Auf einem aus poliertem Granit gehauenen Thron schloss Lilith die Augen und entsandte den Geist in die Welt über ihr. Sie spürte die pulsierende Energie der magischen Barriere und schmeckte die Kräfte, die an ihrer Erschaffung mitgewirkt hatten. Die Macht Seders schwang noch darin mit.
Der Gedanke an ihn erinnerte sie daran, wie anders ihr Leben einst gewesen war. Es lag Tausende Jahre zurück, dass Lilith zuletzt Umgang mit einem ihrer Brüder gehabt hatte. Dennoch fühlten sich die Erinnerungen an, als wäre es erst gestern gewesen ...
»Seder, ich verstehe dich nicht. Du verbringst so viel Zeit damit, unbedeutende Kreaturen in anderen Welten zu beobachten, während ich mir deine Aufmerksamkeit kaum lang genug sichern kann, um ein Gespräch mit dir zu führen.«
Der abwesende Ausdruck im Gesicht ihres Bruders schwand, und er wandte sich ihr mit einem Lächeln zu. »Meine liebe Lilith, es liegt in deiner Natur, dich um andere zu kümmern. Du solltest versuchen, über unser Reich hinauszublicken. Es gibt so viele, die unsere Hilfe brauchen. Ich habe dir gezeigt, wie du deinen Geist entsenden und auf dich aufmerksam machen kannst. Übe Einfluss aus und vermittle Wissen, junge Schwester. Das ist unser Weg.«
Dann wandte er sich von ihr ab, und sein Blick wurde wieder abwesend. Lilith blieb allein zurück und fühlte sich leer.
Lilith seufzte. Sie wünschte, sie hätte die Geduld gehabt, ihren stillen Bruder zu erreichen. Er ließ sich so selten zu großen Gefühlen hinreißen. Außer natürlich, wenn es um Sammael ging. Nur ihr ungestümer Bruder konnte Seder dazu bringen, die Beherrschung zu verlieren.
Seders Augen loderten vor Wut. »Wie kannst du es nur wagen! Wieso musst du unbedingt Chaos säen, wenn du weißt, dass es letztlich zur Vernichtung derer führt, die wir anleiten?«
Sammael schnaubte höhnisch. »Ich dachte, du interessiert dich dafür, Wissen weiterzugeben. Was kümmert es dich , welches Wissen ich diesen Kreaturen vermittle? Ich habe ihnen die Fähigkeit verliehen, ihre Feinde restlos zu vernichten. Ich bin stolz darauf, was sie vollbringen.«
Lilith schüttelte den Kopf. »Sammael! Du hast dieser Welt die Schlüssel zu ihrer eigenen Zerstörung gegeben. Kennst du keine Rücksicht auf ihre Fäden des Schicksals?«
Sammael grinste spöttisch und deutete mit dem Daumen auf Seder. »Du klingst schon wie er. Diese Kreaturen sind zum Töten geschaffen. Warum sollte man sie nicht dazu anstacheln, ihren niederen Instinkten zu folgen? Ja, ich möchte sehen, wie sie ihr Schicksal erfüllen – aber wer will behaupten, das wäre nicht ihr Schicksal? Und nicht nur das Schicksal dieser Welt.« Er lächelte. »Stell es dir nur vor. Eine Welt nach der anderen voll Chaos und Zwietracht, zusammenbrechende Zivilisationen, Kriege zwischen den Arten ... sogar Kriege zwischen Welten! Wie aufregend das wäre!«
Seder scharte Macht in sich. »Bruder, das lasse ich nicht zu. Ich werde verhindern, dass es noch einmal geschieht.«
Sammael lachte. »Du kannst das Chaos nicht aufhalten, Bruder.«
Ihre Brüder hatten beide jeweils auf ihre Weise recht gehabt. Aber letztlich hatten nicht sie Lilith dazu gebracht, sich zu ändern. Der Funke, der Liliths Schicksal veränderte, ging von einem völlig anderen Wesen aus.
Von einer Elfin namens Nicnevin.
Lilith hatte Jahrtausenden im Geisterreich gelebt und nach einem Grund für ihre Existenz gesucht. Ihre Anhänger auf den Welten, die sie berühren konnte, waren ihre einzigen Schätze. Aber auch, wenn sie die geistige Verbindung als bedeutsam empfand, sie wollte mehr.
Es trat unerwartet ein. Sie spürte es, verstand es aber nicht, als die Fundamente der Geisterwelt erbebten. Etwas Neues hatte sich ereignet.
Lilith entsandte die Sinne über das Geisterreich hinaus. Mühelos fand sie die hellen Leuchtfeuer der Macht ihrer Brüder. In ihrer Nähe schimmerte ein weiteres Licht, nur ein schwacher Funke. Lilith schloss sich ihnen an – ihren beiden Brüdern und dem zerbrechlichen Wesen, das zwischen ihnen kauerte.
Seder und Sammael zankten sich wie üblich.
»Das ist dein Werk, mein Bruder!«, sagte Sammael und hob das zusammenzuckende blonde Geschöpf an einem Arm hoch. »Du hast dieses Wesen hierhergeholt, um irgendeinen Vorteil zu erlangen, das weiß ich.«
»Ich habe nichts dergleichen getan. Offensichtlich steckst du dahinter, Sammael.«
Während ihre Brüder stritten, löste Lilith die Kreatur sanft aus dem Griff ihres Bruders und hielt sie in den Armen. Das arme Ding, ein Weibchen, hatte Mühe zu atmen. Was für ein Geschöpf war das? Und warum war es hier?
Lilith entsandte die Sinne in den Geist der zerbrechlichen Kreatur und durchforstete ihre Erinnerungen.
Der Name des Wesens lautete Nicnevin. Eine Elfin, wie Lilith den Erinnerungen entnahm – ein wunderschönes Volk, das Lilith nur zu gern kennenlernen wollte. Dann stieß Lilith auf eine Erinnerung, die sie erstaunt japsen ließ.
Nicht Liliths Brüder hatten diese Elfin hergeholt. Irgendwie hatte sich Nicnevin selbst an diesen Ort gebracht!
Ein schwacher Gedanke wurde in Liliths Geist übertragen. »Ich verliere mich hier ... bitte ... lass ... mich ... gehen ...«
Lilith ließ die Elfin los und trat einen Schritt zurück. »Du bist frei, wenn du das willst.«
Die Elfin schnappte nach Luft und nickte. Dann leuchtete sie vor Kraft auf und verschwand.
Lilith sah sich suchend in der Geisterwelt um. Es gab wieder nur sie und ihre Brüder. Aber obwohl sich die Last ihrer Einsamkeit wie ein Leichentuch anfühlte ... war sie gerade ein bisschen leichter geworden.
Sie hatte etwas bezeugt, das sie nicht für möglich gehalten hatte. Und es verlieh ihr Hoffnung. Hoffnung und die Sehnsucht nach Veränderung. Und das dank einer völlig unbedeutenden Kreatur.
Lilith dachte an jenen Tag vor Tausenden von Jahren zurück, als sie beschlossen hatte, ihrem Leben in der Geisterwelt zu entsagen. Sie hatte es damals nicht bereut und tat es immer noch nicht. Lilith hatte sich zu jenen gesellt, die sie im stofflichen Universum wahrhaftig liebten. Gewiss, ihre Kräfte auf dieser Daseinsebene waren nur ein Schatten derer, die sie in der Geisterwelt besaß, doch das Opfer war es wert gewesen. In dieser Welt war alles möglich, was sie wollte – solange sie ihre Anhängerinnen hatte.
Und sie hatte viele davon. Obwohl ihre Brüder versuchten, ihre Welt zu beeinflussen, behielt sie durch ihre körperliche Anwesenheit hier mühelos die Oberhand. Und im Verlauf der Zeit hatte sie sich ein umfassendes Gefolge hingebungsvoller Anhängerinnen aufgebaut. Zu den ersten ihrer Untergebenen wurden die Elfen, doch letztlich hatten sich ihr Vertreter aller intelligenten Arten angeschlossen.
Allerdings nur Frauen. Sie erwiesen sich als die Stärkeren, wie es Lilith geahnt hatte. Frauen erkannten und fühlten die Weisheit von Liliths Vorgaben. Sie verstanden die Torheit einer von Männern beherrschten Gesellschaft. Und durch Liliths Einfluss lernten sie die Wahrheit kennen. Liliths Wahrheit.