Die Schattenwandler

Throll erhob einen Becher in Richtung seiner Freunde. »Aubrey, sei stark. Du hast gewusst, dass es kommen würde.«

Es war sehr spät in der Nacht – oder genauer gesagt, sehr früh am Morgen –, und die Gäste waren mittlerweile in ihre Unterkünfte getorkelt. Nur noch Throll, seine bezaubernde Frau Gwen, Honfrion sowie Jared und Aubrey beobachteten, wie die Diener die Rückstände der Feier wegräumten.

Aubrey wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich weiß. Aber bald heiratet Aaron seine Sloane, und dann ist jemand anders für meine Jungs zuständig.«

Gwen ergriff Aubreys Hand. »Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Mir kommt es wie gestern vor, dass Sloane auf meinem Schoß gehopst ist und nur mit mir reden wollte. Jetzt will sie nur noch mit Aaron reden – oder nutzt ihre Magie, um sich mit sämtlichen Tieren auf dem Bauernhof zu unterhalten. Sogar Zenethar zieht sich inzwischen von mir zurück. Er will ständig unterwegs sein und seine Magie üben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht mehr gebraucht werde.«

Throll sah Jared an. »Erwarten uns künftig nur noch so trübsinnige Unterhaltungen?«

Jared lachte und wechselte das Thema. »Honfrion, hast du eine Ahnung, wohin sich das neue Paar in die Flitterwochen begibt? Ich muss gestehen, dass ich mich immer noch unwohl mit der Geheimniskrämerei fühle.«

Honfrion zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber Arabelle hat gemeint, sie will die Elfen besuchen. Würde mich also nicht wundern, wenn sie schon auf halbem Weg nach Eluanethra wären.«

Aubrey lächelte. »Damit könntest du recht haben. Ich bin vor ein paar Tagen Arabelles Zofe über den Weg gelaufen. Sie hat angedeutet, dass Arabelle etwas mit Labri vereinbart hat.«

Throll neigte den Kopf. »Nun, wohin sie auch reisen, ich bete, dass ihnen einige Augenblicke gemeinsamen Glücks vergönnt sind. Ich habe das ungute Gefühl, dass sich die Zeiten bald ändern werden.«

* * *

Als Arabelle und Ryan in Eluanethra eintrafen, wurden sie zu einer gemütlichen, tief im Wald versteckten Hütte am Rand der Stadt begleitet. Miriam und Labri hatten sie eigens für das frisch vermählte Paar vorbereitet, mit allem Drum und Dran: frisches Obst und Wein, ein bequemes Bett, und sie würden völlig ungestört sein.

Mittlerweile lag Arabelle neben ihrem schlafenden Ehemann und lächelte.

Ehemann. Das Wort gefiel ihr. Es fühlte sich neu, aber natürlich an.

Sie fuhr mit den Fingern durch sein dunkelbraunes Haar, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er träumte gerade. Arabelle wünschte, sie besäße Sloanes Gabe, Gedanken zu lesen.

Dann strampelte er mit den Füßen, warf den Kopf hin und her und wimmerte. Rasch beruhigte sie ihn.

»Sch-sch, Liebster. Es ist nur ein Albtraum.«

Arabelle folgte einem Bauchgefühl, beschwor heilende Energie tief aus ihrem Körper hervor und übertrug sie auf ihn. Wenn sie das bei jemandem versuchte, der nicht krank oder verletzt war, prallte die Energie normalerweise zurück, da sie nirgendwohin konnte. Ryans Körper hingegen nahm sie auf, und seine Unruhe legte sich.

Ihr kam ein Gedanke: War er krank, ohne dass ich es bemerkt habe?

* * *

Rebecca und Zenethar schauten zu, während Ramai ihnen ein neues Spiel mit Würfeln beibrachte.

»Wir fangen mit etwas Einfachem an. Ihr könnt doch zählen, oder?«

Rebecca nickte selbstsicher. »Ich kann bis ein-hunger zählen. Ist das genug?«

Zenethar lachte. »Es heißt einhundert.« Zu Ramai fügte er hinzu: »Ich kann bis zu einer Quizillion zählen!«

»Schon gut, das ist mehr als genug«, sagte Ramai. »Das Ziel bei diesem Spiel ist ...«

Ein plötzlicher Schrei unmittelbar vor dem Kinderzimmer unterbrach ihn. Die beiden Sumpfkatzen sprangen knurrend und mit gesträubtem Fell auf die Beine.

Ramai riss sich den wallenden weißen Mantel vom Leib. »Versteckt euch darunter. Und verhaltet euch still.« Damit warf er den Umhang über die beiden, und die Kinder verschwanden.

Krachend flog die Tür auf, und eine nahezu unsichtbare, blutverschmierte Gestalt erschien. Beide Katzen sprangen sie an, wurden jedoch mit knackenden Knochen zurückgeschleudert. Gebrochen und zuckend landeten sie hart auf dem Boden.

Ramai erkannte auf Anhieb, womit er es zu tun hatte. Ohne das Blut wäre die Kreatur unsichtbar gewesen ... abgesehen von dem Stein in ihrer Mitte. Es handelte sich um einen Schattenwandler.

Er verstärkte seinen Verhüllungsschild um die Kinder, bevor er sich auf die Würfel konzentrierte. Sie leuchteten mit einer weißen Aura auf, dann verflachten sie und verformten sich zu scharfkantigen Wurfsternen. Er schleuderte sie einen nach dem anderen direkt auf die Masse in der Mitte des Dämons.

Der Schattenwandler taumelte nur kurz zurück, als die Wurfsterne in seine Brust eindrangen. Dann rückte er unbeirrt wieder vor und schnüffelte am Boden nach seiner unsichtbaren Beute.

Ramai bündelte die Gedanken auf die in der Brust des Dämons steckenden Wurfsterne. Er entschied sich für den, der sich der Masse in der Mitte der Kreatur am nächsten befand, und verwandelte ihn erneut – diesmal in eine feste Kugel, die den faustgroßen Stein umgab.

Der Schattenwandler japste, fuchtelte mit den Armen – und brach tot zusammen. Sein durchsichtiger Körper ging in Flammen auf. Ramai hatte ihn erstickt.

Als die Überreste des Dämonenkörpers zu Asche zerfielen, kam Aaron ins Kinderzimmer gestürmt. Mehrere Soldaten folgten dicht hinter ihm.

»Wo ist meine Schwester?«, verlangte er zu erfahren.

Rebecca und Zenethar schlüpften unter dem Umhang hervor und tauchten wie aus dem Nichts wieder auf. Doch statt zu ihrem Bruder zu eilen, rannte Rebecca zu den verletzten Katzen. »Schatten! Wölkchen!« Sie legte die Hände auf die Tiere und setzte die ihr vererbten Heilkräfte ein.

Ramai sammelte aus dem Aschehaufen seine Wurfsterne ein, die sich in gewöhnliche Würfel zurückverwandelt hatten. Dann schnupperte er. Er wirkte erschrocken, als er sich seinen Mantel schnappte und an den verdutzten Soldaten vorbei zur Tür hinauspreschte.

* * *

Castien raste den langen Korridor hinab in Richtung des widerhallenden Schreis eines Soldaten. Als er die blutigen Wände und Körper vor sich erblickte, zog er beide Schwerter.

Er stürmte durch die Tür in den Thronsaal, wo er eine fast durchsichtige, blutverschmierte Kreatur über dem bewusstlosen König von Trimoria antraf.

Der Elf preschte durch den Raum, doch das Wesen bewegte sich blitzschnell und schlug mit einem seilartigen Fortsatz nach ihm. Castiens Klinge wehrte den Angriff zwar ab, aber die schier unglaubliche Wucht hinter dem Hieb verrenkte ihm beim Aufprall heftig den Arm.

Trotz der Schmerzen wob der Schwertmeister mit seinen beiden Schwertern ein schwirrendes Muster in die Luft und manövrierte sich zwischen den Dämon und den König. Die Bestie schien Castien nur als lästig zu empfinden und wollte sich wieder dem König widmen. Und sie war so schnell – Castien hatte erhebliche Mühe, zwischen dem Monster und dessen Beute zu bleiben.

Plötzlich pflügte ein junger Zwerg herein, den eine gespenstische weiße Aura umgab.

»Pass auf, Zwerg!«, warnte Castien. »Ruf um Hilfe – und zwar jede Menge!«

Der Dämon warf sich gegen Castien. Wieder wehrte er den Angriff mit den Schwertern ab, doch diesmal spürte er, wie etwas in seinen Muskeln riss, und er taumelte rückwärts.

Das Ungetüm wollte gerade nachsetzen, als der Zwerg es mit mehreren Geschossen bewarf, die das Wesen innehalten ließen.

Castien nutzte die Gelegenheit, um sich in Verteidigungshaltung über den König zu kauern. Die Schmerzen in seinen Armen und Schultern waren heftig.

Einen weiteren Angriff überlebe ich nicht.

Der Zwerg näherte sich dem Dämon und vollführte mit den Händen verschlungene Bewegungen. Das weiße, ihn umgebende Leuchten wurde schwächer. Gleichzeitig wurden die im Körper des Monsters steckenden Geschosse greller.

Der Zwerg klatschte in die Hände, und die Scheiben verwandelten sich schlagartig in gelbe Würfel.

Würfel?

Die Kreatur brach zusammen und zappelte kurz, bevor sie von feuriger Energie umfangen wurde. Innerhalb weniger Herzschläge blieb von ihr nur Asche.

* * *

Benommen setzte sich Castien auf. Er musste das Bewusstsein verloren haben, denn ein angehender Heiler beugte sich über ihn.

Der Schüler reichte ihm eine kleine Flasche. »Trink das, Schwertmeister. Schulleiterin Riverton hat es selbst aufgeladen.«

Castien öffnete die Flasche und trank ausgiebig. Er spürte, wie die heilenden Eigenschaften des Tranks die Fasern seiner Muskeln zusammenfügten.

Dann erinnerte er sich. »Der König!«

»Er wird gerade versorgt. Sieh selbst.«

Als der Schüler zur Seite trat, sah Castien, dass der König aufrecht saß und eine Flasche ablehnte, die Aubrey ihm anbot. Aaron Riverton kniete an der Seite des Königs.

»Zwei Becher sind mehr als genug!«, rief Throll. »Du bist ja schlimmer als meine Mutter.«

»Ein bisschen zusätzliche Heilung schadet nicht, Throll. Du wärst fast gestorben.«

Castien stand auf und ging zu ihm. »Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht, Hoheit?«

»Dank Aubrey geht es mir bestens. Und dank dir. Wenn du nicht rechtzeitig gekommen wärst ... Wie hast du diese Kreatur erledigt?«

»Gar nicht, Hoheit. Ich habe sie nur eine kurze Weile aufgehalten.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Zwerg hat sie besiegt.«

»Welcher Zwerg?«

Diesmal antwortete Aaron. »Ramai. Ryans geheimnisvolles ... ›Kind‹. Anscheinend hat er beide Kreaturen im Alleingang erledigt.«

»Es war mehr als eine?«

»Ja, aber nur zwei. Und wie gesagt, sie sind mittlerweile tot. Mein Vater hat die Gegend abgesucht und konnte bestätigen, dass keine weiteren gesichtet wurden. Außerdem lässt er Kampfzauberer in Zweiergruppen patrouillieren.«

In dem Moment betraten Jared und Ramai den Raum, gefolgt von Rebecca und Zenethar.

Aaron deutete auf Ramai. »Hoheit, das ist der Zwerg, der Euch das Leben gerettet hat.«

Throll erhob sich, kniete sich jedoch sogleich hin und neigte das Haupt. »Ramai. Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet.«

Ramai wirkte nur belustigt. Er holte einige Bälle aus der Tasche seines Umhangs und begann, damit zu jonglieren.

Jared blickte auf ihn hinab. »Ramai, weißt du, was das für Kreaturen waren?«

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Es waren Schattenwandler. In der Niederwelt entstandene Dämonen. Sie sind selten. Aber sie spielen nicht gern. Im Verlauf der Jahrhunderte habe ich viele Male versucht, mit ihnen zu spielen. Das mögen sie gar nicht.«

»Jahrhunderte?«, sagte Zenethar. »Ramai, wie alt bist du?«

Wie zur Antwort erstrahlte ein weißer Schein um den Zwerg, und er erhob sich in die Luft. Schwebend drehte er sich Jared zu. Und obwohl sich seine Lippen nicht bewegten, ging eine übernatürliche Stimme von ihm aus.

»Mit Leben müsst ihr diese Burg erfüllen. Dafür müsst ihr einen Weihespender finden, und er wird in der Nähe sein.«

Er schloss die Augen, und die Stimme ertönte erneut.

»Die Spiele, die ich in dieser Zeit und an diesem Ort spielen wollte, sind abgeschlossen.«

Als der Zwerg die Lider öffnete, erstrahlten seine Augen mit einem weißen Licht. Mit einem verschmitzten Grinsen winkte er allen zu und begann, langsam zu verblassen.

Doch bevor er vollends verschwand, zwinkerte er. »Lebt wohl. Es gibt andere, die neue Spiele lernen müssen.«