skrofulöse. Keiner liebt sie, nicht einmal ihre Mütter, doch gerade sie werden – mit verzückter Stimme – sagen, Gott liebt mich. Sie sehnen sich so verzweifelt nach Liebe, nach irgendeiner Liebe, dass sie sich selbst mit seinen mageren Gaben zufriedengeben.

Sie werden fragen, warum ich es tat. Sie werden mich verurteilen. Aber nur eine Heilige hätte anders gehandelt, und ich bin keine Heilige.

Ich hatte es satt – Gottes endloses Schweigen. Ich wollte Lärm. Applaus, der anschwillt wie ein Wirbelsturm. Pfiffe und Rufe und laute Bravorufe. Das Prasseln von Rosen, die auf die Bühne regnen.

Ich wollte nicht Gottes kalte Liebe. Ich wollte menschliche Liebe – gierig, selbstsüchtig und heiß. Ich wollte die Geilheit der gröhlenden und stampfenden Männer im Parterre riechen und das schwere Parfüm der teuren Huren in den Logen. Ich wollte, dass Fischweiber ihre Brüste entblößten und Händler ihre Börsen warfen. Ich wollte dampfende, trunkene, hungrige Liebe.

Welcher Schauspieler will das nicht?

Doch wie war es mir vorher ergangen – bevor mich der Teufel ins Visier nahm. Bevor der Herzog von Orléans mich zu seinem Werkzeug machte:

Ich stand allein auf der Bühne des schäbigen Theater Beaujolais, den Kopf gesenkt, und strich über eine Schwiele in meiner Hand. Ich war meinem Onkel und seinen verdammten Marionetten entkommen, um hier zu landen. Gerade hatte ich Audinot, dem Prinzipal, die Julia vorgetragen. Mein Vortrag war gut gewesen. So gut, dass die Souffleuse zu essen aufhörte. Die Bühnenarbeiter zu hämmern. Und der Beleuchterjunge im Schnürboden oben weinte. Aber das zählte nicht. Es zählte nie.

Sie ist nicht hübsch, sagte Audinot. Und sie hat keinen Busen.

Dabei versuchte er nicht einmal, seine Stimme zu senken. Ich hasste ihn dafür.

Sie spricht gut und ihr Ausdruck ist höchst gefühlvoll, sagte der Lakai neben ihm.

Das Parterre zahlt nicht für gefühlvolle Mädchen. Nur für hübsche, antwortete Audinot. Er lächelte mich an, ölig wie eine Makrele. Danke, Mademoiselle. Die Nächste!

Doch wie anders sollte es mir später ergehen, sagte er! In einem, vielleicht zwei Jahren. Wenn die Revolution, der Wahnsinn, vorbei und der König wieder in Versailles wäre. Das war es, was der Herzog von Orléans mir versprach, wenn ich auf seine Bitte einginge …

Ein Ruf des Nationaltheaters würde ergehen, gerichtet an Alexandre Paradis, denn Alexandrine gäbe es nicht mehr. Niemand würde ihr nachtrauern, am wenigsten ich selbst, denn Alexandre wäre ein viel hübscherer Junge als Alexandrine es als Mädchen gewesen war. Anfangs bekäme ich kleine Rollen – Diener und Soldaten, Narren und Totengräber-, dann den Cherubin im Figaro, und damit gute Kritiken. Der Herzog von Orléans selbst würde dafür sorgen. Als Nächstes würde ich Shakespeares Thybalt spielen. Claudio und Ferdinand. Dann den Damis in Tartuffe. Rodrigo in El Cid. Bis ich eines Abends im Schein der Rampenlichter stünde und donnernden Applaus erhielte für meinen Romeo. Die Leute würden stampfen und jubeln – ganz ohne dafür bezahlt worden zu sein. Im Parterre würde ein Mann erdrückt, in den Logen würden Frauen in Ohnmacht fallen. Am nächsten Tag schriebe ein Kritiker, meine Natürlichkeit könne es selbst mit dem großen Talma aufnehmen. Ein anderer, meine Leistung sei unerreicht in der Theatergeschichte. Ein dritter würde mich mit einem jungen Gott vergleichen.

Mitten im Dezember stünden Blumen in meiner Garderobe. Kuchen und Wein. Ein Ring von Boehmer. Damen und Herren kämen herein, um mir beim Abschminken zuzusehen. Würden mir Münzen zustecken und mich küssen. Es gäbe Heiratsanträge. Und andere Angebote, aber ich würde Benoît dafür bezahlen, mich zu beschützen. Er säße in einem Sessel, ein Bein über die Lehne gelegt. Wir würden uns als Pärchen ausgeben und die Platzanweiser bezahlen, um Geschichten unserer Unzucht und Streitigkeiten zu verbreiten. Und ich, die ich im Moment noch hungrig und frierend war, äße Kapaun und schliefe in einem Federbett.

Ich hatte versucht, gut zu sein. Gottesfürchtig zu sein. Aber ich hatte es so satt, übergangen zu werden.

Klage Gott deinen Kummer. Schrei ihn zum Himmel hinauf. Zerreiß dein Hemd, dein Fleisch, rauf dir das Haar. Kratz dir die Augen aus. Schneid dir das Herz aus dem Leib. Und was bekommst du von Gott zurück? Nur Schweigen. Gleichgültigkeit.

Aber sobald du seufzend vor den Theaterplakaten stehst, weil dein Name nicht darauf ist, taucht der Teufel höchstpersönlich voller Mitgefühl neben dir auf.

Und deswegen habe ich es getan. Deswegen diente ich ihm. Deswegen blieb ich.

Weil Gott uns liebt, der Teufel sich jedoch um uns kümmert.

13. Mai 1795

Die Königin erkannte mich nicht. Auch ich erkannte sie kaum wieder. Erst ein Jahr war vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, dennoch schien sie um zwanzig Jahre gealtert. Ihr blondes Haar war weiß, ihr Gesicht hager, und tiefe Falten umgaben ihre Augen.

Ich wurde vom Aufseher der Tuilerien in ihre Gemächer gebracht. Er informierte sie, dass dem Dauphin ein neuer Page zugeteilt worden sei. Sie schenkte dem Mann einen verächtlichen Blick und fragte ihn nach meiner Familie. Er erklärte ihr, dass ich von guter republikanischer Herkunft sei und die Menschenrechte und meine Pflichten kenne. Darauf drehte er sich auf dem Absatz um.

Majestät, ich bin es, Alex, flüsterte ich, nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.

Sie sah mich erneut an. Ihre Augen wurden größer. Sie lächelte. Ich sagte ihr, dass ich viele Male versucht hätte, Louis Charles zu besuchen, aber immer abgewiesen worden sei. Ich hätte aber nie aufgegeben und schließlich eine Möglichkeit gefunden, auch wenn es lange gedauert habe. All dies sagte ich ihr, so wie man es mir aufgetragen hatte.

Sie rief nach Louis Charles. Er erkannte mich auf der Stelle, lief auf mich zu, küsste mich und klammerte sich an meinen Hals. Ich drückte ihn fest an mich, hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. Die Königin lachte. Dass er glücklich war, machte auch sie froh. Von dem Moment an verbrachten wir jeden Tag zusammen. Ich erledigte meine Pflichten – half Louis Charles beim Aufstehen und Ankleiden, bediente ihn beim Essen und hielt Ordnung in seinen Gemächern. Aber hauptsächlich sang ich Lieder für ihn, erzählte ihm Geschichten und spielte mit ihm, wie ich es in Versailles getan hatte. Er war einsam und deshalb sehr glücklich über meine Gesellschaft.

Ich liebe dich, Alex, gestand er mir, als wir mit den Zinnsoldaten spielten. Du darfst mich nie mehr verlassen.

Ich liebe dich auch, Louis Charles, antwortete ich. Ich werde dich nie mehr verlassen. Das verspreche ich.

Dieses Versprechen habe ich gehalten. Denn ich liebte ihn. Fast zwei Jahre lang verbrachte ich fast jede Stunde mit ihm. Bis er mir weggenommen wurde. Aber ich habe ihn nie verlassen. Und werde es nie tun.

Der Herzog von Orléans hatte mir diese Stelle gekauft. Er bestach den Aufseher der Tuilerien. Sagte ihm, ich sei sein illegitimer Sohn und er wolle mir helfen, meinen Weg zu gehen in der Welt. Er versicherte dem Mann, dass ich ein guter Republikaner und Jakobiner sei. Wie er selbst.

Ich sollte im Palast Augen und Ohren offen halten. Ich sollte dorthin gehen, wo er – inzwischen ein Revolutionär, der sich vom König distanziert hatte – keinen Zutritt mehr hatte, und ihm alles erzählen, was ich aufschnappte. Was machte der König an diesem oder jenem Tag? Wen empfing er? An wen schrieb die Königin? Wer unterrichtete den Dauphin? Trafen Geschenke für ihn ein? Gerüchte schwirrten durch Paris – man flüsterte von Gegenrevolution, von ausländischen Intrigen, von Komplotten, um den König zu befreien.

Ich sollte der Spion des Herzogs sein.

Warum ich?, fragte ich ihn in jener Nacht, als er mich mit in seine Gemächer nahm. Warum nehmen Sie keinen Jungen, damit dieser die Arbeit eines Jungen verrichtet?

Das habe ich, antwortete er, schon drei Mal. Der Erste – ein Stalljunge – hat eine Magd geschwängert. Der Zweite – ein Diener – ging zur Armee, weil ihm die Uniform besser gefiel. Der Dritte – ein Koch – wurde bei einer Rauferei getötet. Ich brauche einen Jungen, der mit dem Kopf denkt, nicht mit dem Gemächt. Da es einen solchen nicht gibt, habe ich mir selbst einen geschaffen.

Er hatte mich die ganze Zeit über beobachtet. In Versailles, wo ich in Reithosen und Mütze für Louis Charles herumtollte. Im Palais, wo ich Hamlet und Romeo rezitierte. Ich selbst hatte ihn auf die Idee gebracht.

Mach es für mich, sagte er. Mach es gut, und wenn ich dich nicht mehr brauche, bringe ich dich an die Bühne. Ans Nationaltheater. An die Oper.

Ich war aber nicht ganz so dumm, wie er dachte.

Ich werde nie auf einer Pariser Bühne stehen, sagte ich, das wissen Sie ganz genau. Ich bin zu reizlos, um die Julia oder die Iphigenie zu spielen. Und zu gut, um Kammerzofen zu geben.

Dann spiel den Romeo. Den Benedikt. Den Philinte. Du kannst es. Hast du es nicht schon hundert Mal getan? Nachts im Palais Royal?

Das war eine ganz und gar neue Idee. Ich dachte darüber nach und fragte dann: Und wenn ich es nicht tue?

Dann wanderst du ins Gefängnis. Vier Wachen haben gesehen, wie du meine Börse gestohlen hast. Hast du vergessen, dass ich dir einen Aufenthalt im Sainte-Pélagie versprochen habe?

Ein Versprechen soll das sein?, fragte ich schnaubend. Ich nenne das eine Drohung.

Der Herzog von Orléans lächelte. Ich muss mich keiner Drohungen bedienen, sagte er.

In diesem Moment erwachte etwas in mir zum Leben – eine grässliche, schwarze Angst. Ich wollte keine Spionin sein, keine Zuträgerin. Ich befürchtete, meine Berichte könnten Louis Charles und seiner Familie eines Tages schaden. Aber gleichzeitig war auch etwas anderes in mir, etwas viel weniger Edles, und die Worte des Herzogs fachten dessen schwindende Glut wieder an.

Er erkannte es in meinem Gesicht, er musste es geahnt haben – ein schwaches Aufglimmen meines Gewissens, das mit meinem brennenden Ehrgeiz im Widerstreit lag –, und so beeilte er sich, es auszulöschen.

Hör mir zu, kleiner Spatz, sagt er. Ich will dem König keinen Schaden zufügen. Er ist mein Cousin, ist von meinem Blut. Ich will ihm nur helfen. Deine Berichte werden mir dafür von Nutzen sein. Wenn du mir berichtest, der spanische Botschafter habe der Königin eine Tapisserie oder dem Dauphin Spielzeug geschickt, weiß ich, dass dem König aus Spanien vielleicht Hilfe zuteil wird. Siehst du nicht, was um dich herum geschieht? So blind kannst doch selbst du nicht sein. Der Adel ist gestürzt worden. Der Klerus ebenso. Die Revolutionäre werden es dabei nicht bewenden lassen. Als Nächstes ist der König an der Reihe. Ja, der König.

Ich wollte ihm so gern glauben. Ihm glauben, dass er Gutes im Sinn hatte. Dass ich Gutes tat.

Aber der König hat die Liebe seines Volkes wiedergewonnen, sagte ich, um ihn zu testen. Er ging letzten Winter in die Nationalversammlung. Er schwor einen Eid, die Freiheit zu verteidigen. Er versprach, die Verfassung zu unterstützen. Im Juli besuchte er die Einheitsfeier und schwor, die Dekrete der Nationalversammlung zu befolgen. Ganz Paris war dort und hat es gesehen.

Nicht ganz Paris hat ihn gehört, entgegnete Orléans. Ich jedoch schon. Ich hörte, wie ihm die Worte im Hals stecken blieben. Die Eide, die er geschworen hat, sind nicht genug. Für Roland, ja. Für Desmoulins und Danton. Aber nicht für Robespierre. Er ist ein höchst gefährlicher Mann, dieser Robespierre – einer, der Gutes tun will, egal zu welchem Preis. Der König ist in großer Gefahr und seine Familie mit ihm. Deshalb musst du es tun. Um ihm zu helfen. Um ihnen allen zu helfen. Vielleicht ist noch Zeit, das Unheil abzuwehren.

Ich war immer noch misstrauisch. Ihnen geht es in Wirklichkeit gar nicht darum, was mit dem König geschieht, sagte ich. Sie wollen sich meiner Liebe für Louis Charles bedienen. Um sie für Ihre Zecke auszunutzen. Wie auch immer diese aussehen mögen.

Wie er daraufhin lachte! Ach, kleiner Spatz, red dir nur ein, was du willst, antwortete er. Das ist einfacher als die Wahrheit.

Und was ist bitte die Wahrheit, mein Herr?

Dass ich mir nur eine einzige Sache zunutze mache – deine Eigenliebe.

14. Mai 1795

Ich kehrte zurück in die Bleibe meiner Familie, um allen mitzuteilen, dass ich fortginge, dass ich Anstellung beim Herzog von Orléans gefunden hätte. Theaterarbeit, sagte ich. Was nicht gänzlich gelogen war.

Meine Großmutter war dagegen. Sie wusste, was von dem Herzog zu halten war. Er wird sie ruinieren, sagte sie. Vielleicht hat er es ja schon.

Sie ruinieren?, schnaubte mein Onkel. Was kann er ihr schon nehmen? Die Möglichkeit zu heiraten? Welcher Mann will sie denn schon? Sie ist keine Schönheit, und wir haben kein Geld. Sie ist besser dran mit ihm, und wir auch.

Ich sah sie an. Meine mageren Brüder. Meine erschöpfte Mutter. Ich liebte sie auf meine Weise, wirklich. Aber ich war hungrig. Und sie auch.

Der Herzog von Orléans hatte mir eine Kammer gegeben, hoch oben über seinen Gemächern. Auch Geld für meinen Unterhalt. Das meiste davon drückte ich meiner Mutter in die Hand, küsste sie zum Abschied und ging. Ein paar Monate später erfuhr ich, dass meine Großmutter gestorben war. Ich hörte, mein Vater habe ein Stück auf die Bühne gebracht, das den neuen Tyrannen Robespierre verspottete. Es erging der Befehl, ihn zu verhaften, und alle flohen nach England.

Das habe ich allerdings nur gehört. Ich weiß es nicht sicher. Ich habe keinen von ihnen je wiedergesehen.

Lilie  42   Lilie

Ich blicke gerade aus meinem Fenster auf die Lichter des Gebäudes gegenüber, als mein Telefon klingelt. Regen trommelt gegen die Scheiben und reflektiert das Licht in Millionen winzigen Tropfen. Ich wünschte, ich könnte die Fehler fortwaschen. Die schlechten Taten. Die Schuld und das Leid. Von mir. Von Alex. Von der ganzen Welt.

»Sing mir was vor«, sage ich ins Telefon. »Sing den Song über Sacré-Cœur. Der ist so schön.«

»Ich kann nicht. Es ist wahnsinnig viel los heute Abend, Andi. Dieses Wochenende sind drei Messen in der Stadt. Um vier hab ich mit meiner Schicht angefangen und bin seitdem nie leer gefahren. Gerade im Moment hab ich vier Leute in diese Rostlaube gestopft. Und der Verkehr ist furchtbar. Aber hör zu, ich mach’s wieder gut. Leg deine Klamotten zurecht.«

»Was?«

»Leg ein paar Sachen auf den Boden deines Zimmers, damit du nicht im Dunkeln danach suchen musst. Dann stellst du dein Handy auf Vibration, damit ich nicht das ganze Haus aufwecke, wenn ich anrufe, und legst es auf dein Kopfkissen.«

»Und warum sollte ich das tun?«

Erneut flucht Virgil leise. Aber er meint nicht mich damit. Wohl eher seinen Disponenten, den man im Hintergrund über den Taxifunk brüllen und schimpfen hört.

»Mach’s einfach«, sagt er zu mir.

»Ziemlich seltsam.«

»Ja, ich weiß. Genauso wie Schlaflieder am Telefon zu singen. Alles ist seltsam, seitdem ich dich kennengelernt habe, Andi. Schlaf jetzt. Bis bald.«

Lilie  43   Lilie

Mein Handy brummt plötzlich wie ein schreckliches Riesensinsekt an meiner Wange.

»Ja?«, melde ich mich heiser.

»Hey, Andi, ich bin’s. Bist du fertig? Komm runter.«

»Virgil?«, frage ich und schiele auf die Uhr auf dem Nachttisch. »Es ist halb fünf.«

»Ja, ich weiß. Wir müssen los. Leg auf und komm unter.«

Bevor ich noch etwas einwenden kann, hat er schon aufgelegt. Ich starre ein paar Sekunden auf das Handy, warte, dass mein Gehirn auf online schaltet, dann stehe ich auf und taste nach meinen Kleidern. Ich schleiche ins Bad, weil ich meinen Vater nicht wecken möchte. Welche Unterhaltung wir andernfalls führen würden, kann ich mir lebhaft vorstellen. – Hi, Dad! – Halb fünf? – Wirklich? – Was hast du vor? – Was ich mache? Ich gehe aus. – Mit wem? – Ach, kennst du ich nicht. Hab ihn selbst erst gerade kennengelernt. Wohin wir gehen? Gute Frage! Keine Ahnung.

Ich lasse die Badezimmertür angelehnt, nachdem ich fertig bin und husche auf Zehenspitzen durch Flur und Wohnzimmer. Dann schlüpfe ich zur Tür hinaus, eile leise die zwei Stockwerke hinunter und bahne mir mühsam meinen Weg durch all das alte Gerümpel im Hof. Es ist kalt und dunkel, und ich kann kaum etwas sehen. Als ich durch die Haustür trete, kommt mir das Ganze ziemlich abwegig vor, und ich frage mich, ob er überhaupt noch da ist.

Er ist da. Sitzt in seiner schäbigen Karre, die schnauft und keucht und sogar noch verbeulter aussieht als bei unserer letzten Begegnung. Lächelnd öffnet er mir die Beifahrertür. Ich erwidere sein Lächeln. Auf meinem iPod läuft gerade Marry Me von St. Vincent. Ich liebe diese CD.

»Hey«, sage ich.

»Hey«, sagt er und küsst mich auf die Wange.

Er wartet, bis ich mich angeschnallt habe, dann legt er den Gang ein, und wir fahren mit stotterndem Motor die stille, leere Straße hinunter. Im Getränkehalter hängen zwei Becher Kaffee.

»Ich dachte, du könntest einen brauchen. Bedien dich«, sagt er.

Ich danke ihm und greife zu. Der Kaffee ist schwarz, ohne Zucker, genau wie ich ihn mag, zudem heiß und stark und wärmt mich auf.

»Wie war die Nacht?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »Darüber möchte ich lieber nicht reden.«

»Aha. So schön? Also, sagst du mir, wohin wir fahren?«

»Klar.«

»Echt?«

»Wir fahren zum schönsten Platz von Paris«, antwortet er.

»Cool«, sage ich. »Ich liebe diesen Platz.«

Er lacht, und ich beschließe, nichts mehr zu fragen. Mich einfach zurückzulehnen, meinen Kaffee zu trinken und zuzuhören, während St. Vincent mir erzählt, dass die grünsten aller Weiden genau hier auf Erden sind.

»Wie war deine Nacht?«, fragt er.

»Kurz«, antworte ich.

Er fragt, wie mir die Katakomben gefallen haben. Ich halte mich eher bedeckt. Er will wissen, warum ich hingegangen bin, also erzähle ich ihm von der Gitarre, dem Tagebuch und Alex. Was mich ein bisschen nervös macht, weil es sich einigermaßen verrückt anhört, aber er findet das offensichtlich nicht. Seiner Meinung nach hört sich das Ganze ziemlich cool an, und er stellt eine Menge Fragen. Von meinen Halluzinationen erwähne ich allerdings nichts. Auch nichts von ihrem Ursprung. Weil ich will, dass Virgil und ich eine Chance haben. Unbedingt.

»Irgendwann musst du da mal nachts mit mir runtergehen«, sagt er. »Dann werde ich dir den Strand zeigen. Und den Bunker.«

»Was bitte?«

»Der Strand ist ein Partytreff. Der Bunker besteht aus mehreren Räumen, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg genutzt haben. Gewöhnlich gehe ich durch die Kanalisation rein. Es ist schwierig, die Kanaldeckel aufzukriegen, aber meistens schaffen wir es zu zweit oder zu dritt.«

»Kanalisation und Nazis? Da bin ich sofort dabei«, antworte ich. »Hey, vielleicht können wir hinterher noch zur Müllkippe gehen.«

Er lacht wieder. Ich auch. Es gefällt mir, ihn zum Lachen zu bringen. Er fragt, was ich sonst noch gemacht hätte, also erzähle ich ihm von meiner Abschlussarbeit. Er ist echt interessiert. Er kennt Malherbeaus Werk, ihm gefällt die Idee von der musikalischen DNA und er stellt mir eine Menge Fragen. Er schlägt auch noch ein paar weitere Parallelen vor, an die ich nicht gedacht habe, wie etwa Stücke von Philip Glass und PJ Harvey. Es ist schön, mit jemandem über meine Arbeit zu reden, der nicht der Meinung ist, Musik sei etwas für Idioten.

Er gibt mächtig Gas, während wir reden, und wir schlängeln uns in Richtung Westen aus dem 11. Arrondissement heraus, biegen auf den Boulevard Voltaire ein, rasen um die Place de la République und dann den Boulevard Magenta hinauf. Nach ein paar Blocks treffen wir auf eine Baustelle, also wenden wir und kurven über Nebenstraßen nach Norden. Ich beobachte, wie die nächtliche Stadt vorbeifliegt. Ich sehe die dunklen Fenster der Läden und Restaurants, die verlassenen Eisenbalkone alter Häuser, in denen Eheleute und Witwen, Babys und einsame Mädchen, alte Männer und Hunde und Katzen schlafen.

Wir fahren weiter nach Norden, vorbei an den grellen Neonlichtern der Sexshops und Peepshows an der Place Pigalle, in Richtung Montmartre. Ich glaube, ich weiß jetzt, wohin wir fahren, und kann es gar nicht erwarten anzukommen.

Ich beobachte die Nachtschwärmer von Paris – eine Prostituierte in schwarzer Strumpfhose und kurzem Rock, die fröstelnd an einer Ecke steht; einen Mann im Anzug, der ziemlich fertig und benommen wirkt; Straßenreiniger, Müllmänner, Bauern, die für den Markt am Samstagmorgen ihre Stände aufstellen, Antiquitätenhändler, die zum Flohmarkt eilen.

Ich liebe diese dunkle Stadt. Ich liebe das junge Arbeitermädchen mit den roten Lippen und billigen Stöckelschuhen. Und den alten Schwerenöter, der sich nach einem One-Night-Stand nach Hause schleicht. Ich liebe die rotwangige Bauersfrau, die ein Käserad hoch über dem Kopf trägt. Ich spüre etwas, wenn ich diese Menschen beobachte. Ich bin nicht sicher, was es ist. Ich spüre etwas, während ich hier sitze. Im Dunkeln. Mit Virgil. Es dauert eine Weile, bis ich das Gefühl erkenne, weil es so lange her ist, dass ich es zuletzt spürte. Aber dann weiß ich es.

Es ist Glück.

Lilie  44   Lilie

Wir fahren bergauf. Immer höher und höher hinauf. Zum Monmartre, zu Sacré-Cœur, der Kirche auf dem Hügel. Um den Sonnenaufgang zu sehen.

Auf einer schmalen Straße südlich der Kirche quetscht Virgil den Wagen in eine Parklücke, nicht größer als ein Schuhkarton. Er steigt aus, öffnet den Kofferraum und nimmt eine Plane, eine Tasche und eine Decke heraus.

»Gehen wir zum Campen?«, frage ich mit Blick auf die Decke. »Ansonsten wär das ganz schön kess von dir, mein Sohn.«

Er verdreht die Augen. »Nimm das«, sagt er und reicht mir die Tasche. »Los jetzt. Uns bleibt nicht viel Zeit.«

Ich frage mich, worauf ich mich da eingelassen habe. Und ob er sich an mich ranmachen will. Jeder andere Typ hätte es probiert an den zwei Millionen Ampeln, an denen wir anhalten mussten. Aber ich weiß ja schon, dass er nicht wie jeder andere ist.

Weil ich das steile Kopfsteinpflaster nicht schnell genug raufgehe, packt er meine Hand und zerrt mich mit sich. Wir steigen zahllose Steinstufen hinauf und kommen an den breiten, geneigten Rasenflächen vor Sacré-Cœur heraus. Von hier aus kann man ganz Paris überblicken. Die Lichter der Stadt blitzen wie kleine Sterne in der Dunkelheit. Er wählt einen Platz in der Mitte des Rasens und breitet die Plane aus.

»Setz dich«, sagt er.

Das mache ich. Er setzt sich neben mich und legt die Decke um unsere Schultern. Es gefällt mir, ihm so nahe zu sein. Er verströmt diesen köstlichen Geruch, den Jungs oft an sich haben, nach warmer Haut und Waschmittel. Er öffnet die Tasche und nimmt eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und eine Plastikbox mit zwei Gabeln heraus.

»Bistella«, sagt er und reicht mir eine Gabel. »Meine Mom hat es gemacht. Tut mir leid, dass es kalt ist. Es sollte eigentlich mein Abendessen sein. Es ist ein Auflauf mit Huhn …«

»… und wird mit Rosinen, Mandeln und Zimt gemacht. Ich kenne Bistella«, sage ich. »Ich wohne in der Nähe der Atlantic Avenue in Brooklyn. Da gibt’s ein marokkanisches Restaurant, ein syrisches, jemenitische und tunesische.«

Ich nehme einen Bissen. Es ist köstlich, und das sage ich ihm. Und nehme noch einen. Bistella ist mein Lieblingsessen. Ich greife noch einmal zu, als mir einfällt, dass ich schon zu Abend gegessen habe, er aber noch nicht.

»Ich muss dich was fragen«, sage ich und lecke mir die Lippen ab.

»Uhm?«, antwortet er kauend.

»Wann passiert es?«

Er schaut mich an, als wäre er total überrascht. »Wann passiert was?«

»Ho, ho, ho. Bald schon, richtig?«

»Ich hab keine Ahnung, was du meinst«, erwidert er, inzwischen lächelnd.

Ich sehe mich um, aber offensichtlich blicke ich in die falsche Richtung, weil er mich am Kinn fasst und vorsichtig meinen Kopf dreht. »Da«, sagt er und deutet mit der Hand nach Osten.

Und da sehe ich, warum er mich hierhergebracht hat. Ich sehe feurige Streifen in Rosa und Orange entlang des Horizonts. Ich sehe die ersten goldenen Strahlen der Sonne. Die vom Frost geküssten Dachspitzen von Paris, die glitzern, als wären sie mit Diamanten besetzt.

»O Virgil, das ist wunderschön«, flüstere ich. Weil ich nicht lauter sprechen kann.

»Ich dachte, es würde dir gefallen. Weil du gesagt hast, dass dir mein Song gefällt«, antwortet er ruhig. »Der über den Sonnenaufgang in Paris.«

Das alles hat er für mich getan. Die lange Fahrt hierher unternommen. Den Kaffee besorgt. Die Plane und die Decke mitgebracht. Alles für mich. Er hat die ganze Nacht gearbeitet und hätte nach Hause gehen und schlafen sollen. Stattdessen hat er mich hierhergebracht, damit ich den Sonnenaufgang erlebe.

Ich sollte etwas sagen. Ich sollte ihm danken, aber ich kann nicht. Ein dicker Kloß in meinem Hals lässt es nicht zu. Ich stehe auf, gehe zum Rand des Rasens, lehne mich an die Steinmauer und betrachte die glitzernde Stadt unter mir. Ich blicke auf ihn zurück: Er sitzt im Gras, das Gesicht in die Morgendämmerung erhoben, und ich wünschte, die Zeit würde stehen bleiben. Genau jetzt. Damit ich diesen Moment für immer festhalten könnte.

Als ich schließlich zu der Plane zurückgehe, klappern mir die Zähne. »Es ist umwerfend. Danke«, sage ich, setze mich wieder und lege die Decke um mich.

»Gern geschehen«, antwortet er.

Wenn er sich an mich heranmachen wollte, wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt. Aber er tut es nicht. Was vermutlich auch ganz gut so ist. Schließlich lebt er in Paris und ich lebe in Brooklyn. Ich fahre morgen weg. Und das war’s dann vermutlich.

Ich zittere wie verrückt. Die Sonne steht am Himmel, wärmt aber noch nicht. Ich greife nach der Thermoskanne und genau im selben Moment greift Virgil nach der Bistella, sodass wir heftig mit dem Kopf zusammenstoßen. Ich fluche und reibe mir die Stirn. Er auch. Dann muss ich lachen. Er auch. Und sein Gesicht ist ganz nahe an meinem. Und plötzlich lache ich nicht mehr. Weil er mich küsst.

Lilie  45   Lilie

Lippen und Atem. Sein Geruch, sein Geschmack, sein Körper. Seine nukleare Wärme. Das alles will ich, wie ich noch nie etwas gewollt habe.

Er macht sich los und sieht mich an. »Ich hoffe, das ist nicht zu kess für dich … mein Sohn«, sagt er mit einem Lächeln um den schönen Mund.

Ich ziehe sein Gesicht an meines. Ich will nicht, dass er redet. Ich will bloß, dass er mich wieder küsst. Ich drücke mich an ihn und kann unter meinen Händen sein heftig klopfendes Herz spüren.

So verweilen wir. Bis eine alte Dame, die ihren Hund spazieren führt, stehen bleibt, mit ihrem Stock auf den Boden klopft und uns wütend darauf hinweist, dass dies ein Haus Gottes sei.

Dessen bin ich mir bewusst. Absolut. Weil gerade ein Wunder geschehen ist.

Aber die Sonne ist aufgegangen, Leute spazieren den Weg entlang, helles Tageslicht breitet sich aus, und Rummachen in der Öffentlichkeit steht ganz oben auf meiner Liste abscheulicher Verbrechen. Also bleiben wir einfach ganz dicht aneinandergeschmiegt sitzen und schauen in den morgendlichen Himmel.

»Wann fährst du zurück?«, fragt er mich. Obwohl er es weiß.

»Morgen Abend«, antworte ich.

»Ich ruf dich an.«

Darüber lache ich. Nicht fröhlich.

Seitdem ich hier angekommen bin, wollte ich zurück. Jetzt nicht mehr. Ich möchte nicht weg aus Paris. Von diesem Ort. Von ihm. Und das tut weh. Sehr sogar.

Stoß ihn weg, sagt eine Stimme in mir. Bevor es noch mehr weh tut.

»Ich möchte nicht, dass du mich anrufst«, sage ich. »Ich möchte dich, so wie du jetzt hier bist, keine beschissene Telefonbeziehung.«

»Warum kannst du nicht bleiben?«

»Es geht einfach nicht. Es gibt Schwierigkeiten bei mir zu Hause. Mit meiner Mutter. Es ist kompliziert.«

»Was ist denn? Was ist los?«

Wie kann ich es ihm erklären? Wie? Ich habe der Polizei berichtet, was passiert war. Und meinen Eltern. Und dann nie wieder darüber gesprochen. Mit niemandem. Weder mit Nick noch Dr. Becker. Nicht einmal mit Vijay oder Nathan. Ich kann es nicht. Es geht einfach nicht.

»Ich muss los«, sage ich abrupt. »Ich muss zurück sein, bevor mein Vater aufwacht und sich fragt, wo zum Teufel ich stecke.« Ich schraube die Thermoskanne zu. Wickle den Rest der Bistella ein und stecke sie in seine Tasche. Dann falte ich die Decke zusammen und drücke sie an die Brust. »Ich muss wirklich los«, sage ich erneut. »Jetzt.« Wir beide hören den Schmerz in meiner Stimme.

»Du bist so traurig, Andi. So wütend. Das sieht man in deinem Gesicht. In deinen Augen. Man hört es in jedem Wort, das du sagst. In jeder Note deiner Musik. Was zum Teufel ist dir passiert?«

»Nichts«, sage ich. »Lass es einfach.«

»Was soll ich lassen? Mir Gedanken zu machen? Dich hierher zu bringen? Ich soll dich küssen, mir aber keine Sorgen um dich machen?«, fragt er.

Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte weg, dann bleibe ich stehen und schlage die Hände vors Gesicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich möchte ihn ja nicht wegstoßen, ihn nicht verletzen. Jeden anderen in der Welt, aber nicht ihn. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Darüber zu sprechen, würde mich umbringen. Ganz sicher. Allein darüber nachzudenken, hat mich fast umgebracht.

Ich gehe zu ihm zurück, knie mich auf die Plane und nehme seine Hände in die meinen. »Ich bin mehr als traurig. Mehr als wütend, Virgil. Es ist viel schlimmer. Und du möchtest nicht wissen, was passiert ist. Das musst du mir glauben.«

»Andi …«

»Bitte, Virgil. Bitte bring mich einfach heim.«

Inzwischen stehen mir Tränen in den Augen. Er wischt sie mit seinem Ärmel weg.

»Okay«, sagt er, und ich sehe den Schmerz in seinen eigenen Augen. »Wenn es das ist, was du willst. Gehen wir.«

Lilie  46   Lilie

»Warte«, sagt Virgil.

Er zieht den Stecker aus dem Armaturenbrett und reicht mir meinen iPod. Wir sitzen in seinem Wagen vor G.s Haus.

»Danke«, sage ich und nehme den iPod. Aber ich meine es nicht so. Ich bin nicht dankbar. Ich will ihn nicht zurück. Es bedeutet das Ende meiner nächtlichen Anrufe bei ihm. Und seiner frühmorgendlichen bei mir. Das Ende der Songs und Schlaflieder. Das Ende des einzigen Glücks, das ich in den letzten zwei Jahren hatte.

»Ruf mich an, okay?«, sagt er.

Ich stelle mir vor, wie es ist, ihn von New York aus anzurufen. Seine Stimme, sein Reden, sein Lachen zu hören, dann nach ein paar Minuten aufzulegen und mich noch tausendmal einsamer zu fühlen als zuvor.

»Sicher«, sage ich.

Ich öffne die Tür, um auszusteigen, aber er greift nach meiner Hand und hält mich fest.

»Als wäre es nicht schon schwer genug«, sage ich mit brechender Stimme.

Er lehnt seine Stirn gegen die meine, dann lässt er mich los.

Lilie  47   Lilie

Mein Vater sitzt angezogen am Tisch und frühstückt. Er blickt von seinem Laptop auf, als ich hereinkomme.

»Andi?«, sagt er. »Ich dachte, du wärst in deinem Zimmer. Würdest schlafen. Wo bist du gewesen?«

»Ich war draußen, um den Sonnenaufgang zu betrachten.«

Er sieht mich an, als hätte ich gesagt, ich sei gerade in Harvard aufgenommen worden.

»Wirklich?«, fragt er.

»Wirklich.«

»Das ist schön, Andi. Ich bin froh, dass du das getan hast.«

»Ja, es war schön.«

Es war das Schönste und Wunderbarste, was mir je passiert ist. Und jetzt ist es vorbei. Und ich möchte nichts anderes, als mich in mein Bett legen und fest zusammenrollen.

»Ich hab Croissants geholt«, sagt er. »Möchtest du eins? Es gibt auch Kaffee.«

»Nein, danke, Dad. Ich bin total müde. Ich denke, ich leg mich hin. Schlaf noch ein wenig. Ich muss heute in Malherbeaus Haus. Noch ein bisschen an meinem Entwurf arbeiten. Heute Abend kann ich ihn dir zeigen. Und die Gliederung auch. Bist du dann hier?«

»Ja, ich werde hier sein. Es wird ein bisschen später – ich hab den ganzen Tag im Labor zu tun, und dann ist noch ein Dinner –, aber ich werde hier sein. Meinst du es ernst, Andi?«

»Ob ich was ernst meine?«

»Bist du wirklich heute Abend mit dem Entwurf und der Einleitung fertig?«

»Ja. Ich hab’s schon fast. Aber ich könnte noch etwas Bildmaterial zu Malherbeau gebrauchen. Deswegen gehe ich zu seinem Haus.«

»Das sind großartige Neuigkeiten. Ich bin stolz auf dich. Vielleicht war die Reise doch keine so schlechte Idee.«

Ich lächle ihn an. Was mich meine letzte Kraft kostet. »Ja, vielleicht«, antworte ich.

Ich gehe in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir und setze mich aufs Bett. Dann öffne ich meine Tasche und nehme mein Handy heraus. Ich werde ihn anrufen. Ihm sagen, dass ich mich getäuscht habe. Dass ich eine Möglichkeit finden will.

Aber dann fällt mir ein, was er gesagt hat – dass ich traurig und wütend sei –, und ich weiß, dass er nicht mal einen Bruchteil meines Elends gesehen hat. Wie soll ich ihm von dem Schmerz erzählen? Von den Pillen, die ich wie Smarties einwerfe? Wie soll ich ihm sagen, wie schwer es mir manchmal fällt, von Flussufern und Dachrändern fernzubleiben? Wie soll ich ihm sagen, was passiert ist?

Ich kann es nicht, also tue ich es nicht.

Ich lege mich hin und versuche zu schlafen, aber auch das gelingt mir nicht, weil ich ständig an ihn denken muss. Also beschließe ich, mir, um endlich einzuschlafen, ein paar Songs anzuhören – was ja jetzt wieder möglich ist, weil ich meinen iPod zurückhabe –, aber dann wird mir klar, dass die Musik mich nur noch mehr an Virgil denken lässt.

Ich greife auf den Nachttisch nach Alex’ Tagebuch.

16. Mai 1795

So viele Tote um mich herum.

Sie stoßen und drängeln in den Straßen wie Hausfrauen am Markttag, wandern schweigend und einsam am Flussufer entlang. Sie suchen die Orte und die Menschen heim, die sie einst glücklich gemacht haben.

Sehen Sie die Kinder der Noailles, die mit ihrem Lehrer spazierengehen? Es ist kein Windhauch, der das Haar des kleinen Mädchens zerzaust, sondern der Atem des Geists seiner Mutter. Und dort, auf dem Königinnenweg, sehen Sie die Rosenbüsche erzittern? Marie Antoinette ist wieder mit ihren Röcken hängen geblieben. Sehen Sie dort, im Café Foy. Sehen Sie den Schatten im Fenster? Es ist Desmoulins. Vor langer Zeit sprang er auf einen Tisch und drängte die Bürger von Paris, die Bastille zu stürmen. Jetzt steht er draußen, presst die Hände gegen die Scheibe und weint.

Da ist Mirabeau, der donnernde Reden hielt, mit Edelsteinen besetzte Knöpfe an seinem Rock trug, während die Kinder von Paris in Lumpen gingen. Und Danton, unsere letzte Hoffnung, der lachend aufs Schafott stieg. Und Robespierre, der Unbestechliche, der es so liebte, uns die Köpfe abzuschlagen, damit wir nicht von zu vielen Gedanken belästigt wurden.

Können Sie sie nicht sehen?

Spät letzte Nacht, als ich mit meinen Raketen draußen war, sah ich noch jemanden. Keine dem Untergang geweihte Königin, keinen feurigen Rebellen, sondern jemanden, der mich einst geliebt hatte – meine Großmutter. Sie saß unter einer Straßenlaterne, in der einen Hand eine Nadel, in der anderen den Faden.

Gott braucht mich, Alex, sagte sie. Die Engel haben keine Köpfe. Und selbst wenn es die ganze Ewigkeit dauert, werde ich jeden einzelnen Kopf wieder annähen, den dieser wirre Mistkerl Robespierre abgeschlagen hat. Weder Schleifen noch Halsbänder werden nötig sein, wenn ich fertig bin. Es gibt niemanden in Paris, der so perfekte Nähte machen kann wie ich.

Haben sie goldenen Faden im Himmel, Großmutter?, fragte ich.

Gute Arras-Seide ist alles, was ich brauche.

Zu ihren Füßen stand ein Korb. Sie griff hinein und nahm den Kopf einer jungen Frau heraus, einer Marquise. Sie hatte Bourbonen-Weiß bei ihrer Hinrichtung getragen, jetzt aber trug sie die Trikolore – weiße Wangen, blaue Lippen, rotes Blut, das von ihrem Hals tropfte. Lang lebe die Revolution.

Als Nächstes ist dein Kopf dran, sagte meine Großmutter, der wie eine schmutzige Rübe in den Korb fallen wird.

Nur, wenn sie mich kriegen.

Das werden sie, sagte ein anderer. Du kannst ihnen nicht ewig entkommen.

Der Herzog von Orléans. Seit zwei Jahren tot, aber immer noch glanzvoll in Seide und Spitze. Er ging zum Schafott wie zu einem Ball.

Ich werde sie alle überleben, erwiderte ich. Habe ich nicht auch Sie überlebt?

Geh. Schnell. Bevor die Wache dich sieht.

Ich kann nicht. Ich habe am Turm zu tun.

Das ist Wahnsinn! Was glaubst du, was du hier aufführst?

Tragödie, mein Herr. Wie Sie befahlen.

Und dann, als rezitierte ich Shakespeare in den Höfen des Palais, begann ich mit meiner schönsten Bühnenstimme …

Still! Seid alle still! Setzt euch und seid still.

Schickt Euren Lakai, mehr Austern zu holen, wenn’s Euch beliebt. Zwinkert Eurer Mätresse zu, pisst auf den Boden, und lasst es dann gut sein. Denn dies ist ein Prolog, in dem ich Kunde tue von dem, was kommen wird. Eine Tragödie in fünf Akten – Revolution, Konterrevolution, ein Teufel, der Terror, der Tod.

Hört jemand zu, oder verschwende ich meinen Atem?

Der Junge ist am Ende, sagte der Herzog von Orléans. Lass ihn sterben. Oder du stirbst.

Er lebt, Monsieur!, rief ich.

Wer ist da? bellte eine Stimme vom anderen Ende der Straße. Kein Geist diesmal, und ließ die anderen verstummen. Wer bist du? Sprich!

Ich bin LeMieux’ Magd, Bürger! schrie ich. Aus der Rue Charlot. Ich bringe seinen kleinen Sohn zum Arzt. Seine Frau ist heute Nachmittag gestorben. An Auszehrung. Wir fürchten das Kind hat sie auch. Sehen Sie … sehen Sie hier …

Ich lief auf ihn zu, als wäre ich schon eine Meile gerannt, stolpernd und außer Atem. Zu viel des Guten. Wie immer, wenn ich Angst habe. Ich stellte meine Laterne ab, griff in meinen Korb und tat so, als würde ich die Tücher zurückschlagen. Sie waren mit roten Flecken besät. Ich hatte mir kurz zuvor mit einem Schälmesser die Hand aufgeschnitten und das Blut auf die Tücher tropfen lassen.

Der Mann wich zurück aus Angst vor Ansteckung. Verschwinde! Auf der Stelle!, sagte er und scheuchte mich weiter. Lang lebe die Republik!

Lang lebe die Republik!, antwortete ich und hastete an ihm vorbei.

Flüsternd redete ich auf das Baby ein, als ich durch die dunkle Straße ging, aber es gab keine Antwort. Es konnte nicht, denn es war nicht aus Fleisch und Blut. Es war aus Kohle und Pulver. Aus Papier und Baumwolle und Wachs.

In der Rue Charlot steht ein Haus. Mit dem Schlüssel, den ich der Tochter des Eigentümers für zwei Silberlöffel aus dem Besitz des Herzogs abgekauft hatte, verschaffte ich mir Einlass in den Hof.

Ich stieg die Steintreppe hinauf, immer höher und höher. Am Ende ist eine schmale Tür. Ich knotete meine Röcke zusammen und schlüpfte aufs Dach hinaus. Das Dach ist sehr steil. Wie ein Käfer bewegte ich mich voran, schob meinen Korb vor mir her und hielt mit den Zähnen den Henkel der Lampe fest. Unterhalb vom First ist eine Reihe Kamine. Ich lehnte mich dagegen und nahm das Tuch von meinem Korb.

Es lagen zwei Dutzend Raketen darin und zwei Dutzend Stäbe, um sie aufzustellen. Ich beugte mich zu meiner Lampe hinunter, steckte die Raketen auf die Stäbe und lehnte sie an einen Kamin.

In der Dunkelheit konnte ich den Turm nicht sehen. Aber ich wusste, dass er dort war. Und ich wusste, dass das Kind dort war – gebrochen und allein.

Eine Kirchturmuhr schlug zwei. Ich wischte mir über die Augen. Tränen hatten das Pulver befeuchtet.

Ich nahm die erste Rakete und rammte den Stab in eine Spalte zwischen den Ziegeln. Dann nahm ich eine Kerze aus dem Korb, hielt den Docht in eine Flamme und dann an die Zündschnur der Rakete. Die Rakete puffte. Sie knisterte und knackte und hob dann mit lautem Zischen ab.

Ich wartete mit fest gefalteten Händen, und kurz darauf ertönte ein ohrenbetäubender Knall, lauter als Kanonendonner. Fenster zerbrachen. Vögel flogen schreiend von ihren Ästen auf. Eine Frau kreischte. Und plötzlich war die schwarze Nacht besiegt, von grellem Lichterstrahl bezwungen.

Ich packte eine weitere Rakete. Rammte den Stab in die Ziegel. Hielt das Feuer an die Zündschnur. Und dann die nächste. Eine nach der anderen, so schnell ich konnte.

Ich kann dir keine Lieder mehr singen, Louis Charles, sagte ich. Keine Spiele mehr mit dir spielen. Aber ich kann dir das schenken – dieses Licht.

Ich werde Gold und Silber für dich regnen lassen. Ich werde die schwarze Nacht zersprengen, sie aufreißen und Millionen Sterne ausgießen. Die Dunkelheit, den Wahnsinn, den Schmerz verscheuchen.

Mach deine Augen auf. Und du weißt, dass ich hier bin. Dass ich mich erinnere und hoffe.

Öffne deine Augen und sieh ins Licht.

18. Mai 1795

Heute Nacht wage ich nicht auszugehen. Bonaparte hat die Patrouillen verdoppelt, in der Hoffnung mich zu erwischen. Er ist wütend wegen meines letzten Feuerwerks. Zu Recht, denn es war großartig. Aber ich darf mich nicht gefangen nehmen lassen. Ich werde warten. Ich werde an meinem Tisch im Foy sitzen, als Gast der eine Suppe löffelt – der Inbegriff eines gesetzestreuen Bürgers –, und schreiben.

Jetzt springe ich zurück ins Jahr 1791. In die Tuilierien. Nachdem er fast zwei Jahre dort verbracht und zugesehen hatte, wie die Revolutionäre immer stärker wurden, beschloss der König, aus dem Palast, aus Paris und vor seinem Volk zu fliehen. Sobald der Sommer gekommen, der Regen vorbei und es auf den Straßen trocken wäre. Er wollte nach Montmédy an der Grenze der österreichischen Niederlande. Und dort mithilfe des loyalen Marquis de Bouillé Truppen sammeln.

Der König und seine Familie würden Paris bei Nacht und Nebel verlassen. Madame de Tourzel, die königliche Erzieherin, sollte sich als russische Aristokratin ausgeben, Louis Charles und seine Schwester als ihre Kinder. Die Königin wollte die Rolle der Gouvernante spielen und der König sich als Diener verkleiden. Das Ganze wurde mithilfe des Bruders der Königin, Leopolds von Österreich, des schwedischen Botschafters Graf Fersen, einer Handvoll Kammerzofen und Wachen und mit meiner Unterstützung arrangiert.

Den ganzen Frühling 1791 hindurch trug ich Münzen und Juwelen, in Stoff gewickelt und in meinen Reithosen verborgen, zu einem Kutschenmacher. Einem Stallknecht. Einer Näherin. Ich schmuggelte ein schlichtes schwarzes Kleid für die Königin in den Palast, eine Leinenweste für den König, ein Gewand für Louis Charles, der als Mädchen verkleidet werden sollte. Ich wusste nicht, wann sie abreisen würden. Das war nur einem kleinen Kreis bekannt.

Sag niemandem, was du tust, ermahnte mich die Königin, nicht einmal unseren treuesten Anhängern, denn eine Zofe oder ein Kammerdiener könnte dich belauschen. Die Spione sind überall. Versprich mir, dass du dich daran hältst. Unser Leben hängt davon ab. Sie nahm eine Bibel und bat mich, die Hand darauf zu legen. Schwöre es mir, sagte sie, bei Gott.

Ich zitterte innerlich. Wie sollte ich das tun? Wie konnte ich Gott einen Eid schwören und verschweigen, dass ich dem Teufel versprochen hatte, ihm alles zu berichten? Doch wenn ich mich weigerte, würde die Königin mich als Spionin entlarven.

Einen musste ich belügen – aber wen? Den Herzog oder die Königin? Falls der Herzog von Orléans herausfand, dass ich ihn belog, würde ich dafür bezahlen müssen. Falls die Königin meine Lüge durchschaute, würde ich ihre Gunst verlieren. Sie war jetzt eine Gefangene und besaß nicht mehr ihre frühere Macht, aber das bliebe vielleicht nicht immer so.

Ich legte die Hand auf die Bibel und schwor den Eid. Ich hatte mir überlegt, was zu tun wäre. Wenn sich die Nachricht von der Flucht des Königs verbreitete, würde mich Orléans in die Mangel nehmen. Ich würde mich genauso entsetzt geben wie er selbst und behaupten, ich hätte nichts davon gewusst, nichts gesehen, nichts gehört. Ich würde sagen, der König und die Königin seien höchst verschwiegen vorgegangen, und falls Teile der Dienerschaft in ihren Plan eingeweiht gewesen wären, so seien sie sehr gut bezahlt worden, weil keiner ein Sterbenswörtchen hatte verlauten lassen.

Damit käme ich durch, sagte ich mir. Ich war schließlich Schauspielerin. Der Herzog von Orléans würde mir glauben. Vielleicht würde er mich auch gar nicht befragen. Nachdem er dem König nur das Beste wünschte, wie er behauptete, wäre
er wahrscheinlich nur allzu froh, dass dieser und seine Familie entkommen waren.

Nacht für Nacht traf ich den Herzog in seinen Gemächern, um meine Berichte abzuliefern, und log ihn an. Genau wie die anderen: Desmoulins und Marat, Danton, Robespierre, Collot d’Herbois, d’Églantine und ihre Schlägertruppen – ein umherziehender Haufen jakobinischer Banditen, unter ihnen Santerre, ein Brauer aus Saint-Antoine, Fournier, ein bankrotter Rumhersteller aus Santo Domingo, der bei jeder Demonstration und jedem Aufstand dabei war, und Rotonde, ein Englischlehrer, der im Club der Jakobiner herumstrich, wenn Robespierre redete, und sich jeden merkte, der spottete oder mit Zwischenrufen störte, damit er ihn später zusammenschlagen konnte.

Die Gegenwart dieser Männer beunruhigte mich. Ich verstand nicht, warum der Herzog von Orléans sie freihielt. Er, der angeblich dem König helfen wollte, saß mit den Männern zusammen, die allesamt Könige abschaffen wollten? Warum gab er ihnen Essen und Trinken und manchmal Gold? Mein altes Misstrauen kehrte zurück, und ich fragte mich, ob er aufrichtig gewesen war, als er gesagt hatte, er wolle nichts anderes, als dem König beizustehen. Er musste mein Unbehagen gespürt haben, denn einmal, nachdem Danton gegangen war, legte er mir den Arm um die Schultern und sagte: Vergiss nicht, kleiner Spatz, der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Ich verstand. Er wollte den einen gegen den anderen ausspielen und sich damit einen Vorteil verschaffen. Seine Worte beruhigten mich etwas. So hatte ich eine Sorge weniger, wobei mir immer noch mehr als genug blieben. Es bedurfte all meiner Schauspielkunst, um mit gelassener Stimme zu sprechen und nicht an allen Gliedern zu zittern, wenn ich dem Herzog meine Lügen auftischte. Ich hatte seinen Zorn schon einmal zu spüren bekommen, und so würde es mir wieder ergehen, wenn er mein falsches Spiel entdeckte. Später, wenn ich hoch über seinen Gemächern allein in meiner Mansardenkammer war, übergab ich mich oft in meine Waschschüssel aus Angst davor.

Ich hatte mir eine Bühne gewünscht. Rollen. Der Herzog von Orléans gab sie mir – Junge, Spion, Diener, Bastard, Royalist, Rebell, Patriot, Jakobiner. Ich spielte sie alle. Es gab Tage, da klopfte sein Diener, ein alter Mann namens Nicolas, an meine Tür, um mich aufzuwecken, und ich sprang verängstigt und mit trüben Augen aus dem Bett und wusste nicht, wo ich war.

Sobald meine Hände nicht mehr zitterten, wusch ich mein Gesicht, schnürte meine Brüste platt und zog mich an. Ich aß die Brötchen mit Butter und Marmelade und trank den Kaffee, den Nicolas vor meiner Tür abgestellt hatte, und machte mich dann auf zu den Tuilerien.

Auf dem Weg las ich die Bekanntmachungen und hörte, wie die Zeitungsjungen die neuesten Nachrichten ausriefen. Diese waren wie immer – schlecht. Der Winter war wieder hart. Die Seine mit dickem Eis bedeckt. Am Stadtrand wurden Wölfe gesehen. Die Arbeiter in den Provinzen streikten. Österreich und England drohten wegen der Inhaftierung des Königs in den Tuilerien mit Krieg.

An den Abenden ging ich in die politischen Clubs – zu den Cordeliers und den Jakobinern – wie der Herzog von Orléans mir befohlen hatte, und hörte die Reden von Danton und Robespierre. Auf dem Heimweg drückten mir zerlumpte Männer Pamphlete mit Bildern in die Hand, die den König und die Königin als Ziegen oder Schweine zeigten, die Frankreich verschlangen. Die Ernte sei gut gewesen dieses Jahr, sagten die Verfasser der Pamphlete, also warum gab es kein Korn zu kaufen? Weil der König heimlich angeordnet hätte, es zurückzuhalten, um Paris auszuhungern und so fügsam zu machen. Die königlichen Rechnungsbücher seien veröffentlicht worden, las ich. Der König habe letztes Jahr achtundzwanzig Millionen Livres für die Spielschulden seines Bruders ausgegeben. Er habe große Summen in die eigenen Taschen gesteckt, während die Kinder Frankreichs nach Brot schrien.

An den meisten Tagen wusste ich nicht, wer ich war, aber eines wusste ich ganz genau – für den König standen die Dinge nicht gut.

Als ich am zwanzigsten Juni in die Tuilerien kam, spürte ich sofort, dass etwas im Gange war. Die Königin war bleich und aufgewühlt. Madame Elizabeth gereizt. Der König aß nichts.
In dem Moment wusste ich, dass sie in dieser Nacht aufbrechen würden, und bei dem Gedanken packte mich kalte Angst.

Waren sie sich überhaupt im Klaren darüber, was sie vorhatten? Hatten sie die Bastille vergessen? Den Marsch nach Versailles? Und wie gern der Pariser Mob Köpfe abschlug? Hatten sie die Gemeinheiten und Drohungen nicht gehört, die ihnen durch die Tore der Tuilerien zugerufen wurden? Hatte ihnen niemand von den Reden in den Markthallen berichtet, wo Fischweiber versprachen, ihnen die Leber herauszureißen und sie zu verspeisen?

Die Palastmauern, die sie gefangen hielten, hielten auch die raue Welt von ihnen ab. Und jetzt würden sie hinaustreten, geradewegs mitten hinein in diese Welt, diese unbedarften Menschen mit ihren weißen Händen, ihren zarten Füßen und sanften Worten. In Montmédy wären sie sicher, aber dorthin mussten sie erst einmal kommen.

An diesem Tag war ich sehr zärtlich zu Louis Charles, trotzte dem Zorn der Kammerzofen und stahl Laken, um Burgen für ihn zu bauen. Ich stibitzte seine süßen Leibspeisen aus der Küche. Überredete ihn am Abend, möglichst viel von dem Beefsteak zu essen, damit er sich stärkte für das, was vor ihm lag.

An diesem Abend half ich ihm beim Waschen, zog ihm sein Nachtgewand an, und nachdem er seine Eltern, seine Tante und seine Schwester geküsst hatte, brachte ich ihn zu Bett. Er war beklommen, kam nicht zur Ruhe und verlangte viele Geschichten von mir.

Verlass mich nie, Alex, sagte er, nachdem ich mit der letzten Geschichte, der von der weißen Katze, geendet hatte. Das hast du mir versprochen.

Das werde ich nicht, Louis Charles, antwortete ich, aber es könnte der Tag kommen, an dem du mich verlässt.

Niemals. Ich werde dich nie verlassen. Und wenn ich König bin, mache ich dich zu meinem höchsten Minister, damit du immer bei mir bist.

Ich musste lächeln und erinnerte ihn, dass ich unter meiner Kammerdieneruniform nur ein Mädchen war und Mädchen niemals Minister werden konnten. Dann sagte ich ihm, dass er jetzt ruhen müsse, sonst würde sich seine Mutter sorgen. Nachdem er eingeschlafen war, packte ich leise seine Lieblingssoldaten und -pferde, sein Lotto- und Schachspiel in ein kleines Holzkästchen und legte es an das Fußende seines Bettes, in der Hoffnung jemand würde es sehen und mitnehmen, damit der Junge auf der langen Reise einen Zeitvertreib hätte.

Gute Nacht, Alex, murmelte er, als ich das Zimmer verließ. Gott beschütze dich.

Gott würde mich nicht beschützen. Das wusste ich. Denn ich hatte mich auf die andere Seite geschlagen. Doch um Louis Charles’ willen, drehte ich mich an der Tür um und flüsterte, Gott beschütze dich auch, kleiner Prinz. Gott sei mit dir.

20. Mai 1795

Es war früher Morgen. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Ich befand mich in meiner Kammer und kleidete mich gerade an. Plötzlich lag ich auf dem Boden und der Herzog von Orléans stand über mir. Seine Schläge waren so hart, dass sich noch tagelang der Abdruck seines Rings auf meiner Wange abzeichnete.

Wo sind sie?, schrie er. Wo sind sie hin?

Wer?

Du hältst mich wohl für einen Narren?, bellte er und schlug mich erneut.

Bitte hören Sie auf!, flehte ich weinend und versuchte, von ihm weg zu kriechen.

Sie sind fort, alle! Während der Nacht geflohen. Du hast gewusst, was sie vorhatten, und mir nichts gesagt!, schrie er.

Ich wusste nichts!, log ich.

Sie hatten Komplizen. Sie müssen welche gehabt haben. Sicher gab es Briefe, Schmiergeld. Du musst etwas gesehen haben.

Ich habe Ihnen alles berichtet, was ich sah. Das schwöre ich!

Es gab weitere Schläge, so heftige Prügel, dass ich ihm schließlich die Wahrheit sagte. Über die Pläne des Königs und sein Reiseziel. Und wie die Königin mich schwören ließ, Stillschweigen zu bewahren.

Du verdammter Dummkopf!, schrie er mich an. Was hast du getan? Er packte mich an meiner Jacke und riss mich hoch, bis mein Gesicht nur noch ein paar Zentimeter von dem seinen entfernt war. Bete, dass sie gefangen werden, kleiner Spatz, sagte er. Bete so inständig, wie du noch nie in deinem ganzen elenden Leben gebetet hast.

Er ließ mich los, und ich fiel auf den Boden zurück. Ich konnte nichts sehen, weil mir das Blut in die Augen lief, aber ich hörte ihn hinausgehen. Es tat weh, mich zu bewegen, zu atmen, zu denken. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden gelegen hatte, als ich schließlich Schritte hörte.

Arme Schauspielerin, sagte eine Stimme an der Tür. Mein Herr hat dir übel mitgespielt.

Es war Nicolas, der alte Diener. Er stellte eine Wasserschüssel neben mir ab und wrang einen Lappen aus. Ich schrie auf, als er mir das Blut vom Gesicht wischte.

Die Dinge stehen schlecht für den Herzog, sagte er. Der König ist verschwunden und mit ihm die Hoffnungen des Herzogs.

Für mich stehen die Dinge noch weitaus schlechter …

Der Herzog ist wütend, und er hat allen Grund dazu. Wenn der König Österreich erreicht, wird er eine Armee aufstellen und Frankreich zurückerobern.

Warum freut er sich dann nicht? Er sagte doch, dass er dem König helfen will? Was wäre besser als dessen Freiheit?

Nicolas lachte.

Ich verstehe nicht, was daran komisch sein soll, sagte ich.

Nein, das tust du nicht, und deshalb benutzt er dich. Du bist blind, Kind. Allem blind gegenüber, außer deinem Ehrgeiz. Der Herzog von Orléans ist der nächste in der Thronfolge, sollte die Linie des Königs aussterben. Hast du das etwa nicht gewusst?

Ich hatte es nicht gewusst, und es interessierte mich auch nicht. Ich hörte nicht mehr zu. Ich hatte genug. Genug vom Herzog. Genug von Nicolas. Ich versuchte aufzustehen.

Was hast du vor?, fragte der Alte.

Den Palast zu verlassen. Und den Teufel von Orléans. Jetzt, da der König fort ist, hat er ohnehin keine Verwendung mehr für mich.

Nicolas packte mich am Arm. Mittlerweile lachte er nicht mehr. Hör mir zu, Kind, sagte er. Geh nicht von hier weg, außer du kannst sehr weit fortgehen und sehr schnell.

Er nahm die Schüssel, goss das blutige Wasser aus dem Fenster und verließ mich. Ich sank auf den Boden zurück. Stunden später, als ich wieder stehen konnte, humpelte ich zu meinem Bett. Einige Tage darauf ging meine Tür auf und der Herzog von Orléans trat herein. Er rümpfte die Nase über den Gestank in meiner Kammer.

Sie wurden gefangen. Pech für sie. Glück für dich, sagte er und warf frische Kleider auf mein Bett. Wasch dich und mach dich wieder an deine Arbeit. Und, kleiner Spatz …

Ja?

Lüg mich noch einmal an und du wirst nicht in dein Bett kriechen, wenn ich mit dir fertig bin, sondern in dein Grab.

Ich schließe das Tagebuch und starre an die Decke.

Ich sehe Alex zusammengeschlagen und blutend auf dem Boden ihrer Kammer liegen.

Ich sehe Louis Charles in seiner kalten, dunklen Zelle.

Ich sehe Truman zum Abschied winken.

Ich sehe meine Mutter auf dem Rand ihres Klinikbettes sitzen.

Ich sehe einen schäbigen blauen Renault davonfahren. Ich sehe, wie er am Ende der Straße um eine Ecke biegt und verschwindet.

Dann lege ich das Tagebuch weg und werfe drei Qwells ein. Weil eine nicht ausreicht, um den kommenden Tag durchzustehen, geschweige denn den Rest meines Lebens.

Lilie  48   Lilie

Amadé Malherbeau war ein Rockstar.

Ich stehe vor seinem Porträt, das Jean-Baptiste Greuze 1797 gemalt hat, aber ich könnte auch ein Foto von Mick Jagger betrachten, das Annie Leibowitz 1977 aufgenommen hat. Malherbeau trägt ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Sein langes dunkles Haar fällt ihm über die Schultern. Er hat volle Lippen, ausgeprägte Wangenknochen und dunkle, eindringliche Augen. Ich habe Reproduktionen des Porträts in Büchern gesehen, aber sie sind nichts im Vergleich zum Original.

Er sitzt in einem Sessel mit einer roten Rose in der Hand. Ein Dorn an ihrem Stiel hat ihn gestochen. Blut tropft von einem seiner Finger. Neben ihm steht ein Tisch, darauf zwei gerahmte Miniaturen, die einen Mann und eine Frau zeigen. Der Mann hat dunkles Haar und dunkle Augen. Die Frau ist blond und schön. Auch sie halten Rosen in den Händen.

Ein Schild an der Wand erklärt, bei den Personen auf den Miniaturen handle es sich wahrscheinlich um Malherbeau und eine Frau, die er liebte. Da Malherbeau nie verheiratet war, wurde die Beziehung wahrscheinlich gelöst. Diese Annahme werde durch die Rosen auf den Miniaturen und die Rose in Malherbeaus Hand gestützt, die sich als eine Schönheit interpretieren ließ, deren Dornen ihn verletzten.

Ich sehe mir die Rose in seiner Hand genauer an – die Art, wie die Blütenblätter gemalt sind, die Größe des Dorns – und könnte schwören, sie schon einmal gesehen zu haben, weiß aber nicht mehr, wo. Ich trete zurück und lichte das Porträt ab. Dann gehe ich weiter, fotografiere die Wände mit den verblichenen handbemalten Tapeten und den alten Damastvorhängen sowie den Blick aus den Fenstern.

Ich komme nur schwer voran, weil ich das Gefühl habe, meine Füße wund gelaufen zu haben. Die Wirkung der Qwells hat heute Morgen eingesetzt. Ich habe ein wenig geschlafen, es dann gegen Mittag geschafft, aus dem Bett zu kriechen, zu duschen und mich quer durch Paris zum Bois de Boulogne zu schleppen. Ich habe versprochen, meinem Vater heute Abend die Skizze meiner Abschlussarbeit zu präsentieren, und das habe ich ernst gemeint. Morgen werde ich ins Flugzeug steigen. Bis dahin muss ich nichts weiter tun, als einen Fuß vor den anderen setzen.

Seit einer Stunde bin ich inzwischen hier und mache Fotos für meine Arbeit. Das Personal hat nichts einzuwenden gegen Kameras, so lange man kein Blitzlicht benutzt. Ein Teil des Erdgeschosses – der alte Ballsaal – wurde in einen Konzertsaal umgewandelt, der Rest beherbergt die Ausstellung von Malherbeaus Hinterlassenschaften. Bis jetzt habe ich eine Vihuela, eine Barockgitarre und eine Mandoline fotografiert, die dem Meister gehörten, sowie Kleidung, Möbel, mehrere Kaffeekannen, Notenblätter und Statuen.

Ich wandere von Raum zu Raum und knipse weiter. Als ich erneut an dem Portrait vorbeigehe, fällt mir plötzlich wieder ein, wo ich die Rose schon einmal gesehen habe – auf einem Wappen in G.s Haus. G. sagte, es sei sehr alt und habe den Grafen von Auvergne gehört. Die Worte, die darauf geschrieben standen, lauteten: Aus dem Blut der Rose wachsen Lilien.

Ich frage mich, ob es irgendeine Verbindung geben könnte. Wahrscheinlich nicht. Wie sollte die auch aussehen? Höchstwahrscheinlich war Malherbeaus Rose das traurige Symbol einer verlorenen Liebe. Wie das Schild besagte.

Mein Blick wandert von der Rose zu Malherbeaus Augen, die so dunkel und gequält wirken. Ich kann es ihm nachfühlen. Ich habe Mitleid mit ihm. Er wirkt so gar nicht wie der geniale Komponist. Eher wie ein unglücklicher Liebhaber. Ich frage mich, ob ihn ein gebrochenes Herz zu seiner erstaunlichen Musik inspiriert hat. Und was zwischen ihm und der blonden Frau wohl schief gelaufen ist.

Vielleicht hatten sie Streit. Vielleicht hatte sie sich in einen anderen verliebt. Vielleicht mochte ihr Dad keine Musiker. Vielleicht lebte sie in Brooklyn.

»In Kürze beginnt ein Kammerkonzert, Mademoiselle«, sagt jemand vom Personal zu mir. »Eines unserer Samstagnachmittagskonzerte. Wenn Sie zuhören möchten, gehen Sie bitte nach oben und nehmen Sie Platz.«

Ich sehe auf die Uhr – es ist vier – und lehne ab. Ich würde wirklich gern zuhören, aber ich muss zu G.s Haus zurück. Es liegt immer noch eine Menge Arbeit vor mir.

Ich werfe einen letzten Blick auf Malherbeau. So viel Traurigkeit in diesen Augen. Und so viel Musik. »Ich wünschte, ich wüsste, was dir widerfahren ist«, sage ich flüsternd.

Ich gehe zur Tür und trete hinaus. Als ich sie hinter mir schließe, beginnt eine einsame Gitarre zu spielen.

Lilie  49   Lilie

Fast fertig. Fast geschafft.

Das Porträt auf meinem Bildschirm wird langsam ausgeblendet. Malherbeaus Konzert in a-Moll spielt weiter. Textzeilen tauchen auf:

… und Malherbeaus Vermächtnis – das seiner Zeit verpflichtet und dennoch zeitlos ist – hallt durch die Jahrhunderte nach, und wurde zu einer Quelle der Inspiration für die Beatles und Beethoven, für die White Stripes und Strawinsky.

Der Text wird ausgeblendet, die Musik verstummt. Ich speichere die Datei und schließe PowerPoint. Dann schreibe ich eine E-Mail an meinen Vater, hänge die Datei an und drücke auf SENDEN. Den Entwurf meiner Arbeit habe ich ihm bereits geschickt. Jetzt hat er alles. Ich bin fertig.

Ich schalte den Laptop aus und bringe meine Kaffeetasse in die Küche. Es ist Samstagnacht, fast elf. Ich weiß nicht, wo er ist. Er hat gesagt, er käme erst spät zurück, aber ich dachte nicht, dass es so spät würde. Ich habe wirklich gehofft, er würde es noch heute Abend lesen und mir seine Meinung sagen können, bevor ich ins Bett gehe. Der Entwurf ist gut. Das weiß ich. Aber ich brauche trotzdem sein Okay, bevor ich in den Flieger steigen kann. Also beschließe ich, aufzubleiben und auf ihn zu warten.

Ich gehe in mein Zimmer, hole meinen Koffer aus dem Schrank und fange an zu packen. Meinen Pass und mein Ticket lege ich auf dem Nachttisch für morgen bereit. Dann werfe ich mich aufs Bett und schlage Alex’ Tagebuch auf. Ich habe vor, es mit einer Nachricht für G. auf dem Esstisch zurückzulassen, wenn ich abfahre. Aber zuerst will ich es noch zu Ende lesen. Es sind nur noch ein paar Einträge.

21. Mai 1795

Es regnet heute Abend. Ich kann nicht hinaus. Das Wasser würde meine Raketen unbrauchbar machen.

Also sitze ich mit Feder und Tinte und einem flackernden Kerzenstummel am Tisch. In meiner alten Kammer, hoch oben im Palais Royal. Ich mag diese Kammer nicht. Es sind noch immer die Blutflecken auf dem Boden zu erkennen, wo der Herzog von Orléans mich zusammengeschlagen hat. Es ist dunkel und kalt hier drinnen, aber ich wage es nicht, ein Feuer anzuzünden. Ich bin schon ein übermäßiges Risiko eingegangen, indem ich hierher zurückgekommen bin.

Die Behörden haben dem Herzog das Palais vor zwei Jahren, anno 1793, weggenommen, im selben Jahr schickten sie ihn auf die Guillotine, und es ging in staatlichen Besitz über. Sie raubten all seine Wertgegenstände, aber nicht meine Schätze. Weil sie nicht wussten, wo sie suchen mussten. Ein paar der früheren Gemächer des Herzogs werden für Regierungsgeschäfte genutzt, aber der größte Teil des Palais steht leer, und die Türen sind mit Vorhängeschlössern versperrt – obwohl man immer noch hineinkommt, wenn man nur weiß, wie man es anstellen muss. Es gibt einen unterirdischen Gang vom Café Foy in die Küchen des Palastes. Einst wurde er von Spionen benutzt. Von Intriganten. Zuträgern. Jetzt benutze ich ihn, um in meine ehemalige Kammer zu gelangen, und der Räuber Benoît lässt sich gut bezahlen für seine Gunst.

Der Regen wird stärker, während ich schreibe. Er rauscht in Strömen von den Dächern hinab. Ich wünschte, er würde auf mich einhämmern. Das Leben aus mir herausdreschen. Mir das Fleisch von den Knochen reißen. Den Schmerz aus dem Herzen.

Heute habe ich einen Wachmann im Temple bestochen.
Er sagte mir, ein Arzt sei zu Louis Charles gerufen worden. Er könne nicht mehr stehen. Wolle nicht mehr sprechen und essen.

Was sind das für Menschen, einem Kind so etwas anzutun – sie, die von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit schwadronierten? Was für ein schändlicher, verkommener Ort ist unsere Welt, die so etwas zulässt?

Ich habe meinen Kopf in meinen Armen verborgen, um mein Schluchzen zu unterdrücken, als ich Schritte in meiner Kammer höre. Ich blicke auf. Es ist der Herzog von Orléans. Er steht am Kamin und streicht mit den Fingern über den Sims. Sein Mantel hat schon zu faulen begonnen. Blut ließ den Spitzenkragen an seinem Hals erstarren.

Ich wische mir die Augen. Ist man einsam, wenn man tot ist?, frage ich ihn.

Kaum.

Vermissen Sie Paris? Ist es das?

Es vermissen? Es ist so trübsinnig geworden, dass ich es kaum mehr wiedererkenne.

Warum kommen Sie dann zurück. Bloß, um mich zu quälen?

Um dich zu drängen fortzugehen. Sie sind Fauvel auf den Fersen. Sie werden ihn nicht verhaften. Noch nicht. Sie werden ihn benutzen, um dich zu erwischen.

Ich werde nicht gehen.

Es ist sinnlos. Du riskierst ganz umsonst dein Leben.

Ich riskiere mein Leben für ihn. So lange er lebt, gibt es Hoffnung. Er könnte entlassen werden. Die Zeiten ändern sich. Die Herzen den Menschen ändern sich.

Das Gelächter des Herzogs klingt wie totes Laub im Wind.

Nichts ändert sich, außer die Namen der Schurken in der Regierung, sagt er. Sag mir, kleiner Spatz, was sind das für Papiere? Ein letzter Wille, ein Testament? Ein Geständnis? Buße für deine vielen Sünden? Was schreibst du nieder?

Einen Bericht, entgegne ich. Eine Chronik der Revolution.

Wozu?

Um eine Antwort auf alles zu finden. Sie muss hier drin enthalten sein. Irgendwo in diesen Seiten, in allem, was passiert ist. Es muss einen Grund dafür geben. Ich werde ihn finden.

Noch eine Chronik? Wie langweilig, sagt der Herzog. Jeder Schwachkopf in Paris verfasst zurzeit eine Chronik, oder schlimmer noch, ein Tagebuch. Sie schreiben: Die Revolution brach aus, weil der König zu viel Geld verschwendete. Oder: Die Revolution begann, als der König die Stände aus der Versammlungshalle aussperrte. Aber sie täuschen sich. Weißt du, warum sie begann, kleiner Spatz? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Du hast dich nicht für Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit interessiert. Sondern nur für Ruhm und Reichtum, und hättest deine Seele dafür verkauft. Hättest? Was sage ich da?
Du hast es getan!

Ich bitte Sie, Monsieur, gehen Sie.

Aber das tut er nicht. Stattdessen spaziert er mit auf dem Rücken gefalteten Händen in der Kammer herum.

Wenn du eine Antwort willst, so sollst du eine haben, sagt er. Ich werde dir von der Revolution erzählen, kleiner Spatz. Hör mir genau zu – sie hatte nichts mit dem König zu tun. Könige haben wenig mit Revolutionen zu tun. Revolutionen sind nicht zu ihrem Vorteil. Es begann mit kleinen Dingen, die kleinen Leuten widerfuhren. Es begann mit Collot d’Herbois, dem schlechten Schauspieler, der mit Buhrufen von der Bühne gejagt wurde.
Mit Marat, dem Quacksalber, den man wegen seiner idiotischen Theorien in der Akademie verlachte. Es begann mit Fabre d’Églantine, dem schlechtesten Dichter Frankreichs, der seine miserablen Kritiken las.

Vor allem begann es mit Maximilien Robespierre. Stell ihn dir im Alter von siebzehn Jahren vor – ein von Almosen abhängiger Junge im Lyzeum »Louis LeGrand«, mutterlos, mit schäbigen Kleidern unter den Söhnen der Reichen. Da er wortgewandt ist und voller Ideen steckt, wird er ausgewählt, vor dem Herrscherpaar eine Rede im Namen der Schule zu halten. Es regnet an diesem Tag. Er wartet draußen, wie die Etikette es verlangt. Eine Stunde. Zwei. Vier. Schließlich treffen die königlichen Herrschaften ein. Sie verdecken ihre gähnenden Münder, während er spricht, und brechen sofort auf, nachdem er geendet hat. Frierend und durchnässt, mit ruinierten Schuhen, kehrt Maximilien in seine Kammer zurück und wird diesen Tag nie vergessen.

Keiner von ihnen vergisst. Sie warten. Worauf wissen sie nicht. Aber sie spüren es herannahen. Wenn sie von Kutschenrädern mit Dreck bespritzt werden. Wenn sie von der Straße in die Cafés blicken. Nachts in ihren schmalen Betten, wenn sie sich an den täglichen Spott und Hohn erinnern, spüren sie es. Und es erregt sie.

Ich wende dem Herzog von Orléans den Rücken zu, was ihn aber nicht zum Schweigen bringt.

Es ist der Frühling des Jahres 1789, fährt er fort. Das Land ist bankrott und überall – an Straßenecken, in Clubs, in Cafés und Salons – halten Männer in Seidenröcken und mit weichen Händen wütende Reden – Desmoulins, Danton, Robespierre,
St. Just, Hébert, Marat. Keiner von ihnen ist in Paris geboren, trotzdem kommen sie alle hierher. Jeder unzufriedene Franzose kommt in die Stadt, das Herz voller Kränkung und Groll, den Kopf mit Visionen von Ruhm und Rache angefüllt, und für alles, was ihm in seinem Leben misslang, gibt er dem König die Schuld.

Sie sind sehr wortgewandt, diese Männer. Sie wiegeln die Leute auf. Im Sommer schließlich kommt es zu Krawallen auf den Straßen. Die Bastille fällt. Die Fischweiber marschieren
nach Versailles. Und plötzlich ist sie da – die Revolution. Sie verspricht einen neuen Tag, der strahlend hell beginnt. Ein Goldenes Zeitalter und Freiheit für alle. Und wir glauben an diese Versprechungen, von ganzem Herzen. Eine Weile lang. Bis eine Maschine namens Guillotine auf der Place Louis XV. aufgestellt wird. Bis Tausende von den Schinderkarren abgeholt werden.

Nun befinden wir uns in der Zeit nach der Revolution. Nach der Verkündung der Menschenrechte. Nach der Verfassung. Nach den Massakern. Nach der Monarchie. Nach dem Untergang dieser oder jener Partei. Nach Krieg und Terror.

Jetzt tragen wir Musselin, keine Seide mehr. Wir schließen unsere Schuhe mit schwarzen Bändern statt mit Silberschnallen, und unser Haar ist nicht mehr gepudert. Wir sind alle gleich. Der schmutzigste Bettler ist genauso viel wert wie ein König, und jeder vor sich hin pfeifende Anstreicher hält sich für Michelangelo.

Dennoch wird das Beil auch weiter hochgezogen und fällt herab. Noch immer rollen Köpfe in den Korb. Noch immer leidet ein Unschuldiger, in einen Turm gesperrt. Weißt du warum, kleiner Spatz? Nein? Dann werde ich es dir sagen.

Weil wir nach all den zerstörten Hoffnungen, nach all dem Blutvergießen und Tod wie aus einem Albtraum erwacht sind, nur um festzustellen, dass die Hässlichen noch immer nicht schön und die Langweiligen noch immer nicht geistreich sind. Dass der eine besser singt als der andere. Dass ein anderer die Stelle bekam, die ich wollte. Dass die Kuh der Nachbarn mehr Milch gibt als die meine. Dass da Leute sind, die ein größeres Haus haben als ich. Dass mein Nebenbuhler das Mädchen geheiratet hat, das ich liebte. Und keine Schrift, keine Verordnung, kein Gesetz und keine Erklärung wird daran je etwas ändern.

Er verschränkt die Arme vor der Brust und sagt abschließend: Das ist sie! Das ist meine Chronik. Was hältst du davon?

Dasselbe wie von Ihnen, Monsieur – wenig.

Blödsinn! Was ist falsch an meiner Darstellung?

Ich stelle mir das Gefängnis vor, dunkel und kalt. Und das sterbende Kind, das darin eingeschlossen ist. Und plötzlich breitet sich Schmerz in mir aus. Es ist, als wäre ich in einen tiefen Brunnen gefallen, und der Kummer, der sich anfühlt wie schwarzes Wasser, füllt meinen Mund, meine Augen und Ohren. Ich kann nichts sehen, nichts hören oder schmecken außer Verzweiflung.

Los, sag es!, bellt der Herzog von Orléans. Wo ist der Fehler?

Am Anfang, antworte ich. Bei dem Teil über meine Seele.

Daran ist nichts falsch. Es ist die Wahrheit.

Ich hebe den Blick, blind vor Tränen, und sehe ihn an.

Das ist nicht wahr, Monsieur. Ja, ich wollte meine Seele verkaufen, und hätte sie gern hingegeben, denn sie ist ein unbedeutend Ding und von keinerlei Wert für mich. Aber es war nicht meine Seele, die mir genommen wurde, nein.

Es war mein Herz.

23. Mai 1795

Sie wurden in Varennes gefangen genommen und nach Paris zurückgeschleppt.

Sie machten Fehler. Wie hätte es auch anders sein können? Sie, die niemals auch nur ein Tintenfass füllen mussten, sollten plötzlich in der Lage sein, eine Flucht zu planen? Die Königin verirrte sich auf dem Weg zur Kutsche und hielt die anderen damit auf. Ein Wagenrad brach. Eine Eskorte wartete nicht an der vereinbarten Stelle.

Sie befanden sich nur fünfzehn Meilen vor Montmédy, als sie geschnappt wurden. Wie ist es möglich, dass eine Stunde Verspätung, einige wenige Meilen, ein gebrochenes Wagenrad zum Sturz eines Königs führen, einen Krieg auslösen, ein Land für immer verändern können?

Ein Postmeister sah sie in Sainte-Menehould und erkannte sie. Es hatte alles in den Flugblättern gestanden. Er ritt ihnen nach, überholte sie in Varennes und schlug Alarm. Soldaten rückten an. Der König wurde festgenommen. Mitglieder der Nationalversammlung ritten nach Varennes und forderten, dass er nach Paris zurückkehrte. Eine Truppe von sechstausend Soldaten und Bürgern sorgte dafür, dass dies schließlich geschah.

Tausende säumten die Straßen auf dem Rückweg nach Paris, um ihren König zu sehen. Ich war darunter und hoffte, einen Blick auf Louis Charles zu erhaschen, was mir aber nicht gelang. Ich dachte, die Leute würden den König verhöhnen, als seine Kutsche in die Stadt einfuhr, aber alle waren still. Schweigend standen die Menschen da. Keiner nahm die Mütze ab. Keiner beugte den Kopf. Alle Verstellung war vorbei. Sie wussten, ihr König hatte sie und ihre Revolution verraten, und ihnen kam der Gedanke, dass auch sie sich seiner entledigen konnten.

In Paris brachen Aufstände los, als bekannt wurde, dass der König geflüchtet war. Leute zerstörten seine Standbilder und zerschlugen die Schilder über Läden und Gasthäusern, die sein Emblem trugen. Ihr Zorn legte sich auch nicht, als er zurückkehrte. Es gab Forderungen, er solle abdanken. Zehntausende marschierten zur Nationalversammlung und forderten eine Republik. Der Herzog von Orléans befahl mir mitzumarschieren, also tat ich wie geheißen, die Trikolore an meine Jacke geheftet.

Aber der König dankte nicht ab. Wütend beschuldigte Danton die Versammlung, den Willen des Volkes zu missachten, weil sie den König nicht dazu zwang, und reichte eine Petition ein, um seine Absetzung zu fordern. Er und seine Anhänger riefen die Bürger auf, zum Marsfeld zu kommen, und die Petition zu unterschreiben. Tausende kamen. Die Zusammenkunft verlief anfangs noch friedlich, bis dann jedoch Unruhen ausbrachen. Die Garde wurde gerufen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, und sie feuerte in die Menge und tötete fünfzig Anwesende. Eine Verhaftungswelle setzte ein. Das Kriegsrecht wurde ausgerufen. Zeitungen wurden verboten. So ging es den ganzen Herbst hindurch bis in den Winter. Schnee fiel, kalter Wind fegte durch Paris, aber selbst dies konnte die erhitzten Gemüter und die Wut nicht abkühlen.

Ungehalten darüber, wie Frankreich seinen König behandelt hatte, erklärten uns die Könige Europas den Krieg. Preußen, England, Österreich, Spanien – alle waren gegen uns.

Die Radikalen in der Nationalversammlung wurden kühner. Sie attackierten die Kirche und enteigneten sie. Sie attackierten die Emigranten. Adlige, die Frankreich verlassen hatten, wurden zu Verrätern erklärt und ihr Land sowie ihr Vermögen eingezogen. Jene, die geblieben waren, gerieten ebenfalls unter Verdacht. Der schlaue Herzog von Orléans dagegen taufte das Palais Royal in Palais Égalité um. Sich selbst nannte er Philippe Égalité. Er wurde Abgeordneter, legte seinen Adelstitel ab und schickte seinen ältesten Sohn in den Krieg gegen Preußen. Das verschaffte ihm einen kurzen Aufschub.

Dann folgte das Jahr 1792. Der Frühling kam und mit ihm noch mehr Unruhen. Im westlichen Teil des Landes rebellierten die Menschen gegen die Revolution und drohten mit Bürgerkrieg. Im Juni weigerte sich der König, die notwendigen Befehle zu unterschreiben, um eine zwanzigtausend Mann starke Truppe in Paris zu stationieren – Kräfte, die die Stadt vor ausländischen Invasoren schützen sollten. Es wurde verbreitet, dass er eine Invasion begrüßen würde, denn sie würde ihm helfen, seinen Thron zu retten. Erneut aufgebracht, marschierten Pariser Bürger zu den Tuilerien. Sie drangen in seine Gemächer ein, bedrohten ihn mit Säbeln und Pistolen und zwangen ihn, eine Freiheitsmütze aufzusetzen. Mehrere Stunden lang beschimpften sie ihn, aber er blieb standhaft und tapfer. Um sechs Uhr traf schließlich der Bürgermeister der Stadt ein und überredete die Menge abzuziehen.

Aber bevor ihm das gelang, schien es mir, als wiederholte sich der Fall von Versailles. Ich war in den Tuilierien, hatte meine Stelle als Kammerdiener bei Louis Charles wieder eingenommen. Als der Mob hereinzuströmen begann, befahl die Königin ihren Wachen, Louis Charles und Marie-Thérèse in ihre Schlafgemächer zu bringen und sie einzuschließen. Mich wies sie an, die beiden zu begleiten. Ich spielte den ganzen Tag mit Louis Charles, während Marie-Thérèse ihren Näharbeiten nachging. Ich tat mein Bestes, mich vor den Kindern fröhlich und sorglos zu geben – und wartete jeden Moment darauf, dass der Mob die Tür einbrechen und uns alle ermorden würde.

Im Juli drohte der Herzog von Braunschweig, der Befehlshaber der Preußen, im Fall eines weiteren Angriffs auf den König würde ganz Paris dafür bezahlen, und zwar teuer. Seine Worte standen in allen Zeitungen zu lesen und wurden an jeder Straßenecke diskutiert. Wir wussten, dass es keine leere Drohung war, denn seine Truppen rückten täglich weiter vor. Trotzdem ließ sich Paris nicht einschüchtern. Am 10. August griffen die Einwohner, aufgehetzt von Dantons feurigen Reden und dem Gezeter der Gossenpresse, die Tuilerien erneut an.

Ich hatte in der Nacht des 9. Juli den Palast nicht verlassen, aus Angst um Louis Charles, und um die Erlaubnis gebeten, bei ihm bleiben zu dürfen. Alarmglocken läuteten die ganze Nacht hindurch, um die Bürger von Paris zusammenzurufen. Ich hörte sie, und wieder fiel mir Versailles ein, wo die Fischweiber geifernd vor Mordlust in den Palast gestürmt waren.

Der König hörte sie auch. Seine Garde wurde mobilisiert und der Palast verbarrikadiert, aber am Morgen musste er einsehen, dass die Lage hoffnungslos war. Ganz Paris war auf den Beinen, um gegen ihn aufzumarschieren. Ich kleidete Louis Charles schnell an, servierte ihm Frühstück, und dann wurden wir aus seinen Gemächern getrieben, aus dem Palast hinaus, zur Nationalversammlung.

Der König hatte entschieden, für sich und seine Familie bei der Versammlung Schutz zu suchen, und nach einigen Diskussionen wurde ihm dies von den Abgeordneten gewährt – woraufhin man die königliche Familie im Temple, einer alten und hässlichen Festung einschloss.

Mir wurde befohlen, sie zu begleiten, als Diener für den König und Louis Charles. Ich half ihnen in dieser Nacht, ihre Gemächer notdürftig herzurichten. Ich legte Laken auf die Betten, improvisierte ein Abendessen und weigerte mich dann erneut, sie zu verlassen, denn ich hatte Schüsse aus Richtung der Tuilerien gehört und wusste, dass es von dort bis zum Temple nicht weit war. Ich schlief auf dem Boden vor Louis Charles’ Bett. Jemand bot mir ein Nachtgewand an, was ich jedoch ablehnte. Ich sagte, ich wolle angekleidet und auf alles vorbereitet sein, doch in Wahrheit konnte ich mich an diesem Ort nicht auskleiden. Die anderen Diener oder eine Wache hätten womöglich bemerkt, dass ich kein Junge war, und mich vor den Gefängnisdirektor gezerrt. Dieser hätte geahnt, dass ich eine Spionin war, und mich ebenfalls eingekerkert.

Als ich spät in der folgenden Nacht zum Palais zurückging, war ich sicher, die Gewalttätigkeiten wären vorbei. Die Tuilerien waren eingenommen, die königliche Garde niedergemetzelt. Jetzt war der König machtlos. Was konnten sie ihm noch antun? Ich hoffte, sie würden ihn aufs Land schicken, in sein Haus in Saint-Cloud. Dort würde er jagen und an Schlössern herumbasteln können – die beiden Tätigkeiten, die ihm am meisten Vergnügen bereiteten. Die Königin und Marie-Thérèse würden durch den Garten spazieren können. Und Louis Charles ungehindert herumtollen.

Der Herzog von Orléans wartete im Palais auf mich. Sobald ich seine Gemächer betrat, packte er mich und schleifte mich in sein Arbeitszimmer.

Wo zum Teufel bist du gewesen?, schrie er.

Ich erzählte ihm, was geschehen war. Er saß nicht still, während ich redete, sondern ging unruhig im Zimmer auf und ab.

Ihre Prüfung ist jetzt doch beendet. So ist es doch?, fragte ich, als ich mit meinem Bericht fertig war. Die Kämpfe sind jetzt doch sicher vorbei?

Der Herzog ließ sich zu keiner Antwort herab. Stattdessen sagte er: Es freut mich, dass du in den Temple befohlen wurdest. Mach deine Arbeit dort so gut, wie du sie in den Tuilerien gemacht hast. Gib dem Aufseher keinen Grund, dich zu entlassen. Gib mir keinen Grund, an dir zu zweifeln. Komm jede Nacht danach hierher, egal wie spät, und berichte mir. Wen der König trifft. An wen er schreibt. Wann er schläft, isst und seine Notdurft verrichtet.

Aber warum?, fragte ich. Ich dachte, es wäre jetzt vorbei. Ich dachte, dass …

Er fuhr herum. Du hast dich getäuscht!, donnerte er los. Der König ist gestürzt, ja, aber wer wird seinen Platz einnehmen? Wer wird regieren? Der Heißsporn Danton? Die Schlange Robespierre? Sie werden sich um das Vorrecht streiten, und wer auch immer gewinnt, wird Paris beherrschen, aber niemals Frankreich regieren. In Lyon, in Nantes, in der ganzen Vendée rufen die Menschen nach ihrem König. Vorbei? Gütiger Gott, was für eine Närrin du bist. Es ist nicht vorbei. Es hat kaum angefangen.

Damit hatte der Herzog von Orléans recht, wie meistens. Nachdem die Tuilerien gefallen waren, hörten die Alarmglocken überhaupt nicht mehr auf zu läuten. Die Preußen kämpften sich durch Frankreich voran. Die Stadttore wurden geschlossen. Den Bürgern wurde befohlen, zu Hause zu bleiben. Brigaden aus Saint-Antoine patrouillierten in den Straßen und machten Jagd auf jeden, den sie für einen Feind der Revolution hielten. Tausende wurden ins Gefängnis geworfen. Adlige wurden verhaftet, einfach nur deswegen, weil sie adlig waren. Priester, weil sie die Revolution nicht über Gott stellten. Sie wurden zu Fälschern, Dieben, Bettlern und Prostituierten in die mit Ratten verseuchten Verliese gesperrt.

Im späten August fiel die Festung Valmy, der letzte Verteidigungsposten zwischen Braunschweigs Armeen und der Hauptstadt. Freiwillige bewaffneten sich und eilten von Paris an die Front. Wahnsinnig vor Angst griffen die Zurückgebliebenen nach jeder Waffe, die sie finden konnten, überzeugt, die Preußen würden jeden Moment durch die Stadttore marschieren und sie alle abschlachten.

Und dann passierte es. Nicht die Preußen kamen. Oder die Engländer oder die Osterreicher.

Etwas viel Schlimmeres.

Der 2. September 1792.

25. Mai 1795

Es war, als wäre jemand in die Friedhöfe von Paris hinabgestiegen, tief hinunter in die Eingeweide der Stadt, in die Katakomben, und noch tiefer, bis zu den Pforten der Hölle, um Luzifers Dämonen auf uns loszulassen.

Wer hatte das getan?, fragte ich mich, als ich krank vor Entsetzen in meine Kammer taumelte. Wer hatte die Pforten der Hölle geöffnet?

Es begann mit einem verhaltenen, ängstlichen Flüstern. Auf den Straßen. In den Cafés. Über Mauern hinweg. An Marktständen. Die Gefangenen planen einen Aufstand, wurde gemunkelt – die Royalisten, die Priester, all die Feinde der Revolution. Wenn Braunschweigs Armee hier eintrifft, werden sie sich mit ihr vereinen und jeden Einwohner der Stadt ermorden. Das Flüstern wurde lauter und lauter, bis es zum Kriegsgeheul anschwoll.

Ich war gerade im Temple und trug das Abendessen auf, als ich das Geschrei zum ersten Mal hörte. Eine Menschenmenge hatte sich unter den Fenstern des Saals versammelt, wo der König und seine Familie speisten. Ein höhnisch lächelnder Gardist blickte hinaus und meinte, die Königin solle zum Fenster kommen, von wo aus sie ihre Freundin, die Prinzessin von Lamballe, sehen könne. Sie blickte hinaus und erkannte einen Kopf – einen Kopf mit wehendem blondem Haar, der auf der Spitze einer Pike steckte. Ohnmächtig sank die Königin zu Boden. Ich eilte zum Fenster, um den Vorhang zu schließen, und während ich auf den johlenden, lachenden Mob hinabblickte, hoffte ich inständig, dass die Mauern des Temple stärker waren als die der Tuilerien.

Stundenlang blieben sie dort unten, sangen ihre Lieder, tranken, wünschten dem König den Tod und drohten, in den Temple einzudringen und ihn eigenhändig zu töten. Der Gefängnisaufseher ging schließlich unter dem Schutz seiner Wachen hinaus, um sie zu vertreiben. Sie erklärten ihm, dass sie, die rechtschaffenen Bürger von Paris, die Gefängnisse der Stadt von den Verrätern der Revolution befreien würden, und der König sei der größte Verräter von allen. Der Aufseher erklärte ihnen, dass viele Missetaten des Königs erst noch aufgeklärt werden müssten und dass sie selbst im Kerker landen würden, wenn sie es wagten, das französische Volk seines Rechts zu berauben, Gerechtigkeit zu üben.

Das brachte sie zur Besinnung. Sie stellten ihre Drohungen ein, marschierten davon und der Aufseher ging zurück ins Gebäude. Das sind nicht die rechtschaffenen Bürger von Paris, sagte er zu einem seiner Männer. Es sind viele darunter, die ich kenne, viele, die selbst im Gefängnis gesessen haben.

Er gab den Befehl, die Anzahl der Wachen an den Toren zu verdoppeln und schickte dann mich, eine Zofe und drei Küchengehilfen nach Hause. Durch die engsten Gassen ging ich in südlicher Richtung, um die Markthallen und all die anderen Plätze, wo sich die Massen versammelten, zu meiden. Aber ich steuerte direkt auf eine Weinschenke zu, und da waren sie – einige der Randalierer. Ich wollte umkehren, bevor man mich sah, aber es war schon zu spät. Eine Frau hatte mich entdeckt.

Ah, was für ein hübscher Junge!, schrie sie. Komm her, du feiner Bengel! Die Prinzessin hätte gern einen Kuss von dir!

Sie hatten den Kopf von der Pike genommen und ihn auf einen Tisch gestellt. Ein betrunkener Mann zwickte in die blutleeren Wangen. Ein anderer küsste die schlaffen Lippen. Ein dritter streichelte das Haar. Ich wollte schreien. Meine Augen bedecken. Wegrennen. Aber ich wagte es nicht. Ich wusste, sie würden mich verfolgen.

Bist du etwa keine Schauspielerin, sagte ich mir. Los, spiel.

Pfui Teufel! Ich werde doch keine verdammte Aristokratin küssen!, schrie ich zurück. Stattdessen kann mir die Prinzessin einen Kuss geben. Genau hier! Ich drehte mich um und schlug mir auf den Hintern. Sie kreischten vor Lachen. Einer klopfte mir auf die Schultern. Ein anderer gab mir Wein. Einer, der wenigen, die nicht betrunken waren und nicht herumplärrten, fragte mich aus. Wer bist du, Junge? Wo gehst du hin?

Ich sagte ihm, ich sei Diener im Temple und auf dem Heimweg zu meiner Kammer, um zu schlafen. Er fragte mich, ob ich ein Patriot sei, was ich bejahte. An meine Jacke war die Trikolre geheftet und auf den Knöpfen standen die Worte: »Leb in Freiheit oder stirb«. Nachdem er das gesehen hatte, nannte er mich einen wahren Sohn Frankreichs. Er stellte sich vor – sein Name war Jean – und bat mich zu bleiben. Über eine Stunde lang trank, lachte und sang ich mit ihnen.

Und dann erklärte Jean, es sei an der Zeit, sich wieder an die Arbeit für die Nation zu machen. Er rüttelte die anderen auf und versprach ihnen mehr Wein, aber zuerst müssten sie etwas leisten. Ich wollte gehen, aber davon wollte er nichts hören.

Ich muss schlafen, sagte ich.

Die Feinde der Revolution schlafen nie, antwortete er. Also dürfen es auch ihre Verteidiger nicht.

Wohin gehen wir?, fragte ich, als wir uns auf den Weg machten.

Zurück zu La Force.

Dann wandte er sich ab, um mit einem anderen zu sprechen, worüber ich froh war, denn ich hielt meine Rolle nicht länger durch. Eine schreckliche Angst hatte mich gepackt. Ich wusste, wohin es ging: zum Gefängnis La Force, in dem die Prinzessin von Lamballe eingekerkert gewesen war. Ich versuchte, mich zurückfallen zu lassen, mich abzusetzen, wurde aber von der Meute mitgerissen. Als wir uns den Gefängnismauern näherten, hörte ich die Schreie.

Komm weiter, Junge!, rief Jean und zog mich durch die Tore. Wir gießen den Baum der Freiheit mit dem Blut ihrer Feinde!

Es befanden sich bereits Männer im Hof. Ein riesiges Freudenfeuer brannte. Daneben waren die Leichen von Männern und Frauen aufgetürmt. Als ich, vom Schock gelähmt, einfach stehen blieb, rannte eine Frau an mir vorbei. Ihr Kleid war zerrissen. Drei Männer jagten lachend hinter ihr her. Sie schrie auf, als einer sie packte. Bitte, schrie sie. Hilfe! Dann traf sie ein Knüppelschlag am Kopf und sie verstummte.

Jean drückte mir etwas in die Hand. Ich sah es an. Es war eine Fassdaube, mit Nägeln besetzt. An die Arbeit, Bürger!, rief er.

Ich warf sie weg. Er packte mich am Genick. Befahl mir, sie aufzuheben. Schlug mir ins Gesicht, als ich mich weigerte. Ich wehrte mich, schrie und trat mit den Füßen nach ihm, überzeugt, ich würde als Nächster getötet, als ich jemanden laut rufen hörte: Jean! Lass ihn los! Er gehört zum Herzog!

Es war Rotonde, den ich oft in den Gemächern des Herzogs von Orléans gesehen hatte.

Warum sollte ich? Ich trau ihm nicht, entgegnete Jean. Er ist kein Patriot. Er ist weich wie ein Weib und ein Verräter.

Ich sag dir, er ist einer von Orléans’ Leuten. Bring ihn um und du kannst dich vor dem Mann selbst verantworten, erwiderte Rotonde.

Jean spuckte aus. Hau ab, du Mistkerl, knurrte er und gab mir einen so heftigen Stoß, dass ich der Länge nach aufs Pflaster fiel. Geh zurück zu deinem Herrn. Sag ihm, wir erledingen unsere Arbeit.

Wie wahnsinnig vor Angst nahm ich seine letzten Worte kaum mehr wahr, sondern rappelte mich auf und lief davon. Die Straßen, durch die ich rannte, waren dunkel, genau wie die Häuser. Ich klopfte an Türen und hoffte, jemand würde mich einlassen, weil ich nicht wusste, ob mich meine Füße den ganzen Weg bis zum Palais zurück tragen würden. Niemand machte auf. Die anständigen Leute von Paris hielten sich hinter verschlossenen Türen verborgen, wie anständige Leute es immer tun. Es würde keine Massaker geben ohne die anständigen Leute.

Ich suchte den Schutz der Dunkelheit, während ich weiterrannte, und duckte mich in Hauseingänge, wenn ich Stimmen oder Schritte hörte. Im Palais angekommen, lief ich schwankend die Treppe hinauf und fiel auf mein Bett. Kurz darauf kam Nicolas, um mich zu holen.

Berichte!, sagte der Herzog von Orléans, als ich in sein Schlafgemach trat.

Ich tat wie geheißen. Mit matter, hohler Stimme berichtete ich alles, was ich gesehen hatte. Den abgeschlagenen Kopf der Prinzessin. Den Mob im Temple. Und in La Force.

Es waren so viele Tote, sagte ich. Körper mit abgehackten Armen und Beinen. Manche ohne Kopf. Körper von Männern, von Frauen, von einem Knaben. Er kann nicht älter als zwölf gewesen sein.

Der Herzog machte sich zum Ausgehen fertig und kleidete sich vor dem Spiegel an. Er wählte nicht seinen üblichen prächtigen Aufzug, sondern ein schlichteres Gewand. Einen grauen Mantel und einen einfachen Filzhut, wodurch er vollkommen verändert wirkte. Wie ein einfacher Mann, dem man auf jeder Pariser Straße begegnen konnte. Wie ein einfacher Mann, der sich unbemerkt unter die Leute mischen konnte. Die Hutkrempe warf einen Schatten auf sein Gesicht und dennoch konnte ich im Spiegel seine Augen sehen, die im Kerzenlicht glitzerten, dunkler als die Mitternacht.

Und plötzlich stockte mir der Atem.

Ich hatte diesen Mann schon einmal gesehen. In einer anderen schrecklichen Nacht, in der Nacht, als Versailles gefallen war. Ich erinnerte mich an einen Mann, der damals mit einem tief in die Stirn gezogenem Hut durch die Menge gegangen war, Goldmünzen verteilt und die Leute zu Teufeleien und Mord aufgestachelt hatte. Auch seine Augen waren dunkler als die Mitternacht gewesen.

Der Herzog von Orléans wandte sich zu mir um. Ach, kleiner Spatz, sagte er. In welchen Zeiten wir doch leben.

Ich nickte, unfähig zu sprechen.

Ich glaube, Paris ist wahnsinnig geworden.

Ja, flüsterte ich. Das glaube ich auch.

Er trat näher zu mir und reckte den Kopf. Du siehst aus, als sei dir unwohl, sagte er. Er goss ein Glas Cognac ein und reichte es mir. Trink das, sagte er. Das wird dir guttun.

Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, begannen meine Beine zu zittern. Das Glas fiel mir aus der Hand und zerschellte auf dem Marmor. Denn jetzt wusste ich, wer uns die Hölle auf Erden bereitet hatte.

Warum?, flüsterte ich in die Stille der Kammer. Warum?

Wie als Antwort drangen Stimmen auf mich ein. Stimmen in meinem Kopf. Ich drückte die Hände an die Ohren, konnte die Stimmen aber nicht zum Schweigen bringen.

Die Stimme von Jean, dem Mörder – Geh zurück zu deinem Herrn. Sag ihm, wir erledigen unsere Arbeit.

Die meiner Großmutter – Eines Tages wirst du mit dem Teufel spazierengehen, mein Mädchen.

Louis Charles’ – Mamam mag ihn nicht. Sie sagt, er spielt den Rebellen, will aber König sein.

Und seine, die Stimme des Herzogs von Orléans – Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Die ganze Zeit über hatte er mich belogen. Er hatte dem König nie helfen wollen. Der König war sein Feind, und die Feinde des Königs – die Revolutionäre – waren seine Freunde. Mit seinem Gold bezahlte er ihre Demonstrationen und Aufstände. Mit seinem Gold entlohnte er die Greuel, die ich heute Nacht gesehen hatte.

Ich schlug mir mit den Handballen gegen die Stirn, um diese Einsicht auszulöschen. Warum?, schrie ich in die Stille seines Gemachs. Warum, um Himmels willen, warum?

Unbändige Wut packte mich. Ich griff nach einer Kerze und schleuderte sie an die Wand. Ich zerschlug eine Vase. Fegte Flaschen und Bürsten von einem Tisch.

Plötzlich spürte ich Hände auf meinen Schultern, hörte eine laut schreiende Stimme: Hör auf! Hör sofort auf!

Es war Nicolas. Ich schüttelte ihn ab und machte weiter – zerriss die Kleider des Herzogs, warf mit seinen Juwelen um mich – bis der alte Mann mir hart ins Gesicht schlug.

Was ist? Was ist passiert?, fragte er.

Er ist es, der Herzog von Orléans, sagte ich. Er ist der Drahtzieher der Massaker. Er hat sie bezahlt.

Hüte deine Zunge, sagte der Alte. Du sprichst über Dinge, die du nicht verstehst.

Die ganze Zeit habe ich geglaubt, ich helfe ihm, um dem König zu helfen, erwiderte ich. Genau das hat er mir gesagt – dass er dem König helfen will.

Nicolas lachte. Geglaubt, Kind? Oder es dir gewünscht? Ich denke, das spielt keine Rolle. In jedem Fall ist es der Schauspieler, mit dem gespielt wurde, sagte er. Es gibt nur eines, was der Herzog sich wünscht – Frankreich zu regieren. Heute Nacht hilft er den revolutionären Führern, sich ihrer Feinde zu entledigen. Mit seinem Gold bezahlt er den Abschaum von Paris für die Drecksarbeit. Die Revolutionäre schulden ihm viel, und bald werden sie es ihm entgelten. Bald werden sie ihn zum König machen.

Ich glaube dir nicht. Die Revolutionäre wollen alle Könige abschaffen. Das haben sie tausend Mal gesagt.

Was die Revolutionäre tun wollen und was sie tun müssen, sind zwei Paar Stiefel. Die Revolution befindet sich am Rand des Abgrunds. Wenn Preußen sie nicht vernichtet, tun es die Royalisten. Wir brauchen einen starken Mann, der uns regiert. Einen, auf den sich alle einigen können. Der Herzog von Orléans ist dieser Mann. Er ist eine ganz seltene Kreatur – ein jakobinischer Prinz von Geblüt – sowohl königlichem als auch revolutionärem. Wer könnte ein geteiltes Frankreich besser vereinen?

Aber Frankreich hat einen König. Ludwig ist immer noch König, antwortete ich.

Nicht mehr lange.

Du meinst, dass sie ihn fortschicken? Aufs Land?

Sie werden ihn fortschicken, ja, aber nicht aufs Land. Zuerst wird es einen Prozess geben. Um den Schein zu wahren. Dann folgt die Guillotine.

Die Wut in mir ebbte langsam ab. Angst trat an ihre Stelle. Aber der König hat einen Sohn, sagte ich, und packte Nicolas am Ärmel.

Er nickte. Ja, den hat er, und es ist Louis Charles, den man zum König ausrufen wird, aber der Herzog wird für ihn regieren, an seiner Stelle die Macht ausüben.

Bis Louis Charles volljährig ist. Er kann doch nur so lange regieren, bis Louis Charles selbst König wird, sagte ich. Meine Stimme klang wie die eines Bettlers, verzweifelt flehend.

Der Dauphin ist ein zarter Junge, genau wie sein verstorbener Bruder. Viele glauben, dass er sein zehntes Jahr nicht erleben wird, von seiner Volljährigkeit ganz zu schweigen.

Nein, sagte ich, und schüttelte den Kopf, weil ich nichts mehr hören wollte.

Die ganze Zeit hatte der Herzog von Orléans gegen den König intrigiert und Komplotte zu seinem Sturz geschmiedet. Jeder Fehler, den der König machte, war ihm von Nutzen. Jeder Sieg der Revolutionäre gereichte ihm zum Vorteil. Schlechte Ernten halfen ihm. Kalte Winter. Brotmangel. Ausländische Drohungen. Bürgerkrieg. Alles arbeitete ihm in die Hände.

Und ich, selbst ich, hatte ihm geholfen.

Diese Erkenntnis fühlte sich an wie ein Dolch in meinem Herzen. Hatte ich ihm Namen geliefert, die ich nicht hätte erwähnen dürfen? War heute Nacht jemand getötet worden, weil ich dem Herzog verraten hatte, dass Derjenige den König besucht oder an die Königin geschrieben hatte? Befanden sich Louis Charles und seine Familie im Gefängnis, weil ich bestimmte Dinge gesehen oder gesagt hatte? Ich stöhnte auf wie ein verwundetes Tier und sank weinend zu Boden.

Nicolas beugte sich über mich. Es ist zu spät für Tränen, sagte er. Steh auf. Räum die Sachen weg, die du zerbrochen hast. Sei nicht mehr hier, wenn der Herzog zurückkehrt.

Ich stand nicht auf. Ich blieb auf dem Boden liegen, bis die Kerzen heruntergebrannt waren. Bis das erste Morgenlicht am Horizont erschien. Dann erinnerte ich mich an meine Pflichten im Temple und daran, dass Louis Charles auf mich wartete.

Ich rappelte mich auf und wollte gerade aufstehen, als ich mein Bild im Spiegel des Herzogs sah. Es war, als starrte mich eine Fremde an. Eine Fremde, deren Gesicht kalkweiß, deren Wangen mit Tränen benetzt, deren Augen eingesunken und tot waren.

Ich kroch näher heran, durch die Glasscherben, die zerrissenen Kleider und verstreuten Juwelen, und berührte mit meinen Fingern die der Fremden.

Liegt es daran, dass Paris wahnsinnig geworden ist?, fragte ich sie. Oder bist du es geworden?

Erschüttert höre ich zu lesen auf. Alex war Zeugin von Massakern geworden. Schlimmer noch, sie hatte geglaubt, möglicherweise selbst dazu beigetragen zu haben. Ich erinnere mich, wie ich in der Schule davon gehört habe. Sie waren schrecklich gewesen. Nachdem wir einen Teil des Stoffs durchgenommen hatten, sagte Miss Hammond, unsere Lehrerin, es habe diesbezüglich viel Meinungsmache gegeben – sowohl zur Zeit des tatsächlichen Geschehens als auch in späteren Jahren.

»Einige Historiker sehen in den Massakern einen spontanen Gewaltausbruch, eine schändliche Verirrung, die von Angst und Hysterie angetrieben wurde. Andere behaupten, das Gemetzel sei geplant und von den Machthabern gezielt eingesetzt worden, um Paris von Konterrevolutionären zu befreien.«

»Und was trifft nun zu?«, fragte Arden Tode.

»Sowohl das eine als auch das andere. Beides. Oder nichts von beidem.«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Was ich versuche, Miss Tode, ist, Ihnen begreiflich zu machen, dass die Antwort vom jeweiligen Standpunkt abhängt. Marie Antoinette hat die Massaker zweifellos in einem anderen Licht gesehen als, sagen wir, ein Maurer, der sein Kind hatte Hungers sterben sehen und der erwartete, jeden Moment von einem preußischen Soldaten getötet zu werden. Für Erstere handelte es sich um einen Akt abscheulicher Metzelei. Für Zweiteren vielleicht um ein notwendiges Übel.«

»Ähm, kann ich das so in der Abschlussprüfung schreiben?«

Miss Hammond seufzte. »Geschichte ist ein Rorschach-Test, Leute«, sagte sie. »Bei der Auseinandersetzung mit ihr erfahrt ihr genauso viel über euch selbst wie über die Vergangenheit.«

Ich erinnere mich an Miss Hammonds Worte und denke über Alex nach. Sie war dabei gewesen. Als aktive Teilnehmerin. Sie hatte die Geschichte in Großaufnahme und mit eigenen Augen gesehen. Und was sie sah, trieb sie in den Wahnsinn.

26. Mai 1795

Ich sitze heute Abend am Fluss und warte auf die Dunkelheit. Der Himmel ist klar, und mein Korb mit den Raketen steht neben mir.

Madame du Barry, eine alte Kurtisane, sitzt bei mir und hält meine Hände in den ihren. Ich erinnere mich an ihren Tod. Ganz Paris tut das. Sie schrie sich buchstäblich das Herz aus dem Leib, bis ihr Kopf fiel. Bitte, beschwatzt sie mich jetzt, denk an Aprikosen, den Duft von Rosen, das Kribbeln von Champagnerbläschen auf der Zunge.

Die Toten sind größere Diebe, als ich je einer war. Sie stehlen mir die kostbarsten Dinge. Das Gefühl von Seide auf der Haut. Das Geräusch von Regen, der aufs Pflaster trommelt. Den Geruch von Schnee im Wind. Das alles nehmen sie mir fort und lassen mich mit dem Geschmack von Schmutz und Asche zurück.

Ich denke nicht an Aprikosen, sondern an Guillotinen und Gräber.

Sie runzelt die Stirn. Dafür brauche ich deine Hilfe nicht, sagt sie und rauscht davon.

Ich erzählte Benoît, dass ich sie sehe. Er meinte, das sei der Beweis, dass ich endgültig verrückt geworden sei, und vielleicht hat er recht, aber deswegen bin ich den Toten nicht gram. Nicht sie waren es, die mich in den Wahnsinn getrieben haben.

Es waren auch nicht die Septembermorde, obwohl sie sicherlich ihren Anteil daran hatten.

Es war auch nicht der Tod des Königs auf der Guillotine. Oder die Nachricht, dass der Herzog von Orléans zu jenen Abgeordneten gehörte, die dafür gestimmt hatten.

Es waren auch nicht die Geschichten aus dem Gebiet der Vendée, wo ganze Städte abgefackelt worden waren und Franzosen auf Franzosen geschossen hatten. Und auf Frauen. Und Kinder. Oder diese zusammengekettet und ertränkt hatten.

Es war auch nicht die Zeit von Robespierres Terrorregime, als in Paris Tausende hingerichtet wurden und so viel Blut durch die Straßen floss, dass die Leute darauf ausrutschten, Hunde es aufleckten und schwarze Wolken von Fliegen darüber herumschwirrten.

Auch nicht der Moment, als der Herzog von Orléans wegen Hochverrats verhaftet und eingekerkert wurde.

Es war der Tag, als sie Louis Charles wegbrachten.

Seine Gefängniswärter hatten behauptet, sie hätten von einem Komplott erfahren, den Prinzen und seine Mutter aus dem Temple zu entführen, woraufhin die Nationalversammlung beschloss, sie nicht mehr gemeinsam in Haft zu halten, denn so wäre es schwieriger, sie zu befreien. Es sei an der Zeit, Louis Charles zu lehren, ein guter Republikaner zu werden. An der Zeit, ihm die Grundsätze der Revolution beizubringen.

Die Königin kämpfte wie eine Löwin. Sie beschützte Louis Charles, deckte ihn mit ihrem Leib und wollte die Wärter nicht in seine Nähe lassen. Vorher müsst ihr mich töten, schrie sie.
Die Wärter erwiderten, man würde nicht sie töten, sondern ihre Tochter, und so musste die Königin ihren Sohn ausliefern, um Marie-Thérèse zu retten.

Sie schleppten ihn fort. Er war erst acht Jahre alt.

Ich befand mich in einem Gang, als sie ihn holten, ganz in
der Nähe der Kammer, in der die Familie speiste, und brachte gerade das Essen aus der Küche herauf. Die Wachen stießen mich brutal beiseite, als sie ihn von seiner Mutter wegrissen. Ich fiel hin. Das Essen flog durch die ganze Kammer. Teller gingen zu Bruch und das Tablett krachte mit lautem Knall auf den Steinboden.

Doch das alles blieb mir nur unscharf im Gedächtnis haften. Woran ich mich aber klar erinnere, ist Louis Charles’ Gesicht. Seine Augen waren rot vom vielen Weinen. Er drehte sich nach seiner Mutter um, konnte sie aber nicht sehen. Stattdessen sah er mich und streckte die Hände nach mir aus. Eine Sekunde lang hielten wir uns umklammert. Entsetzen stand in seinen Augen, Schmerz und Hilflosigkeit und noch etwas anderes – etwas, von dem ich wünschte, ich hätte es nie gesehen, denn es hat mich dem Untergang geweiht.

Es verfolgt mich noch immer, selbst jetzt in diesem Moment, und foltert mich. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es ungeschehen machen. Alles ungeschehen machen. Von Anfang an. Ich wünschte, meine Familie wäre nie nach Versailles gegangen. Die Kutsche des Königs hätte nie auf dem Stadtplatz angehalten. Und ich hätte nie das Lachen des kleinen Jungen gehört.

Ich habe keine Angst mehr vor Schlägen oder Blut. Ich fürchte mich nicht mehr vor den Wachen oder der Guillotine.

Es gibt nur noch eines, das ich jetzt fürchte – Liebe.

Denn ich habe sie gesehen, sie gefühlt, und ich weiß, dass es die Liebe ist, die uns zugrunde richtet, nicht der Tod.

Ich lege den Kopf auf mein Kissen. Ich habe Angst weiterzulesen. Bitte lass es ein gutes Ende nehmen. Lass eine Sache in dieser beschissenen Welt ein glückliches Ende nehmen.

Ich denke an das Fernsehinterview mit G. und meinem Vater zurück und durchforste verzweifelt mein Gedächtnis, ob ich mich an etwas Hoffnungsvolles erinnern kann. G. sagte, einige Leute glaubten, Louis Charles sei aus dem Gefängnis geschmuggelt und durch ein totes Kind ersetzt worden, das an seiner statt obduziert und begraben worden sei. Er sagte, Jahre nach Louis Charles’ angenommenem Tod seien mehrere Leute auf der Bildfläche erschienen und hätten behauptet, der Dauphin zu sein. Dad sagte, die Knochen des wahrscheinlichsten Kandidaten – Naundorff – hätten die DNA-Tests nicht bestanden.

Aber was, wenn G. und Dad sich täuschten? Was, wenn Naundorff gar nicht der wahrscheinlichste Kandidat war? Was, wenn der Betreffende überhaupt nie an die Öffentlichkeit getreten war?

Ich meine, warum hätte er das tun sollen, nach allem, was er durchgemacht hatte? Damit sie ihn in die Mangel nehmen, ihn vielleicht wieder ins Gefängnis werfen konnten? Niemals. Höchstwahrscheinlich hatte er sich in einer Hütte im Nirgendwo versteckt und inständig gehofft, dass die Welt, die ihn so grausam behandelt hatte, vergessen würde, dass er je existiert hatte.

Lass Louis Charles entkommen sein, sage ich leise. Lass das Herz nicht sein Herz sein. Lass es einem armen Kind gehören, das schon tot war, als man es in den Temple schmuggelte.

Bitte.

Lilie  50   Lilie

Eine Tür schlägt zu. Ich schrecke aus dem Schlaf auf.

Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigt fast zwei Uhr morgens. Ich muss eingeschlafen sein. Ich höre Schlüssel klappern. Schritte im Gang. Es ist Dad. Warum kommt er so spät?

Ich reibe mir die Augen. Krieche aus dem Bett. Als ich schließlich meinen Pullover angezogen habe und in den Flur hinausgehe, sitzt er im Wohnzimmer. Telefoniert.

Es riecht nach Alkohol. Beim Näherkommen sehe ich, dass vor ihm eine offene Weinflasche auf dem Couchtisch steht. Er sitzt auf dem Sofa und reibt sich die Stirn. Ich höre, wie er Minna fragt, wie es ihr geht, und Helix, ihrer Katze. Ich möchte ihre private Unterhaltung nicht belauschen, also mache ich mich auf den Rückweg in mein Zimmer. Aber dann fängt er an über das Herz zu reden, und ich bleibe wie angewurzelt stehen.

Ich höre mtDNA und D-Loop und PCR-Amplifikation. Vage verstehe ich diese Bezeichnungen. Ich habe schließlich schon im Mutterleib davon gehört. Dad hat einmal Blutproben von mir und Truman genommen und sie in seinem Labor untersucht. Ein paar Tage später ist er mit den Ergebnissen heimgekommen.

»Das seid ihr«, sagte er und tippte auf die Gelscheiben auf unserem Küchensims. Er deutete auf die kleinen grauen Stäbchen und fügte hinzu: »Hier drin ist alles enthalten. Alles, was ihr je sein werdet, ist genau hier drin. Augenfarbe, Größe, Intelligenz, Veranlagung für bestimmte Krankheiten, Begabungen, Fähigkeiten – die DNA erzählt uns praktisch alles über das Leben.«

»Nein … noch keine Ergebnisse. Wir sind gerade mit der Sequenzierung fertig«, sagt er jetzt. »Ich weiß, es ist verblüffend. Ich hab mir nicht viel davon versprochen, aber die Probe war erstaunlich gut. Wir vergleichen sie mit Haarproben von Marie Antoinette, zwei ihrer Schwestern und zwei noch lebenden Habsburger Nachkommen. Ja, die Untersuchung ist umfassend angelegt.«

Es folgt eine Pause, dann: »Mhm. Die Exzision haben wir im Coté-Labor gemacht. Die Spitze und ein Stück der Aorta entnommen. Das Herz war steinhart. Ich habe eine Säge gebraucht. Die Proben für Cassiman und Brinkmann wurden in einen Glasbehälter gegeben und versiegelt. Die Siegel wurden von Notaren in Belgien und Deutschland erbrochen. Die Extraktionen haben wir auf zwei Arten vorgenommen – mit Silizium und Phenol-Chloroform. Ja, vermutlich zu viel des Guten, aber keiner will irgendein Risiko eingehen. Es war in einem sehr guten Zustand. Wirklich gut erhalten. Ich konnte die Muskeln sehen, die Gefäße …«

Seine Stimme verstummt allmählich. »Ja, ich bin noch da«, sagt er. Dann lacht er kurz auf. »Ich frage mich manchmal, warum, Min. Wie so etwas möglich war.« Er hört eine Weile zu und erwidert dann: »Ich weiß, ich weiß, ich sollte objektiv bleiben, aber ich bin Monarchist geworden. G. hat mir Literatur über die Hintergründe gegeben. Es war entsetzlich, was ihnen angetan wurde. Grauenvoll. Ich empfinde inzwischen große Sympathie für den König und die Königin. Sie haben für ihre Sünden gebüßt. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sie gelitten haben müssen. Nein, nicht weil sie ihr Leben verloren haben. Sondern weil sie ihre Kinder an einem so schrecklichen Ort mit so grausamen Menschen zurücklassen mussten. Und wussten, dass man sie brutal behandeln würde. Und weil sie nichts tun konnten, um sie zu beschützen.«

Er schweigt einen Moment. »Nun, vielleicht kann ich es mir doch vorstellen«, fügte er hinzu. Wieder folgt eine Pause, dann sagt er: »Es ist so klein, dieses Herz. Sie waren im selben Alter, hast du das gewusst? Truman und Louis Charles. Sie waren beide erst zehn Jahre alt, als sie starben. Und ich kann mir nicht helfen … ich frage mich einfach ständig, wie das Herz eines Kindes gleichzeitig so klein und so groß sein kann.«

Seine Stimme versagt. Er wischt sich über die Augen. Ich bemerke, dass er weint. Und plötzlich weine auch ich.

»Ich habe mich ihm so nahe dort gefühlt, Minna. In dem Labor. Bei der Arbeit an dem Herzen. Es ist verrückt, das weiß ich. Aber ich habe gespürt, dass er irgendwie auch dort war. Bei mir.« Er trinkt einen Schluck Wein und sagt: »Ja, habe ich. Wenn du es genau wissen willst – ich bin bei der zweiten Flasche.«

Wieder eine Pause, dann: »Andi? Sie schläft, denke ich. Hoffe ich. Ja. Alles beim alten. Sie hasst mich. Gibt mir die Schuld an allem, was passiert ist. Das weiß ich. Ich gebe mir ja selbst auch die Schuld. Wenn ich bloß mehr da gewesen wäre.«

Ich gebe ihm die Schuld? Nein, das stimmt überhaupt nicht. Er gibt mir die Schuld. Das weiß ich genau. Ich gebe mir selbst die Schuld. Weil es mein Fehler war. Ich warte, dass er das Gespräch beendet, was er kurz darauf auch tut. Er legt das Telefon weg und sitzt dann ganz still da, den Kopf in die Hände gestützt.

»Hey, Dad«, sage ich und gehe ein paar Schritte auf ihn zu. Ich will versuchen, mit ihm zu reden. Über alles. Über das Herz und Truman, über das Tagebuch und Vergil.

Er sieht überrascht auf und fährt sich übers Gesicht. »Ich dachte, du würdest schlafen, Andi. Wo warst du?«, fragt er peinlich berührt und plötzlich verärgert.

Wieder diese Frage. Wo warst du? Ich mache sofort dicht.

»Nicht da, wo ich sein sollte, schätze ich. Wieder einmal.«

»Was?«, fragt er und sieht verwirrt aus. Und sehr müde.

»Nichts. Vergiss es. Gute Nacht.«

Ich gehe in mein Zimmer zurück und schließe die Tür. Dort stelle ich mich an die Wand – die Wand, die mich von meinem Vater trennt. Ich drücke dagegen. Schlage mit den Handflächen dagegen. Mit den Fäusten. Aber sie bewegt sich nicht. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen sie, sinke zu Boden und bleibe eine Weile, den Kopf in den Händen vergraben, dort sitzen.

Lilie  51   Lilie

Es ist später Sonntagmorgen, und überall ist Kaffee verschüttet. Auf der Anrichte. Auf dem Boden.

Auf meinen Füßen.

Ich bin ein bisschen neben der Spur. Nach dem Vorfall mit meinem Vater gestern Nacht habe ich vier Pillen eingeworfen. Das ist mehr, als ich je auf einmal eingenommen habe. Sie haben den Schmerz gedämpft, alles andere aber auch. Die Grobmotorik funktioniert, aber die feinmotorischen Fertigkeiten lassen etwas zu wünschen übrig. Ich schaffte es, aufzustehen, mich anzuziehen, in die Küche zu schwanken, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Aber irgendwie habe ich beim Einschenken die Tasse verfehlt.

Ich wische die Sauerei auf und gehe dann ins Wohnzimmer, wo mein Vater auf einem Stuhl sitzt und meine Arbeit liest. Ich lasse mich gegenüber von ihm nieder und beobachte ihn. Er wirkt ganz vertieft in die Lektüre. Das ist gut. Nach ein paar Minuten blickt er zu mir auf. Als hätte er gerade erst bemerkt, dass ich da bin.

»Also?«, frage ich.

»Das ist großartig, Andi. Sehr gute Arbeit. Ich muss zugeben, ich hatte meine Bedenken wegen des Themas …«

»Wirklich, Dad? Das habe ich gar nicht bemerkt.«

»… aber du hast wundervolle Arbeit geleistet. Sowohl was den Entwurf als auch die Einleitung betrifft. Sehr informativ. Wer hätte gedacht, dass Mathematik eine so große Rolle spielt in der Musik?«

»Ähm, die Musiker vielleicht?«

»Jetzt musst du nur noch die dazugehörige Arbeit schreiben. Was kein Problem sein dürfte. Du hast noch Zeit bis Mai.«

»Die dazugehörige Arbeit schreiben, damit ich meinen Abschluss bekomme.«

»Ja natürlich.«

»Und was dann? Nach Stanford? Ich will nicht nach Stanford.«

»Darüber reden wir noch«, antwortet er zögernd.

Was bedeutet, er wird reden und alle Gründe aufzählen, warum die Musikhochschule keine gute Idee ist. Und ich werde zuhören. Etwa zehn Sekunden lang. Dann werde ich explodieren. Und er wird ausrasten. Und wir haben unser Armageddon. Wie immer. Und für alle Zeiten, wahrscheinlich. Aber das sage ich nicht. Ich sage gar nichts. Weil er mir gerade grünes Licht für meinen Heimflug heute Abend gegeben hat, und ich nichts tun werde – nicht das Geringste – um diesen zu gefährden.

»Also«, sagt er und bricht das Schweigen. »Hast du dein Ticket? Deinen Pass?«

»Ich habe alles, Dad. Ich bin bereit.«

»Ich werde nicht hier sein, wenn du abfährst. Ich bin den ganzen Tag im Labor. Also vergiss nicht, die Fluggesellschaft anzurufen, bevor du gehst. Für den Fall, dass es Streik gibt. Ich möchte nicht, dass du in Orly festsitzt.«

»Das werde ich nicht.«

»Und ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Und vergiss nicht, dich bei Mrs. Gupta zu melden. Ich werde sie auch anrufen. Und Andi …«

Mein Handy klingelt. Hurra. Gerettet. »Entschuldige, Dad«, sage ich und gehe in die Küche, um den Anruf anzunehmen.

»Hey«, meldete sich eine Stimme. Es ist Vijay.

»Oh, hallo«, antworte ich. Ich hatte gedacht – oder besser gesagt: verzweifelt gehofft –, es sei Virgil.

»Wow. Freut mich auch, dich zu hören.«

»Tut mir leid, V. Ich bin ein bisschen neben der Spur. Ich dachte, es wäre jemand anderes.«

»Ähm … sag mir doch noch mal, warum ich dein Freund bin?«

»Lass mich überlegen … warte … sorry. Mir fällt gerade nichts ein.«

»Ha.«

»Warum bist denn schon so früh auf den Beinen? Hier ist gerade Mittag, also muss es in Brooklyn ungefähr sechs sein.«

»Ich hab soeben mit König Abdullahs Pressebüro telefoniert. Etwa zum zehnten Mal. Die Pressefritzen haben endlich gesagt, dass ich meine Arbeit schicken soll und dass sie versuchen würden, ihn dazu zu bewegen, eine Stellungnahme abzugeben.«

»Das ist ja Wahnsinn, Mann!«

»Ja, ist es. Ich bin wirklich begeistert. Als Nächstes probiere ich es in Tadschikistan. Wie läuft’s bei dir?«

Ich erzähle ihm von meiner Arbeit, dass Dad zufrieden damit ist und dass ich morgen wieder zu Hause sein werde. Er ist überrascht. Und freut sich. Und fügt sofort hinzu, dass ich die Arbeit fertigschreiben und ja nicht vermasseln soll.

»Ich bin wirklich gerührt von deinem Glauben an mich.«

»Hör zu, ich rufe dich an, um dir mitzuteilen, dass die Mission van Gogh abgeschlossen ist«, sagt er. »Ich hab gestern Nachmittag alles zu deiner Mom reingeschmuggelt. Kavita hat mir dabei geholfen. Sie hat eine Kurta und weite Hosen getragen. Die Farbtuben und Pinsel haben wir an ihre Beine geklebt. Das Zeug vom Flohmarkt haben wir in einen Rucksack getan, den wir ihr um den Bauch geschnallt haben. Als wäre sie schwanger. Der Sicherheitsmann hat sie nicht durchsucht.«

Ich weiß nicht, was ich getan habe, um einen Freund wie Vijay zu verdienen. Aber egal, was es war, es muss in einem anderen Leben gewesen sein.

»Wow, V., danke«, sage ich. »Vielen, vielen Dank. Hat sie sich gefreut?«

»Anfangs war sie ein bisschen seltsam. Irgendwie wie die Frauen von Stepford. Aber als wir ihr zeigten, was wir mitgebracht hatten, und ihr erklärten, dass es von dir sei, ist sie aufgeblüht. Und hat sofort zu malen angefangen. Auf die Zimmerwand.«

»Das ist ja großartig. War der Arzt in der Nähe? So ein Idiot im weißen Mantel? Hat er versucht, das zu verhindern?«

»Da waren eine Menge dämlicher Typen in weißen Mänteln in der Nähe. Es ist eine Klinik! Aber niemand ist reingekommen, während wir da waren. Es war gegen Ende der Besuchszeit. Am Samstag. Vermutlich war er schon heimgegangen.«

»Cool. Ich schulde dir was, Vijay.«

»Nicht der Rede wert. Übrigens, danke für die Wackelköpfe. Total cool. Medwedjew und Talabani sind echt schwer zu finden.«

Ich lache. Bloß Vijay Gupta kommt auf den Gedanken, Wackelköpfe von Politikern seien cool. Ich bin zufällig auf ein paar gestoßen, als ich nach den Geschenken für meine Mutter suchte, und habe sie für ihn mit ins Paket gelegt.

»Ah, und noch etwas … ich soll dich von Nick grüßen. Er ist wieder verhaftet worden.«

»Weswegen?«

»Weil er auf der Court Street einen riesigen, aufgeblasenen Ronald McDonald erstochen hat.«

»Das gibt’s doch nicht.«

»Doch. Das Ding war gigantisch, an die drei Meter hoch. Ein kleines Mädchen hat geweint, und sich geweigert, daran vorbeizugehen. Ihre Nanny hat sie nach drinnen gezerrt, um ein Happy Meal zu kaufen, aber sie hat immer wieder gesagt, dass sie nicht happy sein wolle. Sie hat Nick leid getan. Also hat er ein Schweizer Messer rausgezogen und Ronald abgemurkst. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.«

Vijay lacht, ich jedoch nicht. Ich bin sicher, Nick war wieder total betrunken. Oder high. Und ich weiß, warum er so drauf war beziehungsweise warum er so ist, fast permanent inzwischen.

»Du glaubst nicht, wie viele Leute geklatscht haben. Er wurde eingebuchtet, ist aber auf Kaution wieder frei. Wieder mal. Er wird auf unzurechnungsfähig plädieren und behaupten, er leide an einer Phobie gegen Clowns.«

Nick leidet, aber das hat nichts mit Clowns zu tun. »Grüß ihn von mir, bitte. Sag ihm, ich ruf ihn an, sobald ich zu Hause bin.«

»Arden hat sich von ihm getrennt«, fährt Vijay fort. »Sie geht jetzt mit Mickey Rourke. Er ist für den Rest der Ferien mit ihr nach Bali gefahren.«

»Ist das nicht illegal?«

»Offiziell nicht. Sie ist vor zwei Wochen achtzehn geworden. Bender hat einen Filmvertrag. Und Simone ist am Brown angenommen worden.«

»Und wie steht’s mit Vijay Gupta?«, frage ich. »Ist Harvard inzwischen aufgewacht?«

»Noch nicht.«

»Das werden sie schon noch, V. Das weiß ich. Und wenn sie’s tun, lässt du sie abblitzen. Wer braucht schon Elfenbeintürme? Kampf den Mächtigen, Bruder. Zeig’s ihnen. Geh an die Bard stattdessen.«

»Wow. Ja. Damit würde ich’s ihnen aber richtig zeigen.«

»Vijay! Vijay Gupta!«, höre ich aus dem Hintergrund. »Das klingt nicht nach einer wichtigen Unterhaltung. Eher so, als würdest du mit einem deiner nichtsnutzigen Freunde rumalbern!«

»Ich muss los. Die fleischfressende Momba. Bis bald, A.«

»Bis bald.«

Lächelnd lege ich auf, froh darüber, dass mein Plan funktioniert hat. Froh, dass meine Mutter, die Malerin, wieder malt – selbst wenn es auf einer Klinikwand ist. Vielleicht kann ich ihr noch andere Dinge mitbringen. Warum eigentlich nicht? Schließlich muss ich noch ein paar Stunden Zeit totschlagen, bevor ich zum Flughafen fahre, und Clignancourt, der große Pariser Flohmarkt, ist heute geöffnet. Ich beschließe kurzerhand hinzugehen.

Ich nehme meine Tasche und meine Jacke und sage meinem Vater, dass ich noch mal ausgehe. Er fragt mich, ob ich genug Euros für die Fahrt zum Flughafen und genug Dollars für die Taxifahrt vom Flughafen JFK nach Brooklyn habe. Aber bevor ich antworten kann, klingelt sein Handy.

»Hallo, Matt«, sagt er und sieht auf seine Uhr. »Es ist noch sehr früh, oder? Ist irgendwas passiert?«

Matt. Das ist Dr. Beckers Vorname. Ich frage mich, ob er heute schon Visite gemacht hat. Ob er Moms Wandbild gesehen hat und möglicherweise darauf gekommen ist, wer ihr die Malsachen geschickt hat. Zeit, mich auf die Socken zu machen.

»Andi, warte einen Moment«, sagt Dad.

»Keine Sorge, Dad!«, rufe ich von der Tür aus. »Ich hab Geld! Alles in Ordnung! Ich ruf dich aus Brooklyn an. Bis dann!«

Ich schlage die Tür hinter mir zu und mache mich aus dem Staub.

Lilie  52   Lilie

Wie eine Stadt hat Cligancourt verschiedene Bezirke.

Die Straßen, die zum Markt führen, sind voller Händler mit billigem Ramsch. Sie stellen ihre Waren auf Karren aus oder einfach auf Decken, die auf dem Boden ausgebreitet sind. Ich gehe an Frauen und Männern vorbei, die afrikanische Perlenketten, Socken, Lippenstifte, Unterwäsche, Jogginghosen, Ziegen-Curry und Batterien verkaufen, und stoße weiter ins Herz des Markts vor.

In der Rue des Rosiers und der Rue Biron gibt es Möbel. In der Rue de L’Entrepôt Alteisen. In der Rue de la Serpette gebrauchte Kleider, alte Louis-Vuitton-Koffer und Kronleuchter. Von all dem Zeug will ich nichts haben, also gehe ich zum Marché Vernaison, der flippiger ist und ausgefalleneren Trödel hat. Es ist ein wahres Labyrinth aus eng aneinander gedrängten Buden.

An einer bleibe ich stehen und kaufe einen silbernen Fingerhut und eine zersprungene Porzellantasse. Ein Kochbuch aus den Vierzigern. Eine verblichene, mit Samt bezogene Bonbonschachtel. Dann gehe ich weiter und finde ein paar verblasste Seidenrosen, Jett-Knöpfe, einen Stoffgürtel mit Strass-Schnalle und Postkarten aus Deauville. Ich schlängle mich an Schachteln und Kisten vorbei, krame und stöbere herum und stopfe meine Trophäen in meine Tasche.

Ich biege um eine Ecke und komme an einen Stand mit Pelzmänteln, ein anderer verkauft Uhren. Vor einem dritten steht ein alter vergoldeter Tisch, eine Schale mit Billardkugeln darauf. Sie sind voller Scharten und Risse, kosten fünf Euro das Stück, und ich weiß, dass sie meiner Mutter gefallen werden. Ich nehme drei.

Meine Tasche wird schwer. Ich habe Hunger. Aber ich suche und wühle weiter, dringe immer tiefer in den Markt ein, bis ich auf der anderen Seite wieder herauskomme. Anstelle der Antiquitätenhändler finden sich hier wieder mehr Ramschbuden. Ich entdecke eine rote Kristallhalskette und eine Bonbondose.

Und dann bin ich am Ende angekommen, und es gibt nur noch einen letzten Händler – einen dünnen Typen mit Pferdeschwanz. Mit der einen Hand schiebt er sich einen Fladen mit Gyros in den Mund, mit der anderen zerrt er irgendwelches Zeug aus einem verrosteten Citroën. Offensichtlich ist er gerade erst angekommen. Er trägt eine lange, schmuddelige Samtjacke mit einem Kapuzenshirt darunter. Auf dem Shirt sind die Umrisse einer Stadt abgebildet. I ♥ ORLÉANS, steht darauf.

Auf dem Gehsteig steht eine Kiste mit altem Schmuck, und ich krame darin. Er geht neben mir in die Hocke und lächelt mich an. Seine Zähne sind schlecht. Zwischen seinen Fingern sind Blutergüsse. Seine Augen wirken glasig, sein Blick fahrig. Er sieht sich um und zieht dann einen Knochen aus seiner Jacke.

»Er ist aus dem Katakomben«, erklärt er. »Ein Beinknochen. Sehr alt. Willst du ihn? Zwanzig Euro. Ich hab auch Rippen. Zehn Euro. Und Schädel. Die kosten fünfzig.«

»Ähm, nein, danke.«

Ich hoffe, dass er zu seinen Kisten zurückgeht, was er aber nicht tut. Im Autoradio spielt Coldplay. Er singt »Viva la vida« mit, im Duett mit Chris, es geht um einen König und seine Schlösser, die einstürzen.

Er wischt sich die Nase an seinem Ärmel ab und sagt: »Könnte Ludwig XVI. sein, der das singt. Oder vielleicht bloß sein Kopf. Den sie ihm abgeschlagen haben.«

»Könnte sein«, erwidere ich und gehe ein bisschen auf Abstand.

»Der Kopf weiß, dass er abgeschlagen wurde. Ein paar Sekunden lang. Zehn, vielleicht fünfzehn. 1905 hat ein Arzt Experimente gemacht. Gleich nach der Hinrichtung hat er den Kopf eines Mannes hochgehoben und seinen Namen gerufen. Die Augen haben geblinzelt. Sie haben den Arzt angesehen. Ihn erkannt.« Er fuchtelt mit dem Beinknochen durch die Luft, als würde er trommeln, bis Viva La Vida zu Ende ist. Dann sagt er: »Paris ist voller Musik und Geister. Ich kann sie sehen.«

Ich werfe einen Blick die Gasse hinunter, um sicherzugehen, dass ich mit diesem irren Grabräuber nicht allein bin.

»Kannst du das auch?«, fragt er.

»Ob ich was kann?«

»Sie sehen?«

»Nein.«

»Sie sind überall. Manchmal wollen sie mein Essen. Manchmal möchten sie reden. Manchmal sind sie sauer auf mich.«

»Das glaube ich gern. Wahrscheinlich würden sie dir am liebsten einen Tritt in den Hintern geben. Aber das können sie ja nicht, weil du ihnen die Beine gestohlen hast.«

Er lacht. Verputzt seien Gyrosfladen. Zündet sich eine Zigarette an. »Meine Großmutter war eine Roma. Du weißt schon … eine Zigeunerin«, sagt er. »Sie hat mir immer gesagt, dass es ein Zeichen ist, wenn die Toten auftauchen. Ein Zeichen für den Tod.«

»Wow. Wie scharfsinnig.«

»Sie meinte, für den Tod desjenigen, der die Toten sieht. Es ist eine Warnung. Es bedeutet, dass man ihnen, ihrer Welt, zu nahe gekommen ist.« Er fängt wieder zu trommeln an. »Tust du es?«, fragt er.

»Was?«

»Sie sehen?«

Warum fragt er mich das? Ich will schon Nein sagen, als mir plötzlich der Abend auf der Henry Street einfällt, als ich von der Schule heimging und Truman sah. Ich erinnere mich an meinen Ausflug in die Katakomben, als ich glaubte, die Toten würden zu mir sprechen. Trotzdem verneine ich seine Frage.

»Sie sehen dich«, sagt er. »Sie beobachten. Warten.«

»Uhm«, erwidere ich verunsichert, versuche aber, mir nichts anmerken zu lassen.

Ich bin mit dem Schmuck fertig und werfe einen Blick auf den Rest seines Trödels – vermoderte Taschenbücher, Kaffeebecher, Teller, ein Pernod-Aschenbecher, alte Pornohefte, schmuddelige Krawattenfliegen, ein Karton mit alten Weihnachtskarten. Ich bin schon dabei zu gehen, als mein Blick an etwas hängen bleibt: In einer Kiste neben seinem Kofferraum steht ein kleines Ölbild. Ein Stillleben.

Ich nehme es in die Hand. Es ist wirklich alt und wirklich hübsch. Die Farbe ist gesprungen und der Rahmen angeschlagen. In der Leinwand ist ein kleiner Riss. Aber das Gemälde selbst ist schön. Es zeigt Birnen, Kastanien, einen alten Kupfertopf und ein totes Kaninchen. Meiner Mutter würde es gefallen. Es ähnelt den Bildern, die sie in der Nähe ihrer Staffelei hängen hat. Zu Hause. Je länger ich das Bild ansehe, desto mehr will ich es für sie kaufen. Um es ihr morgen in die Klinik mitzubringen und an die Wand ihres Zimmers zu hängen. Es ist besser als alles, was ich bis jetzt erstanden habe. Vielleicht wird es ihr helfen. Vielleicht schafft es, was Dr. Beckers Pillen nie gelingen wird. Vielleicht kann es ein eisernes Band sein.

»Wie viel?«, frage ich ihn.

»Hundert«, sagt er und nimmt einen Zug von seiner Zigarette.

Ich öffne meine Börse. So viel habe ich nicht. Keine hundert. Ich habe genügend Geld für ein Taxi zum Flughafen und noch ein paar Zwanziger.

»Wie wär’s mit sechzig?«, frage ich, in der Hoffnung dass er sich darauf einlässt, weil seine Hände zittern, aber er sagt Nein.

»Ach komm schon, du brauchst es doch.«

»Nicht so sehr wie du«, antwortet er mit Blick auf meine eigenen zitternden Hände.

Ich nehme alles Geld, das ich entbehren kann, und lege es auf sein Autodach. Es sind achtundsechzig Euro und etwas Kleingeld. »Das ist alles, was ich habe«, sage ich zu ihm.

Er sieht mich von oben bis unten an und zupft dann an meinem Gürtel. Er steht so dicht neben mir, dass ich das Lamm riechen kann, das er gegessen hat.

Ich weiche zurück. »Vergiss es, Arschloch«, zische ich.

Er lacht. »Bild dir bloß nichts ein. Der Gürtel ist allerdings was wert«, erwidert er.

Jetzt kapiere ich’s. Ich nehme ihn ab und lege ihn auf das Geld.

»Weiter«, sagt er.

Ich ziehe meine Ringe von den Fingern und lege sie auf den Stapel. Und meine Armbänder. Er fährt mit den Fingern durch den Schmuck und deutet auf meine Ohrringe.

»Also jetzt reicht’s aber.«

»Willst du das Bild?«

Murrend nehme ich sie ab und lege sie zu dem Rest. Ich fühle mich nackt und wehrlos, als hätte er mir meine Rüstung abgenommen. Ich habe keinerlei Metall mehr an mir. Nun, fast keines mehr. Sein Blick bleibt an Trumans Schlüssel hängen. Ich lege die Hand darüber.

»Vergiss es. Der steht nicht zum Verkauf«, erkläre ich.

Er starrt auf den Schlüssel, dann hebt er den Blick, der jetzt nicht mehr ziellos umherirrt. Seine Augen sind dunkel und stechend. So dunkel wie die Mitternacht.

Sie glitzern, als er mich anlächelt. »Leben wurde ausgelöscht«, sagt er. »Aber nicht so vollständig, als dass nicht genügend verstreute Reste übrig geblieben wären.«

»Was?«, frage ich entsetzt. »Warum sagst du das?«

Aber er antwortet mir nicht, sondern lacht bloß.

Es hat nichts zu bedeuten, ist bloß das Gestammel eines Junkies, sage ich mir. Er weiß überhaupt nichts. Nichts über mich. Oder Truman. Nichts über den Schlüssel.

»Verkaufst du mir das Bild nun oder nicht?«, frage ich und bemühe mich, entschlossener zu klingen, als ich mich fühle.

Er beißt sich einen Moment lang auf die Lippe und nickt dann. Ich klemme mir das Bild unter den Arm, bevor er es sich anders überlegt.

»Danke«, sage ich und mache mich davon. Ich bin so aufgeregt, dass ich Adieu zu ihm sage, was ein endgültiger Abschiedsgruß ist, ungefähr so, als würde man sagen: Wir sehen uns wieder in der anderen Welt, statt Au revoir, was Auf Wiedersehen heißt. Ich entschuldige mich für meinen Fehler und sage Au revoir zu ihm.

Er schüttelt den Kopf und lächelt mich mit seinen verfaulten Zähnen an. »Es war schon richtig beim ersten Mal«, sagt er. »Adieu.«

Lilie  53   Lilie

Mir läuft die Zeit davon.

Die Métro war extrem langsam – angeblich wegen Gleisarbeiten –, und es dauerte endlos, bis ich zu G.s Haus zurückkam. Dabei sollte ich inzwischen in einem Taxi sitzen, anstatt zum Loft hinaufzurennen.

Lili ist zu Hause. Sie sieht fern und telefoniert gleichzeitig – mit G., nehme ich an. Es scheint irgendwelche Schwierigkeiten mit seinem Flug zu geben. Ein paar Minuten später legt sie auf.

»Die Flughafenangestellten haben die Arbeit niedergelegt«, sagt sie.

»Was? Das gibt’s doch nicht!« Doch nicht jetzt! Nicht heute Abend!

»In Orly und DeGaulle herrscht Chaos. G. sollte heute Abend nach Hause kommen, aber sein Flug wurde abgesagt. Er versucht, einen Platz im Zug zu bekommen, aber das ist schwierig. Offensichtlich hatten alle anderen dieselbe Idee.«

»Wann war das?«, frage ich sie.

»Sie haben es vor etwa einer Stunde durchgegeben.«

Ich lasse meine Tasche fallen. »Ich kann’s nicht glauben«, sage ich total niedergeschmettert.

»Andi? Was ist denn los? Ach! Ich hatte ja völlig vergessen, dass du heute Abend abreisen wolltest. Hat dich die Fluggesellschaft nicht angerufen?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Ich habe in der U-Bahn festgesteckt.«

Ich höre meine Mailbox ab, und natürlich habe ich eine Nachricht bekommen.

»Was sagen sie?«, fragt Lili, als ich mein Handy wegpacke.

»Dass mein Flug ebenfalls gestrichen ist«, antworte ich.

»Tut mir leid, Andi. Ich weiß, du wolltest zu deiner Mutter.« Sie kommt herüber und legt den Arm um mich. »Wenigstens können wir dich so noch ein paar Tage bei uns behalten. G. und ich sind sehr glücklich, dich hier zu haben.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Danke, Lili«, antworte ich.

Sie erklärt, dass sie auf dem Weg zu einem Abendessen mit ein paar Studenten sei, dass es in der Küche Brot, Schinken und Käse gebe und dass ich mir davon nehmen soll.

Ich danke ihr, nehme meine Tasche, gehe in mein Zimmer und setze mich aufs Bett. Das habe ich nicht vorhergesehen, obwohl es die ganze Zeit in der Luft lag. Die Angestellten hatten seit Tagen mit Streik gedroht, aber ich hatte es nicht beachtet. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, den Entwurf für meine Arbeit fertigzustellen.

Ich sehe mich in dem Zimmer um und frage mich, was ich die nächsten zwei, drei Tage, wenn nicht gar die nächsten acht Jahre mit mir anfangen soll, bis ich einen Flieger zurück nach New York besteigen kann. Der Gedanke, nichts zu tun zu haben, nirgendwo hingehen zu müssen und Gott weiß wie lange mit meinem Vater zusammen zu sein, löst einen Anflug von Panik in mir aus. Ich bin vollkommen am Boden zerstört, weil ich morgen meine Mutter nicht werde sehen können.

Ich greife in meine Tasche nach meinen Pillen und schlucke zwei. Die Qwells haben mich den Tag über ziemlich stabil gehalten – ich war vielleicht ein bisschen benommen und ungeschickt, aber stabil. Als ich das Fläschchen auf den Nachttisch stelle, sehe ich das Tagebuch. Es sind noch vier Einträge übrig, die ich nach meiner Rückkehr vom Flohmarkt lesen wollte. Bevor ich mir ein Taxi zum Flughafen gerufen hätte. Während ich danach greife, wird mir klar, dass mir nicht genügend Zeit geblieben wäre, um es zu Ende zu lesen. Ich war viel zu spät dran.

»Bist du jetzt zufrieden?«, frage ich.

Als ich es aufschlage, kommt Lili herein.

»Ich gehe jetzt, Andi. Ich bin bloß ein paar Stunden weg.« Nachdem sie sich verabschiedet hat, bleibt sie noch einen Moment in der Tür stehen. »Weißt du«, sagt sie, »da gibt’s ein Lokal in der Rue Oberkampf. Ein paar Straßen westlich von der Métro-Station Ménilmontant. G. und ich sind früher immer dorthin gegangen. Als wir Studenten waren. Das Essen ist gut, und am Sonntag gibt’s Livemusik. Es heißt Rémy’s. Ich bin überzeugt, es würde dir gefallen. Es wäre doch schön, wenn du ein bisschen rauskämst. Ein bisschen Musik hören könntest, vielleicht ein paar Leute in deinem Alter treffen und Spaß haben würdest. Es kann gut sein, dass du noch ein paar Tage hier bleiben musst, weißt du. Wir Franzosen lieben Streiks.«

»Rémy’s heißt das?«, frage ich, als hätte ich noch nie von dem Lokal gehört.

»Ja. Überleg’s dir.« Sie küsst mich und geht.

Ich bleibe noch eine Weile auf dem Bett sitzen, starre in die Dunkelheit und hoffe, dass es noch nicht zu spät ist. Für Alex. Für Louis Charles. Und für mich.

Lilie  54   Lilie

Ich eile die Rue Oberkampf hinunter. Es ist nach acht. Ich bin spät dran. Vermutlich haben sie bereits angefangen.

Ich bin aufgeregt. Ich sollte es besser wissen, kann es aber gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen. Vielleicht habe ich doch nicht alles vermasselt. Vielleicht können wir nach der Session einen Teller von Rémys Gulasch essen und reden. Oder nicht reden. Wie wir es bei Sacré-Cœur getan haben. Nicht reden wäre sehr schön.

Ich öffne die Tür und stoße mit jemandem zusammen. Das Lokal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Sonntags ist offensichtlich immer viel los. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche, auf die Bühne zu spähen. Virgil ist da. Er rappt. Und stolziert dabei auf und ab. Dem Publikum gefällt es. Sie feuern ihn in zehn verschiedenen Sprachen an. Er ist bereits fast am Ende von I’m Shillin’ angekommen. Ich kenne es von seiner CD.

… I ’m not somebody

Till I’m wearing LV

A pony, a gator

A big shiny G

Call me a sellout

But I’ll make ya shell out

Buy this watch, drink that tea

You’ll be just like me

Selling sneakers, selling coffee

The money sweeter than toffee

Selling jewelry, selling cars

Yeah, it’s welfare for stars

She was the shit

Made arthouse a hit

Just ask Brad Pitt

Then she quit

Now she’s pimpin’ vitamin water

And tellin me I oughta

Buy a bottle of skunkjuice

From her girl Esther Lauder

He had the beats, had the swagger

He was more than a bragger

Sold his rhymes

Many times

Now he’s rich as Mick Jagger

He said, I had to get real

Make a deal

Work my spiel

Get my face on the box

Of your kid’s Happy Meal

I bowed down to the clown

Cuz I wanted the crown

The silk dressing gown

The penthouse uptown

Now I’m a Bolivar smoker

Playing craps, playing poker

I’m a big power broker

And Diddy’s a joker

Sell your music, your art

Sell your soul, it’s okay

Don’t ever forget

Where there’s a shill, there’s a way.

deutsche Übersetzung am Ende des Buchs

Er verbeugt sich mit weit ausgebreiteten Armen, und das Publikum tobt. Jules steht hinter ihm. Und ein paar andere Typen. Sie haben eine Anlage heute Abend – Mikrofone, Verstärker, Gitarren und ein elektrisches Schlagzeug. Sie sehen mich nicht. Ich bin sehr weit hinten und habe keine Ahnung, wie ich durch die Menge zur Bühne kommen soll.

Ich blicke nach rechts und links, um zu sehen, ob ich irgendwo durchkommen kann. Als ich wieder auf die Bühne blicke, sehe ich jemanden, den ich zuvor nicht wahrgenommen habe – ein großes, schönes Mädchen mit dunklem Haar und hellbrauner Haut. Sie steigt hinauf, reicht Virgil ein Handtuch und ein Glas Wasser. Als sie wieder gehen will, greift Virgil nach ihrer Hand und zieht sie an sich. Er flüstert ihr etwas ins Ohr und küsst sie auf die Wange. Sie lacht. Umarmt ihn. Hüpft von der Bühne herunter.

Wow. Das hat ja nicht lange gedauert. Bestimmt war er völlig am Boden zerstört, weil es mit mir nicht geklappt hat.

Ich schlüpfe hinaus. Schnell. Bevor jemand merkt, was für ein erbärmlicher Trottel ich bin.

Lilie  55   Lilie

Ich versuche, Norwegian Wood zu spielen. Aber es funktioniert nicht. Ständig vergreife ich mich bei den Akkorden. Es ist ein schreckliches Gemurkse. Ich gebe auf und nehme mir Bach vor. Aber auch das läuft nicht gut.

Ich spiele, um mich davon abzuhalten, über bestimmte Dinge nachzudenken. Etwa, warum ich geglaubt habe, Virgil hätte keine Freundin? Oder zwei? Fünf? Ein Dutzend? Er, ein heißer Hip-Hop-Star? Ich dachte, die Sache zwischen uns sei etwas ganz Besonderes. Aber wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Gestörtes Urteilsvermögen – eine weitere tolle Nebenwirkung von Qwellify.

Ich verpatze die Passacaille. Weil meine Hände zu kalt sind, rede ich mir ein. Es ist windig hier draußen auf dem Pont Neuf. Schnee liegt in der Luft. Ein paar Flocken rieseln bereits herab. Aber ich weiß, dass es nicht an der Kälte liegt, weshalb ich so schlecht spiele. Sondern an den Tabletten. Nach meinem Ausflug ins Rémy’s habe ich noch ein paar eingeworfen. Und jetzt bin ich zu langsam und wie betäubt. Ich fühle nichts mehr. Ich weiß, dass es kalt ist, kann es aber nicht spüren. Ich weiß, dass ich todunglücklich bin, aber auch das spüre ich nicht.

Ich bin jetzt weit weg von dem Lokal. Weit weg von G.s Haus. Nachdem ich Virgil gesehen hatte, wollte ich nicht heimgehen. Lili ist vielleicht schon wieder von ihrem Essen zurück. Dad aus dem Labor. Und ich will nicht reden. Nicht mit ihnen. Mit niemandem. Ich will bloß spielen. Und diese eine Note finden, wie Nathan mir geraten hat.

Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht. Ich streiche sie zurück und spüre etwas auf meinen Wangen. Wische es weg. Auf meiner Handfläche sind winzige Eiskristalle. Tränen wahrscheinlich.

Mein Handy klingelt. Ich ziehe es heraus und blicke auf die Nummer. Es ist Virgil. Ich stecke es wieder ein. Er hat mir meinen iPod zurückgegeben. Sonst brauche ich nichts von ihm. Jungs lassen einen fallen, die Musik aber lässt einen nie im Stich.

Ich hole tief Luft und versuche noch einmal die Passacaille, ohne zu patzen. Eine Note, bloß eine Note. Das ist alles, was ich brauche. Aber das ist schwer heute Nacht. So schwer, dass ich aufhöre. Und stattdessen in den Himmel hinaufsehe. Er ist schwarz. Kein Mond. Keine Sterne.

Hallo, Dunkelheit, alte Freundin.

Lilie  56   Lilie

Es ist spät, denke ich. Schon Montagnachmittag. Vielleicht ein oder zwei Uhr. Ich habe lange geschlafen. Es ist still in der Wohnung. Dad und Lili müssen weggegangen sein.

Ich öffne die Augen und starre in das graue Licht, das durch mein Fenster fällt, schließe sie aber sofort wieder, als die Depression in mich fährt. Sie pirscht sich nicht leise an oder umkreist mich vorsichtig, sondern startet einen brutalen Frontalangriff. Ich rapple mich hoch und taste nach den Pillen in meiner Tasche.

Aber sie sind nicht da. Panik packt mich. Völlig außer mir drehe ich mich im Kreis, bis ich sie entdecke. Auf meinem Nachttisch. Auf dem Tagebuch.

Ich schlucke vier, lege mich zurück ins Bett und zwinge mich, wieder einzuschlafen. Aber ich kann nicht. Alles, woran ich denken kann, ist Virgil. Wie konnte ich mich so in ihm täuschen? Ich wünschte, ich hätte ihn nie kennengelernt. Und wir hätten nie diese Telefonate geführt. Dann würde sich mein Herz jetzt nicht anfühlen, als würde es in Stücke gerissen.

Es dauert immer eine Weile, bis die Tabletten wirken. Ich nehme das Tagebuch und fange an zu lesen, weil ich verzweifelt nach Ablenkung suche.

27. Mai 1795

Ich werde den 14. Juli nie vergessen, aber nicht wegen des Falls der Bastille. Der 14. Juli 1793 war der letzte Tag meines Dienstes bei der königlichen Familie. Man sagte mir, ich würde nicht mehr gebraucht. Der König war tot, im Januar des neuen Jahres hingerichtet worden. Louis Charles befand sich in Händen eines Mannes namens Antoine Simon. Eines Mannes, den die Nationalversammlung ausgewählt hatte. Eines Mannes aus dem Volk. Eines guten Republikaners. Eines stumpfsinnigen, bösartigen Trunkenbolds.

Ich versuchte, mich von der Königin zu verabschieden. Majestät, sagte ich. Majestät, bitte.

Aber sie hörte mich nicht. Sie hörte nur ihn, ihr Kind, das tagelang in seiner neuen Kammer, ein Stockwerk unter ihr, weinte. Sie sprach nicht. Aß nicht. Sie starrte nur an die Wand und schaukelte hin und her.

Sie müssen stark sein, sagte Madame Elizabeth zu ihr. Sie müssen durchhalten. Auch Gott musste die Schreie seines Sohnes anhören, als dieser am Kreuz hing.

Sprechen Sie nicht von Gott zu mir, erwiderte die Königin.

Das Geräusch einer Ohrfeige war zu hören – hart und plötzlich –, dann ein Schmerzensschrei, mehr Weinen. Die Königin erhob sich. Schwankend ging sie durch die Kammer und nahm einen Koffer. Es lag eine Gitarre darin. Die des Königs. Ich hatte oft für Louis Charles darauf gespielt.

Nimm sie. Spiel für ihn, sagte die Königin und reichte mir den Koffer.

Die Wachen beobachteten uns.

Aber Majestät, niemandem ist erlaubt, ihn zu besuchen, antwortete ich.

Sperr auf und spiel, sagte sie. Du musst den Schlüssel ein Mal drehen, um den Koffer aufzusperren.

Doch in dem Moment, als sie »ein Mal« sagte, hob sie drei Finger in die Höhe, und zwar so, dass die Wachen es nicht sehen konnten.

Ich kann nicht, sagte ich.

Sie begann zu weinen. Bitte, schluchzte sie. Spiel für ihn. Sorg dafür, dass sein armes Herz fröhlich bleibt. Dann sank sie zu Boden, schlang wehklagend die Arme um die Knie.

Nimm sie!, bellte der Wachhabende. Nimm sie, damit das Geschrei aufhört!

Er war ein anständiger Mann, selbst ein Vater, und wollte freundlich sein, aber er hatte Angst. Das konnte ich in seinen Augen sehen. Wir alle hatten Angst. Wir alle hatten die Schinderkarren gesehen.

Ich tat, wie befohlen. Draußen im Gang öffnete er den Koffer. Mit einem Messer schnitt er die Gitarrensaiten durch und tastete das Innere des Koffers ab. Dann riss er das Futter heraus und suchte nach Geheimbotschaften. Erst als er sicher war, dass die Königin nichts darin versteckt hatte, durfte ich die Gitarre nehmen.

Später in meiner Kammer entdeckte ich, was ich finden sollte. Ich drehte den Schlüssel drei Mal, weil die Königin drei Finger hochgehalten hatte, und fand ein Geheimfach. Darin befanden sich ein Bild von Louis Charles – eine Miniatur auf Elfenbein gemalt – und ein Beutel mit Münzen. Zwanzig Goldstücke. Zorn packte mich.

Warum hatte sie mir dieses Gold gegeben, verdammt? Was sollte ich damit machen? Ich war kein Marquis mit einer Armee, sondern nur ein unbedeutender, machtloser Mensch.

Doch der Zorn ebbte bald ab und Traurigkeit trat an seine Stelle, denn ich erkannte, wie verzweifelt sie gewesen sein musste, mir das Leben ihres Sohnes anzuvertrauen. Ausgerechnet mir. Ich war kein Kaiser. Kein König. Bloß eine kleine Dienerin. Auf mir ruhte all ihre Hoffnung. Ihre letzte Hoffnung. Ich war die einzige Chance, die ihr kleiner Sohn hatte. Das Porträt, das Geld – sie waren der Appell, ihn nicht im Stich zu lassen.

Ich hielt die glänzenden Münzen in der Hand und ließ sie durch die Finger gleiten. In mir tobte ein Kampf. Mit zwanzig Louis d’or konnte ich davonlaufen. Fort aus Paris, weg von Tod und Elend. Ich konnte in einer anderen Stadt von vorn anfangen. Es vielleicht auf die Bühne schaffen. Hatte ich mir das nicht immer gewünscht?

Andererseits wäre es mir mit zwanzig Louis d’or vielleicht auch möglich, dem Dauphin zu helfen. Ich könnte Simon bestechen, ihn gut zu behandeln, ihm Spielzeug und Bücher zu erlauben. Vielleicht könnte ich ihn besuchen. Vielleicht würde es mir gelingen, den Schaden wieder gutzumachen, den mein Spionieren und meine Lügen angerichtet hatten. Vielleicht würde ich es sogar schaffen, ihn herauszuholen.

Von derlei Bestrebungen hatte man bereits gehört. Der Gefängnisaufseher war ständig auf der Hut vor Komplotten, und brüstete sich, mehr als einen Versuch vereitelt zu haben, die Königin und ihre Kinder zu befreien. Der Aufseher war vorsichtig, die Garden wachsam. Aber jeder hatte seinen Preis.

Ich nahm eine Münze und drehte sie zwischen den Fingern. Auf einer Seite war der Kopf der Königs, auf der anderen seine Krone. Ich warf sie in die Luft. Fing sie auf. Schloss die Finger darum.

Kopf oder Krone. Bleiben oder gehen. Wiedergutmachung oder Freiheit, sagte ich mir und tat so, als hätte ich eine Wahl.

Ich hole tief Luft. Um mir Mut zu machen. Erneut schöpfe ich Hoffnung. Obwohl ich es besser weiß.

Weil Alex zwanzig Louis d’or hatte. Und die hätten genügen können, um einen Totengräber zu bestechen, und im Schutz der Nacht einen kleinen leblosen Körper in den Temple zu schaffen. Um ein paar Wachen dazu zu bringen, nicht so genau hinzusehen. Um ihn zu befreien.

Lilie  57   Lilie

29. Mai 1795

Der Herzog von Orléans stieg ein paar Wochen nach der Königin auf die Guillotine, im November 1793.

Sein ältester Sohn, der Herzog von Chartres, war gemeinsam mit General Dumouriez von der Revolutionsarmee zu den Royalisten übergelaufen. Der Herzog von Orléans verurteilte seinen Sohn öffentlich, aber dann wurde ein Briefwechsel zwischen den beiden gefunden, der bezeugte, dass die Verurteilung eine Täuschung gewesen war. Er wurde beschuldigt, ein Komplize von Chartre und Dumouriez und zu sein und versucht zu haben, die Revolutionsregierung zu stürzen.

Ich verließ meine Bleibe über seinen Gemächern und machte mich auf den Weg, ihn in seiner Zelle zu besuchen. Inzwischen spielte ich wieder für Geld in den Höfen des Palais und kam jede Nacht, nachdem ich fertig war, in diese Kammer zurück.

Der Herzog von Orléans war ein paar Monate zuvor verhaftet worden. Ich hatte ihn nicht besucht, weil ich ihn nicht sehen wollte, aber dann folgten der Prozess und das Urteil, und ich wusste, dass er bald auf die Guillotine geschickt würde, also wollte ich noch ein paar Antworten von ihm, bevor es zu spät war.

Ah, ein kleiner Spatz kommt zu Besuch, sagte er, als er mich sah. Warum bist du hier? Warum bist du nicht ausgeflogen? Für mich ist es vorbei. Du bist frei.

Sie haben gehofft, König zu werden, sagte ich.

Er zog eine Augenbraue hoch. Vielleicht bist du doch nicht so dumm, wie ich dachte, erwiderte er.

Sie haben mit den anderen in der Nationalversammlung für den Tod des Königs gestimmt, weil Sie an seiner statt regieren wollten.

Ich tat es, weil ich keine andere Wahl hatte. Ich war der Cousin des Königs und stand als solcher immer unter Verdacht. Ich musste meine Loyalität der Revolution gegenüber beweisen. Nicht für den Tod des Königs zu votieren, hätte bedeutet, für meinen eigenen Tod zu stimmen.

Sie sagten, Sie wollten nicht an die Macht? Ich glaube Ihnen nicht.

Natürlich wollte ich das. Ich hatte gehofft, Frankreich gut und weise regieren zu können. Ich hatte gehofft, Louis Charles zu befreien und als Regent für ihn zu dienen, nach dem Tod seines Vaters. Aber dazu kommt es jetzt nicht mehr. Frankreich hat die Könige abgeschafft, allerdings nicht die Tyrannen, fürchte ich.

Sie haben den Mob bezahlt, Versailles zu erobern. Und letzten September haben Sie ihn erneut bezahlt, sagte ich. Die Gitterstangen zwischen uns machten mich kühn.

Ach, wirklich? Ich muss viel mächtiger und weitaus reicher sein, als ich dachte.

Machen Sie sich nicht lustig über mich. Was ist mit Louis Charles? Was war er für Sie? Ein bloßes Hindernis für Ihre Ambitionen?

Nein. Eher ein Stolperstein. Wie für dich.

Bei seinen Worten stockte ich, allerdings nur einen Moment. Er ist jetzt Waise, sagte ich. Ein armes, unglückliches Kind. Sie haben für seine Inhaftierung gestimmt. Für seine Misshandlung durch Simon. Das haben Sie getan und ich habe Ihnen dabei geholfen. Durch mein Spionieren. Durch all die Informationen, die ich Ihnen gab. Sie sind ein Teufel!

Die schwarzen Augen des Herzogs blitzten vor Zorn. Ich frage dich, kleiner Spatz, wer ließ sein einziges Kind, von Dieben verhöhnt, an einem Kreuz sterben. War das der Teufel? Nein. Nenn mich den Teufel, wenn du willst. Ich halte das für eine Ehre.

Eine Spinne lief über den Boden. Der Herzog von Orléans beugte sich hinab, hob sie auf, setzte sie an die Gitterstäbe seines Fensters und sah zu, wie sie in die Freiheit hinauskroch.

Warum halten sie ihn immer noch fest? Warum lassen sie ihn nicht frei? Was kann er ihnen denn tun? Er ist doch nur ein kleiner Junge, fragte ich.

Er ist viel mehr als ein kleiner Junge. Das weißt du genau. Robespierre wird ihn nie freilassen. Er wird in diesem Gefängnis sterben, antwortete der Herzog.

Aber neben Robespierre gibt es noch andere. Mächtige Männer, große Männer. Danton. Desmoulins. Sie könnten ihm helfen.

Sie werden nichts für ihn tun. Genauso wie sie jetzt für mich nichts tun. Weil es ihnen keinen Vorteil verschafft. Hast du denn gar nichts gelernt während deiner Zeit bei mir? Weißt du immer noch nicht, dass große Männer selten moralisch handeln?

Aber ich wollte nicht auf ihn hören. Wie eine Wahnsinnige wollte ich nicht aufgeben. Es muss doch noch andere geben, die Komplotte schmieden, wie Sie es getan haben, andere, die ihn in Freiheit sehen möchten, sagte ich in der Hoffnung, der Herzog würde mir von diesen Menschen berichten, falls es sie gäbe.

Aber er schwieg. Stattdessen streifte er seine Ringe ab, steckte seinen Arm durch die Gitterstäbe und ließ sie in meine Hand fallen. Damit und einschließlich dem, was du mir gestohlen hast – oh ja, ich weiß Bescheid –, kannst du deine Flucht aus Paris bezahlen, sagte er.

Dann ging er zu einem kleinen Holztisch in der Ecke seiner Zelle, schrieb schnell eine Nachricht, versiegelte sie und reichte sie mir.

Was ist das?, fragte ich ihn.

Ein Empfehlungsbrief. Ursprünglich war er für die Pariser Bühne gedacht, aber hier darfst du nicht bleiben. Geh nach London. In die Drury Lane. Übergib ihn einem Mann im Garrick-Theatre. Er ist ein Freund von mir. Er wird dir helfen.

Das werde ich nicht!, rief ich. Ich habe Geld von der Königin – zwanzig Louis d’or – und jetzt diese Ringe von Ihnen. Ich werde ihn herausholen, wenn kein anderer es tut. Dann eben ich selbst!

Daraufhin sah er mich mit einem Blick an, den ich nicht von ihm kannte – ein Blick voll unglaublicher Traurigkeit. Vergiss den Jungen, kleiner Spatz, sagte er. Es gibt nichts, was du für ihn tun kannst. Du müsstest dich gegen die ganze Welt stellen, um ihn zu befreien, und die Welt gewinnt immer.

Kurz darauf holten sie ihn. Umjohlt von der blutrünstigen Menge wurde er auf einem offenem Karren zum Schafott gefahren. Er gab sich tapfer, bis zum bitteren Ende. Er schenkte ihnen nichts. Keine Grimasse. Keine Träne. Kein Wort.

Ich weinte, als er starb.

Wie ein Hund, der um seinen Herren heult, der ihn geschlagen hat.

30. Mai 1795

Ich versuchte wegzulaufen. Ein Mal. Im Juni 1794. Einige Monate, nachdem der Herzog Orléans hingerichtet worden war.

Ich war verzweifelt, weil ich versagt hatte. Woche um Woche hatte ich fieberhaft an einem Plan gearbeitet, um Louis Charles aus dem Gefängnis zu schmuggeln.

Ich hatte einen alten, zerlumpten Totengräber gefunden, der tun wollte, worum ich ihn gebeten hatte – darum, die Leiche eines Jungen, noch frisch, nicht modernd, ins Haus der Gefängniswäscherin zu bringen. Die Wäscherin und ihre Tochter hatte ich überredet, die Leiche in einen großen Weidenkorb zu legen, sie mit frischen Laken zuzudecken, ins Innere des Gefängnisses zu schaffen und in der Wäschekammer zu verstecken.

Danach müsste ich nur noch Louis Charles’ Wächter dazu bringen, die Leiche von der Wäschekammer in die Zelle zu schaffen und das tote Kind gegen das lebendige auszutauschen. Dann sollte der Wächter Louis Charles in die Spülküche bringen und ihn in einem anderen Weidenkorb mit schmutziger Wäsche verstecken. Die Wäscherin und ihre Tochter würden am nächsten Morgen den Korb abholen, ihn auf ihren Karren hieven und nach Hause fahren. Niemand würde ihnen Fragen stellen. Sie waren bekannt und ihnen wurde vertraut. Ich würde auf sie warten. Ich würde ihn waschen, ihm frische Kleider anziehen und sein Haar schwarz färben. Wir würden den Einbruch der Nacht abwarten und uns dann aus der Stadt hinausschleichen. Die Tore sind verschlossen nach Einbruch der Dunkelheit, aber es gibt mehr als einen Durchschlupf in der Mauer, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Es war ein kühner und gefährlicher Plan, aber ich glaubte, er würde funktionieren. Die Hilfe des Totengräbers hatte ich mir für zwei Louis d’or erkauft. Die Wäscherin und ihre Tochter wollten sechs. Das Schwierigste jedoch wäre, den Nachtwächter von Louis Charles zu überzeugen. An ihn wandte ich mich erst, als ich die anderen gewonnen hatte. Ich sprach ihn an, als er vom Gefängnis nach Hause ging, und bot ihm die restlichen zwölf Louis d’or sowie die Ringe des Herzogs von Orléans. Den Rest meiner Beute – jene Dinge, die ich dem Herzog gestohlen hatte – würde ich zum Überleben brauchen, nachdem ich mit Louis Charles aus der Stadt geflohen wäre.

Er lächelte nicht, als ich auf ihn zutrat, aber er ließ mich reden und lachte laut auf, als ich ihm die Münzen und Ringe anbot.

Du glaubst wohl, du wärst die Erste, die so einen Plan ausgeheckt hat?, fragte er. Es vergeht keine Woche, ohne dass mich jemand in ein albernes Komplott verwickeln will, und zwar für ganz andere Summen als dieses Almosen, das du mir bietest. Ich werde genau überwacht. Garantiert ist uns heute Nacht jemand vom Gefängnis gefolgt und bereits auf dem Weg zu Fouquier-Tinville, um ihm von unserer Unterhaltung zu berichten. Morgen wird man mich darüber befragen, und ich werde sagen, dass du eine Freundin bist, die Arbeit braucht und nur wissen wollte, ob ich von einer Stelle gehört hätte.

Der Name Fouquier-Tinville war mir bekannt. Nach Robespierre war er der meistgefürchtete Mann in Paris. Fouquier-Tinville war das Oberhaupt des Revolutionstribunals, jenes Gerichts, das Leute anklagte, denen Verbrechen gegen die Republik vorgeworfen wurden. Er schickte jeden Tag Dutzende auf die Guillotine.

Doch die Angst hielt mich nicht ab. Bitte, sagte ich zu dem Mann, Sie müssen ihm helfen, sonst stirbt er. Ich treibe mehr Geld für Sie auf. Sie werden …

Er lächelte und klopfte mir freundlich auf den Rücken – sicher nur für den Fall, dass wir beobachtet wurden. Immer noch lächelnd beugte er sich zu mir herab und sagte mit leiser und drohender Stimme: Wenn du das noch einmal probierst, zerre ich dich höchstpersönlich vors Tribunal. Ich habe Frau und Kinder, und als Toter bin ich nutzlos für sie. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich eher dafür sorgen werde, dass dein Kopf im Korb landet, als dir die Gelegenheit zu bieten, meinen dorthin zu befördern. Dann küsste er mich auf die Wangen, sagte laut, dass er sehen würde, was er für mich tun könne und machte sich pfeifend auf den Heimweg.

Ich sah ihn davongehen und wandte mich dann selbst ab. Als ich durch die nächtlichen Straßen ging, begriff ich, dass ich Louis Charles nie würde befreien können, dass es nichts gab, was ich tun konnte. Ich liebte ihn, ja, aber was vermochte Liebe in einer so dunklen Welt wie dieser auszurichten?

Ich ging zur Stadtmauer in dieser Nacht, zu einem alten und schlecht bewachten Teil. Ich hoffte, dort durch ein Loch zu entkommen und beim Morgengrauen schon ein gutes Stück des Weges nach Calais zurückgelegt zu haben. Ich würde meinen unrechtmäßig erworbenen Schatz dazu verwenden, mich nach London durchzuschlagen und dort davon zu leben. Das Schreiben des Herzogs von Orléans würde mir zu einer Stelle am Garrick-Theatre verhelfen. Zu guter Letzt käme ich doch noch auf die Bühne. Der Gedanke hätte mich eigentlich glücklich machen müssen.

Ich kniete mich am Fuß der Schutzmauer nieder und schob die Gitarre, die mir die Königin gegeben hatte, durch ein Loch zwischen den Steinen. Gerade, als ich selbst hindurchkriechen wollte, hörte ich eine ohrenbetäubende Explosion.

Nicht schießen!, schrie ich, überzeugt, dass es die Garde war.

Ich drehte mich um und erwartete, Männer mit Gewehren zu sehen, aber es war niemand da. Ich hörte eine weitere Explosion, und dann noch eine, und bemerkte, dass der Lärm nicht von einem Gewehr, sondern vom Himmel kam. Über Paris war ein Feuerwerk gezündet worden. Ich konnte mir nicht vorstellen, zu welchem Zweck. Und dann fiel es mir ein – das Fest des Höchsten Wesens wurde begangen. Die Revolutionäre hatten Schluss gemacht mit den Königen und das schloss auch Gott mit ein. Nach einiger Überlegung hatte Robespierre jedoch eingelenkt und verfügt, dass Gott in Paris bleiben könne, aber nur, wenn er sich wie ein guter Patriot verhielt und sich einen Republikaner nannte. Heute Nacht wurde ein Festzug zu Ehren der neu erfundenen Gottheit veranstaltet.

Ich blickte zu dem Feuerwerk hinauf. Es war wunderschön. Dergleichen hatte ich seit meinem Weggang aus Versailles nicht mehr gesehen. Als ich die Feuerwerkskörper am Nachthimmel aufleuchten sah, hörte ich wieder Louis Charles’ leise, traurige Stimme:

 

Sie sehen aus wie zerbrochene Sterne.

Wie Mamans Diamanten.

Wie die Seelen im Himmel.

Konnte er das Feuerwerk in seinem Turm hören? Blickte er durch sein Fenster hinauf, um es zu sehen? Drang das Licht der Raketen in seine gequälten Augen?

Sicher, die Welt war schwarz, aber dennoch erstrahlte das Feuerwerk über allem.

Ich zog meinen Beutel und die Gitarre durch die Mauer zurück und begab mich auf den langen Heimweg zu meiner Kammer. Jetzt wusste ich, was ich zu tun hatte. Und dass ich es nie bis London schaffen würde.

31. Mai 1795

Ein Diamantarmband. Die letzten Goldmünzen der Königin. Das ist praktisch alles, was mir noch geblieben ist.

Fauvel lässt es durch die Finger gleiten und schüttelt den Kopf. Ich kann das nicht mehr tun, sagt er. Bitte mich nicht mehr darum.

Bitte, Fauvel.

Er nimmt das Armband und begutachtet es.

Zwanzig deiner besten Raketen. Die schönsten, die du je gemacht hast. Schön genug, um die Sterne zu beschämen.

Er antwortet immer noch nicht.

Bitte, Fauvel.

Er steckt das Armband und die Münzen ein und küsst mich auf die Wange. Und ich weiß, was danach kommen wird. Ich weiß es. Aber er kann jetzt nicht mehr anders. Ebensowenig wie ich.

Am Ende schließlich habe ich bekommen, was ich wollte – eine Bühne, auf der ich glänzen kann, ein Publikum, das applaudiert. Denn ganz Paris sieht mir inzwischen zu. Man redet von nichts anderem. In der Nationalversammlung, in den Kaffeehäusern, den Wäschereien, Fabriken und Marktständen, überall spricht man von den Feuerwerken. Die Zeitungen sind voll von meinen Taten. Kein Schauspieler hat je Vergleichbares geschafft, nicht einmal der große Talma.

Aber jetzt gibt es nur noch einen im Publikum, der mir wichtig ist. Nur einen einzigen Zuschauer.

Seinetwegen streife ich nachts durch die Straßen. Seinetwegen klettere ich auf steile Hausdächer. Seinetwegen renne ich davon, immer nur einen Schritt den Wachen voraus. Seinetwegen strample ich mich ab und verstecke mich, verbinde meine verbrannten Hände, schlafe bei den Toten.

Ich weiß, dass es nicht so bleiben kann. Dass meine Zeit bald kommt. Mein Schatz schmilzt dahin. Bonaparte tobt. Fauvel rennt zu den Wachen.

Aber ich mache dennoch weiter mit meinen Raketen.

Denn, ach, wie schmerzt mich der Gedanke, dass der Herzog von Orléans recht gehabt haben könnte.

Wie schmerzt mich der Gedanke, dass die Welt immer gewinnt.

Lilie  58   Lilie

Ich blättere um. Es gibt noch einen Eintrag. Nur noch einen einzigen. Den letzten. Er datiert auf den 1. Juni 1795.

Und er ist mit Blut beschmiert.

»Nein«, sage ich und klappe das Tagebuch zu. »Nein.«

Wie dumm war doch meine Hoffnung. Der hässliche Fleck ist Blut. Alex’ Blut. Etwas Schreckliches ist passiert. Die Wachen haben sie erwischt. Sie wurde in die Enge getrieben oder verwundet, überlebte aber noch lang genug, um den letzten Eintrag niederzuschreiben. Was steht darin? Dass sie unter Qualen gestorben ist? Allein? Dass sie völlig umsonst gestorben ist?

Während ich den Fleck betrachte, stelle ich fest, dass das Tagebuch zittert. Nein, es ist nicht das Tagebuch, sondern es sind meine Hände. Mein ganzer Körper. Die Tabletten, die ich beim Aufstehen genommen habe, wirken nicht. Ich greife nach dem Fläschchen und nehme noch eine, dann gehe ich auf und ab und warte, dass die Wirkung einsetzt.

Zehn Minuten später fühle ich mich noch schlechter. Die Pillen wirken nicht mehr. Ich blicke auf meine Hände. Sie zittern immer noch. In meinem Kopf ist ein Dröhnen, ein dumpfes Grollen. Wie ein Erdbeben. Der Schmerz ist seismisch. Er wird mich schütteln, bis ich zerspringe und in Stücke breche. Ich muss mich bewegen. Irgendwohin gehen. Egal wohin. Ich muss zusehen, dass ich dem Schmerz einen Schritt voraus bin.

Während ich im Flur stehe und überlege, wohin ich gehen soll, höre ich Schritte und Stimmen auf dem Treppenabsatz und dann einen Schlüssel in der Tür. Es sind Dad und G.

»Hallo«, sage ich und bemühe mich, normal zu klingen.

»Hallo«, antwortet Dad.

»Hallo, Andi«, sagt G.

G. sieht schrecklich aus – müde, zerknittert und übernächtigt. Ein seltsamer Typ ist hinter ihm. Er trägt einen dunklen Anzug, einen Knopf im Ohr und eine Sonnenbrille. Er ist riesengroß. Unter seiner Anzugsjacke zeichnen sich zwei aufgeblähte Bizepse ab. Er nickt mir zu. Ohne zu lächeln. Dad wirft ein paar Ordner auf den Tisch im Gang und lässt seine Aktentasche fallen. Dann zieht er seinen Pullover aus und lässt ihn ebenfalls einfach fallen.

»Ähm, Dad? Wer ist …«

»Das ist Betrand. Vom französischen Geheimdienst«, antwortet er und reißt die Tür des Wandschranks auf.

»Vom Geheimdienst? Ich verstehe nicht. Was ist los?«

Er nimmt einen blauen Blazer aus dem Schrank und zieht ihn über. »Wir haben heute Morgen die Untersuchungen des Herzens abgeschlossen«, sagt er. »Und dann hat irgendjemand die verdammten Daten durchsickern lassen. In einer Stunde steht alles im Internet. Alles ist im Eimer.«

»Der Präsident wünscht eine Unterredung«, fügt G. hinzu. »Sofort. Er hat keine Lust, die Informationen über CNN zu erfahren. Sein Büro hat uns einen Wagen geschickt. Wenn wir das hinter uns haben, müssen wir die Pressekonferenz in Saint-Denis abhalten. Der Mémorial reißt sich sämtliche Beine aus, um alles auf die Reihe zu kriegen.«

»Warte mal … wie bist du überhaupt hergekommen, G.?«, frage ich ihn. »Die Flughäfen sich doch geschlossen.«

»Mit dem Auto.«

»Den ganzen Weg von Deutschland?«, frage ich ungläubig.

»Ich bin gestern früh losgefahren. Mit dem Zug ging’s nicht, also hab ich mir einen Mietwagen genommen.«

»Andi, hast du irgendwo meine gelbe Krawatte gesehen?«, fragt Dad.

»Sie ist hier«, antworte ich und ziehe sie von Sofalehne. Er nimmt sie und klappt seinen Kragen hoch. G. rennt in sein Schlafzimmer, taucht eine Minute später wieder auf, inzwischen auch im Jackett, und fummelt ebenfalls an einer Krawatte herum.

Während ich zusehe, wie sie durch die Wohnung hasten, versuche ich, den Mut aufzubringen, sie zu fragen, was ich unbedingt wissen muss.

»Dad?«

»Uhm?«, antwortet er und bindet seinen Krawattenknoten.

»Ist es sein Herz?«

»Ja«, sagt er.

Nein, denke ich. Bitte nicht.

»Bist du sicher?«, frage ich.

Dad kriegt den Knoten nicht hin, flucht und beginnt wieder von vorn. »Wir – die beiden anderen Genetiker und ich – haben uns die Proben der mitochondrialen DNA angesehen … du weißt, was die mtDNA ist, oder?«, fragt er. »Sie wird nur von der Mutter vererbt und unverändert in mütterlicher Linie weitergegeben, sie ist einfacher zu verfolgen als die DNA beider Elternteile.«

»Ja, das weiß ich«, erwidere ich ungeduldig.

»Also haben wir die mtDNA des Herzens mit der mtDNA einiger noch lebender Verwandten Marie Antoinettes verglichen, und sie stimmten exakt überein. Außerdem haben wir bestimmte Werte des Herzens mit den D-Loop-Sequenzen der mtDNA einer Haarlocke Marie Antoinettes und mit Haarproben zweier ihrer Schwestern verglichen. Wir haben zwei hypervariable Regionen der D-Loop-Sequenzen – HVR 1 und HVR 2 – geprüft und Übereinstimmung für HVR 1 in allen drei Proben gefunden.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, dass das Herz einem Kind gehörte, das in mütterlicher Linie mit den Habsburgern verwandt ist – also mit Marie Antoinettes Familie.«

»Das ist also deine Meinung?«

»Das ist eine wissenschaftliche Tatsache.«

»Aber Marie Antoinette hatte mehrere Kinder. Woher weißt du, dass es nicht von einem der anderen stammt?«

G. antwortet mir: »Weil das Herz zu groß ist, um von Sophie-Béatrix zu stammen, die kurz nach ihrem ersten Geburtstag gestorben ist«, sagt er. »Und es ist zu klein, um Marie-Thérèse gehört zu haben, die schließlich aus dem Gefängnis freigelassen wurde und im Erwachsenenalter verstarb.«

»Was ist mit Louis-Joseph? Mit Louis Charles’ älterem Bruder? Er ist doch auch als Kind gestorben«, erwidere ich.

»Ja, das stimmt. Aber er starb vor der Revolution und bekam eine königliche Beerdigung. Und der Tradition gemäß wurde sein Herz zur Einbalsamierung entnommen. Es muss aufgeschnitten und mit Kräutern gefüllt worden sein. Das Herz, das wir hier haben, wurde hingegen nicht auf diese Weise einbalsamiert. Es kann also nicht von Louis-Joseph stammen.«

Meine letzten Hoffnungen schwinden und erlöschen wie das Licht einer heruntergebrannten Kerze.

»Was ist mit Cousins? Hatte Marie Antoinette denn keine Schwestern? Diese hatten vermutlich doch auch Kinder? Könnte das Herz nicht von einem dieser Kinder stammen?«

»Es gab Habsburger Cousins, ja«, sagt G. bedächtig und mit besorgtem Blick. Wahrscheinlich ist ihm die Verzweiflung in meiner Stimme nicht entgangen. »Das waren alle Kinder königlichen Geblüts, die im Ausland lebten. Die These, dass eines ihrer Herzen gestohlen, konserviert und nach Paris geschmuggelt worden sein könnte und dass alle, die auf verschiedene Weise am Transport dieses Herzens nach Saint-Denis beteiligt gewesen wären, gelogen hätten … ist einfach unrealistisch, Andi. Nichts in der Geschichte deutet darauf hin – von einem Beleg ganz zu schweigen –, dass dergleichen geschehen ist. Das Herz ist das von Louis Charles.«

»Bist du sicher, G. … absolut sicher?«

»Ja, das bin ich.«

»Dad?«

»Als Wissenschaftler kann ich nicht …«

»Tu einfach mal eine Minute lang so, du wärst du es nicht, okay?«, unterbreche ich ihn. Alle hören jetzt deutlich meine Verzweiflung, die inzwischen zur Hysterie angewachsen ist. Die ich nicht mehr beherrschen kann.

»Als wäre ich was nicht?«

»Ein Wissenschaftler. Tu so, als wärst du ein menschliches Wesen. Nur dieses eine Mal.«

»Andi?«, fragt er. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Was …«

»Bist du sicher?«, frage ich ihn.

Er sieht mich schweigend an, in seinen Augen glimmt Verständnis auf, dann antwortet er: »Würde ich mich allein auf die Geschichte stützen, wäre ich nicht sicher, nein. Wie du und G. wohl wisst. Jedoch aufgrund eindeutiger wissenschaftliche Beweise im Verbund mit zufälligen historischen Belegen, würde ich sagen: Ja, ich glaube, dieses Herz gehörte Louis Charles. Als Wissenschaftler – und als menschliches Wesen – ist das meine Überzeugung. Tut mir leid, Andi, wahrscheinlich hast du dir eine andere Antwort gewünscht.«

Ich fühle mich ausgehöhlt. Ausgebrannt. Vollkommen leer.

»Dr. Alpers, Professor Lenôtre, wenn Sie so freundlich wären«, sagt Betrand.

G. packt seine Aktentasche und eilt hinaus. Dad hinter ihm her. Bevor er geht, dreht er sich noch einmal um und sagt: »Ich komme nach der Pressekonferenz nach Hause. So gegen sieben. Wir sehen uns dann. Vielleicht können wir zusammen essen.« Die Tür schlägt zu. Er ist fort.

Ich hole Alex’ Tagebuch. Es ist noch eine ungelesene Seite darin, und in mir brennt nur noch ein winziges Flämmchen.

Vielleicht hat sie es geschafft. Nach seinem Tod wird sie vermutlich damit aufgehört haben, Feuerwerke zu zünden. Aufgehört haben, ihr Leben zu riskieren. Aufgehört haben davonzulaufen. Vielleicht stammt das Blut auf der Seite nur von einer Verletzung. Sie wird verletzt gewesen sein, hat aber überlebt, wie schon einmal. Und ist irgendwie davongekommen.

Ich öffne das Tagebuch zum letzten Mal und beginne zu lesen.

Lilie  59   Lilie

1. Juni 1795

Warum, kleiner Spatz?

Es ist der Herzog von Orléans.

Ich öffne die Augen, kann ihn aber nicht sehen. Der

Schmerz in meiner Seite lähmt mich. Ich bin in den Katakomben. Sitze in einer Lache aus meinem eigenen Blut, gegen eine Mauer gelehnt. Eine Wache hat mich angeschossen.

Warum hast du das getan?, fragt er mich. Sie haben dich umgebracht.

Weil … weil ich ein Mal …

Ich will es ihm sagen. Die Wahrheit niederschreiben. So lange ich noch kann. Die Wahrheit über die Revolution. Nicht über die Revolution anno 1789 in Paris, sondern über meine ganz persönliche. Aber ich kann nicht sprechen. Der Schmerz lässt es nicht zu.

Der Herzog lacht leise. Jetzt kann ich ihn sehen. Blut und Seide. Augen so dunkel wie die Mitternacht. Er beugt sich zu mir herab. Sein Atem riecht wie Regen.

Ein Mal? Was – ein Mal? Es war einmal? Vor langer Zeit, als Könige gegen Drachen kämpften und Küchenmädchen in Glasschuhen tanzten? Einmal vor langer Zeit, als Prinzen aus ihren Verliesen entflohen?

Nein. Hören Sie zu. Bitte, hören Sie mir zu …

Er schnalzt mit der Zunge. Die Märchen haben dich getäuscht. »Es war einmal …« hat es nie gegeben. Es gibt keinen freundlichen Jäger. Keine guten Feen. Es gibt nur den Wolf. Der inzwischen so kühn geworden ist, dass er durch die Straßen von Paris streicht und die Rippen eines Kindes als Zahnstocher benutzt. Nichts ändert sich, kleiner Spatz. Siehst du das nicht? Die Welt dreht sich weiter, morgen genauso stumpfsinnig und brutal wie heute.

Und obwohl ich vor Schmerz zittere, mich krümme und schluchze, muss ich lachen. Weil ich jetzt genug weiß. Die Antwort, die Wahrheit kenne.

Ach, toter Mann, sage ich, du täuschst dich gewaltig. Siehst du das nicht? Die Welt dreht sich weiter, stumpfsinnig und brutal, aber ich –

Und hier bricht der Text ab. Hört einfach auf.

Und was auch immer sie mir sagen wollte, ist nicht da.

Es gibt keine Antwort. Keine Erklärung. Keine Wahrheit. Nichts.

Ich weiß nicht, ob sie überlebt hat oder gestorben ist. Ich kenne das Ende ihrer Geschichte nicht und werde es nie erfahren.

Alles, was ich weiß, ist, dass ein kleiner Junge in Paris starb, vor langer Zeit, allein in einer dunklen, schmutzigen Zelle. Und ein anderer Junge starb auf einer Straße in Brooklyn, sein kleiner Körper zerschmettert und blutüberströmt.

Ich lege die Finger auf den Fleck. Blut verfärbt sich immer dunkel. Auf Papier. Auf Kleidern. Auf Asphalt. Und dann schließe ich das Tagebuch.

Ich dachte, dies alles würde zu etwas führen. Ich dachte, in diesen Seiten wäre mehr als Traurigkeit, Blut und Tod.

Aber das stimmt nicht. Und die Verzweiflung, die immer in mir ist, die tief in meinem Innern wurzelt, blüht plötzlich zu etwas auf, das so riesig, schwarz und erstickend ist, dass ich keine Luft mehr bekomme.

Ich stehe auf, lege das Tagebuch in den alten Gitarrenkoffer und lasse ihn unverschlossen auf dem Esstisch zurück, wo G. ihn nicht übersehen wird. Dann hole ich meine Jacke und meine Tasche. Und meine eigene Gitarre.

Ich kenne das Ende der Geschichte.

Von Alex und mir.

Ich habe es die ganze Zeit gekannt.

Lilie  60   Lilie

Es ist spät nachts. Der Eiffelturm ist beleuchtet und wunderschön. Ich sitze auf einer Bank unter Bäumen auf dem Champ de Mars und blicke zu ihm hinüber. Ich bin schon seit Stunden hier. In der Dunkelheit. Der Kälte. Ich habe versucht, Gitarre zu spielen, konnte es aber nicht. Ich kann meine Musik nicht mehr finden. Kann diese eine Note nicht finden.

Jetzt höre ich zu, wie andere Leute spielen. Ich kann sie nicht sehen, aber hören. Sie sind irgendwo in der Nähe. Ich höre eine Gitarre, eine Mandoline, Bläser, die Stimme eines Mädchens.

Ich bin müde. Mein Kopf ist benebelt von den vielen Tabletten. Meine Füße schmerzen. Ich bin den ganzen Weg von G.s Haus zu Fuß hierher gelaufen.

Aber es ist okay.

Ich muss nicht mehr weit gehen.

Nur noch einen Schritt.

Lilie  61   Lilie

Ich stehe in der Schlange vor dem Turm. Es ist eine gute Entscheidung, eine sichere Sache. Besser als der Fluss. Manchmal überleben Leute den Fluss.

Um mich herum sind Touristen, sie reden und lachen. Händler verkaufen gefälschte Rolex-Uhren, Halstücher und Schlüsselketten. Die Musik, die ich vorher von fern gehört habe, dringt jetzt aus größerer Nähe zu mir herüber. Sie ist schön, wild und ungebärdig. Ich blicke mich nach den Musikern um, starre in die Dunkelheit, kann sie aber nicht sehen.

Die Schlange schiebt sich vorwärts und ich mich mit ihr. Die Musik bricht ab. Ein paar Minuten später stehe ich vor der Kasse. Ich ziehe mein Geld heraus, aber der Mann sagt, ich dürfe nicht rauf – nicht mit meiner Gitarre. Ich müsse sie zurücklassen, wenn ich hinauf will. Ich frage ihn, wo ich sie unterstellen könne. Er sagt, das sei kein Flughafen hier, es gebe keine Gepäckaufbewahrung. Er bedeutet mir, den Platz vor der Kasse freizumachen. Die Leute hinter mir fangen an zu murren. Der Mann an der Kasse sagt, ich solle zur Seite zu treten. Ein Paar drängt sich an mir vorbei.

Und dann höre ich eine andere Stimme: »Hey! Hey, Andi!«

Ich drehe mich um. Virgil steht da. Er ist außer Atem. Jules, zwei weitere Typen und ein Mädchen stehen in einiger Entfernung und beobachten uns.

»Hey.«

»Hey«, antworte ich.

»Wolltest du gestern nicht nach Hause fliegen? Was machst du hier? Bist du Touristin heute Abend?«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und übergehe die ersten beiden Fragen. »Ja, ich bin Touristin heute Abend. Was machst du hier? Warum sitzt du nicht in deinem Taxi?«

»Montags ist mein freier Abend«, antwortet er.

»Mademoiselle, würden Sie bitte zurücktreten!«, sagt der Sicherheitsmann. Das mache ich. Fühle mich aber wacklig auf den Beinen und in die Enge getrieben.

»Wir haben gerade zu spielen aufgehört.«

»Wart ihr das?«, frage ich. »Das hat sich gut angehört. Die Bläser haben mir gefallen.«

»Danke. Ich wünschte, die Touristen wären deiner Meinung. Sie sind nicht gerade in Geberlaune heute Abend, und uns ist es zu kalt, um noch länger hier draußen zu bleiben. Wir haben ohnehin gleich einen Gig. Einen bezahlten. Auf einer Party.« Er stößt mit der Fußspitze gegen meinen Fuß. »Komm doch mit. Wir lassen den Hut rumgehen. Mit zwei Mädchen in der Band machen wir noch mehr Kohle.«

»Virgil! Komm endlich!«, ruft einer seiner Freunde.

»Gleich!«, ruft Virgil zurück.

Ich möchte nicht mehr reden. Ich möchte gehen. Jetzt auf der Stelle.

»Nimm mir das bitte ab«, sage ich und reiche ihm meine Gitarre. »Ich kann sie nicht mit nach oben nehmen und möchte sie nicht … einfach hier unten lassen.«

»Ich kann nicht. Ich muss los.«

»Ist schon okay. Du musst nicht auf mich warten. Nimm sie einfach mit.«

»Aber wie soll ich sie dir zurückgeben?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie halt.«

Mein Blick ist in die Ferne gerichtet, nicht auf ihn, aber er stellt sich vor mich und zwingt mich, ihn anzusehen. Jetzt lächelt er nicht mehr. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Jetzt komm schon, Mann«, sagt jemand und zupft Virgil am Ärmel.

Virgils Freunde kommen zu uns herüber. Er will mir noch etwas sagen – das sehe ich ihm an –, aber jemand fragt: »Wer ist das?« Worauf er uns einander vorstellt. Da ist Constantin, zerzaust und dünn, mit großen weißen Zähnen. Charon, der eine Trompete hält. Khadija, das schöne Mädchen aus dem Rémy’s. Jules kenne ich schon. Ich murmle ein paar Hallos, während mich der Schmerz bei lebendigem Leib auffrisst.

»Kommst du?«, fragt Charon.

»Noch einen Moment«, sagt Virgil und sieht mich immer noch an.

»Das wär’s«, bellt der Sicherheitsmann. »Wir sind voll. Keiner mehr.«

Ich fahre herum. Er schließt das Aufzugstor.

»Nein! Warten Sie!«, rufe ich. Ich schiebe Virgil die Gitarre zu und laufe zur Kasse. Werfe mein Geld auf den Schalter. »Bitte!«

»Wir haben geschlossen«, sagt der Kassenmann.

Ich sehe auf meine Uhr. »Aber es ist erst elf. Der Turm wird doch nicht vor Viertel vor zwölf geschlossen. Das steht auf dem Schild!«

»Richtig, der Turm wird um elf Uhr fünfundvierzig geschlossen, aber der letzte Aufzug geht um elf.«

»Bitte, lasse Sie mich mit«, sage ich und schiebe ihm das Geld hin.

Er schiebt es zurück. »Tut mir leid«, antwortet er.

Mit dem Geld in der Hand renne ich zum Gitter und bitte den Sicherheitsmann, mich einsteigen zu lassen. Er hebt die Hand wie ein Verkehrspolizist und schließt die Aufzugstür.

»Ich muss mitfahren!«, flehe ich und strecke ihm mein Geld entgegen. Biete ihm mehr. Die Leute im Aufzug starren mich an. Ich beginne zu weinen.

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Turm läuft nicht davon. Kommen Sie morgen wieder«, sagt der Sicherheitsmann.

Aber ich kann nicht bis morgen warten. Der Schmerz ist zu groß. Lässt nicht nach. Wird immer schlimmer. Der Sicherheitsmann drückt auf einen Knopf und der Aufzug hebt ab. Ich schluchze inzwischen. Sinke auf die Knie und schlage mit dem Kopf gegen das Gitter.

»Hören Sie auf damit. Sofort! Oder ich rufe die Polizei«, sagt der Sicherheitsmann warnend.

Ich spüre Hände unter meinen Armen, die mich hochziehen. Es ist Virgil. Er stellte mich auf die Füße und führt mich weg von dem Gitter. Seine Freunde sind bei ihm. Ihre Augen sind größer als ihre Gesichter.

Constantin nimmt eine Broschüre von dem Ständer neben dem Kassenfenster. Unsicher lächelnd kommt er auf mich zu und reicht sie mir. »Der Louvre ist auch gut«, sagt er. »Da gibt’s ’ne Menge Kunstwerke.«

Charon sagt: »Sacré-Cœur ist auch toll.«

Jules sagt: »Du musst die Place de Vosges besuchen.«

»Vielleicht gehst du ja gern shoppen«, sagt Khadija. »Geh ins Bon Marché. Da gibt’s ’ne Menge Schmuck.«

Ich muss lachen. Es klingt traurig und verrückt zugleich. »Danke«, antworte ich, »das werde ich machen. Schön, euch alle kennengelernt zu haben. Tut mir leid wegen der grässlichen Szene eben.«

Ich will gehen, aber Virgil packt mich am Arm. »Kommt nicht infrage. Du kommst mit uns. Los, gehen wir.« Ich sehe ihm an, dass er sich Sorgen macht.

Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln. »Schon okay. Wirklich. Mir geht’s schon wieder besser. Ich … ich hab einfach zu viel Kaffee getrunken.«

Ich versuche, mich loszumachen, aber er gibt meinen Arm nicht her. »Ich kann nicht mit dir kommen, weil ich einen Auftritt habe, den ich nicht absagen kann. Ich brauche das Geld. Die anderen auch«, sagt er und deutet mit dem Daumen auf seine Freunde. »Also kommst du mit mir.«

»Nein.«

Er schüttelt den Kopf. Flucht. Seine schönen Augen blitzen vor Zorn. Er beugt sich ganz nah zu mir und sagt: »Soll ich dich hochheben und wegschleppen? Genau das werde ich nämlich tun.«

Ich erwidere nichts, versuche aber nicht mehr, mich loszureißen.

Constantin sieht zuerst mich, dann Virgil an. »Gehen wir jetzt?«, fragt er unsicher.

Virgil wischt mit dem Ärmel seines Kapuzenshirts mein Gesicht ab. »Ja, Tino«, sagt er. »Wir gehen.«