Suche nach einer uralten Königin

Ryan kippte schon beinah vom Pferd, als er und Arabelle in der Elfenstadt Eluanethra eintrafen. Während die Stallknechte ihre Pferde davonführten, zwang sie Ryan, sich auf eine Holzbank zu setzen und zu entspannen.

Er lächelte matt. »Tut mir leid, Belle. In letzter Zeit bin ich ständig neben der Spur. Obwohl ich viel schlafe, fühle ich mich andauernd erschöpft.«

»Bleib einfach ruhig sitzen.«

Mit besorgter Miene betrachtete sie die dunklen Ringe unter seinen blutunterlaufenen Augen, während sie ausgiebig aus ihrer Flasche trank. Dann kniete sie sich vor ihn und flößte ihm alle Heilenergie ein, die sie aufbringen konnte.

Ryan küsste sie auf die Stirn. »Danke. Jetzt geht’s mir besser.« Lächelnd stand er auf und tat für sie so, als ginge es ihm gut, aber sie wusste es besser. Richtig »gut« hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Jede Nacht kämpfte er mit seinen Dämonen. Und jede Nacht tat sie, was sie konnte, um ihn zu beruhigen – aber es reichte nicht.

»Willkommen zurück in Eluanethra«, sagte eine vertraute Stimme.

Arabelle drehte sich um und sah, dass Xinthian auf sie zukam. »Sei gegrüßt, Xinthian. Wie schön, dich wiederzusehen.«

Xinthian drehte sich Ryan zu. »Ich habe gehört, du suchst Wissen über Nicnevin. Im Namen des Ältestenrats würde ich gern erfahren, warum.«

»Um ehrlich zu sein«, erwiderte Ryan, »ist mir das ›Warum‹ selbst nicht ganz klar. Ich weiß nur, dass ich bei Nicnevin um Rat ersuchen soll – auf Geheiß des ersten Protektors.«

Xinthians Augen wurden groß. »Zenethar Thariginian? Wie kann er dir das aufgetragen haben?«

Ryan zuckte mit den Schultern. »Wir haben mit ihm gesprochen. Also, genau genommen Sloane. Er hat gesagt, ich muss Nicnevin ›jenseits des Endes der Welt‹ finden und von ihr lernen. Arabelle soll mich begleiten.«

Xinthian blinzelte vor offenkundiger Überraschung. »Unglaublich ...«, flüsterte er bei sich. Dann nickte er knapp. »Das ruft nach einigen Nachforschungen. Zu deinem Glück haben wir gerade einen Gelehrten in der Bibliothek, der dort fleißig arbeitet. Tatsächlich einen Freund von dir.«

»Einen Gelehrten?«, hakte Arabelle nach. »Wer ist es?«

Der alte Elf lächelte. »Wat Irrbart.«

* * *

Sie fanden Wat in der Bibliothek an einem Tisch, auf dem sich Büchern stapelten. Vor zwei Jahren hatte Wat einen Wettbewerb unter den Schülern der RAM gewonnen. Der Preis war uneingeschränkter Zugang zur Bibliothek von Eluanethra gewesen. In den Jahren seither hatte er bei jeder Gelegenheit Gebrauch davon gemacht.

Xinthian legte Wat die Hand auf die Schulter. »Wat, mein Freund. Wir brauchen deine Hilfe.«

»Natürlich, Ältester«, antwortete Wat.

»Unser junges Paar hier muss einige Nachforschungen anstellen. Die beiden suchen nach Auskünften über eine unserer Ahnenköniginnen: Nicnevin.«

Wat zog eine buschige Augenbraue hoch und lächelte. »Ich weiß genau, wo wir am besten anfangen.«

»Gut. Dann überlasse ich euch der Suche. Ich muss zu unserer Königin und mit ihr über diese ... Entwicklung sprechen.«

Als Xinthian davonging, holte Wat ein großes ledergebundenes Buch hervor und legte es auf den Tisch, an dem er gearbeitet hatte. Ryan und Arabelle zogen sich Stühle herbei, und sie setzten sich alle zusammen.

Arabelle keuchte. »Dieses Buch habe ich schon mal gesehen. Mein Vater hat ein Exemplar davon. Es erzählt die Geschichte eines verrückten Zwergs, nicht wahr?«

Wat grinste. »So könnte man es wohl auch beschreiben.« Er schlug das Buch auf. »Tatsächlich war das eines der ersten, die Eglerion mir gezeigt hat, nachdem ich meinen Preis gewonnen hatte. Es hat zwei Druckspalten, seht ihr? Eine erzählt die Geschichte in der allgemeinen Sprache, die andere in der alten. Das war für mich ungemein hilfreich beim Erlernen der alten Sprache.«

Er schob das Buch zu Ryan und Arabelle. »Wie dem auch sein mag, da es auch in allgemeiner Sprache verfasst ist, könnt ihr schon mal anfangen, es allein zu lesen. Ich holte inzwischen noch etwas aus dem eingeschränkten Zugangsbereich.«

Damit hüpfte er vom Stuhl und ging davon. Ryan zog das Buch näher und las laut vor.

Ich bin nur ein bescheidener Diener des Elfenvolks. Die Worte, die du liest, sind nicht meine eigenen, sondern die einer verdorbenen Zwergenseele, die Zeit mit jemandem verbrachte, den er für Nicnevin hielt, unsere Königin von vor vielen Tausend Jahren. Trotz des Titels ist Nicnevins Geschichte nicht für dieses Buch bestimmt. Belassen wir es an dieser Stelle dabei, dass Nicnevin der Legende nach die Götter herausgefordert hat und dafür dazu verdammt wurde, für immer am Ende der Welt zu leben.

Viele haben nach diesem mythischen »Ende der Welt« gesucht, doch noch niemand hat es gefunden. Ebenso wenig hat irgendein Dokument oder Lebewesen je einen Hinweis darauf geliefert, wo es liegen könnte.

Bisher zumindest.

Vor zwei Wochen kam der Verfasser dieses Buchs nackt und allein nach Eluanethra gewankt. Wie es dem Zwerg gelungen ist, in die Festung unseres Volks einzudringen, ohne von unseren Spähern bemerkt zu werden, bleibt ein Rätsel. In den Händen hielt er dieses Buch, das er offenbar mit seinem eigenen Blut geschrieben hatte. Er brüllte verrückte Warnungen über den Untergang von ganz Trimoria und das Ende der Welt, schwafelte von Dämonen, die noch kommen würden, und von einem Retter unter den Menschen, dem wir uns anschließen müssen. Und er verlangte, dem Erzmagier Seder vorgeführt zu werden.

Da wir von keiner solchen Person wussten, hielten die meisten unseres Volks den Zwerg für verrückt.

Xinthian ist sich da nicht so sicher. Er hat mich gebeten, den Zwerg ernst zu nehmen und mit ihm zu reden. Bedauerlicherweise leidet der Zwerg an Fieber, und nichts, was wir bisher tun konnten, hat ihm geholfen. Ich fürchte, er könnte bald sterben, wenn sich nichts ändert.

Mit Hilfe meines Lehrlings, Eglerion Mithtanion, habe ich die Blutschrift des Zwergs in modernes Trimorianisch übersetzt und auf diesen Seiten eingefügt. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass es doch etwas bedeuten könnte, habe ich in dieses Buch auch Mitschriften der fieberhaften Fantastereien des Verrückten aufgenommen. Sollte sich irgendetwas von seinen Worten bewahrheiten, fürchte ich um das Überleben unserer Rasse.

– Bryan Grünmandl

»Oh Mann«, stieß Ryan hervor. »Eglerion war damals noch Lehrling. Das Buch muss Hunderte Jahre alt sein.«

Er blätterte um und fuhr fort.

Es wird eine Zeit kommen, da sich Dämonen erheben und wie eine Plage über die Lande ausbreiten. Nur der Avatar Seders kann hoffen, dem Anführer dieser Heerschar entgegenzutreten und zu überleben ...

* * *

Wat trug weiße Seidenhandschuhe, als er mehrere Pergamentbögen auf dem Tisch ablegte. »Bitte seid vorsichtig damit. Ich schätze ihr Alter auf 2.000 Jahre – vielleicht auch mehr. Dennoch handelt es sich nur um Abschriften der ursprünglichen Schriftrollen, die inzwischen zu alt und empfindlich sind, um mit ihnen zu hantieren.«

Ryan rutschte mit dem Stuhl ein Stück zurück, weil er sich sogar davor scheute, auf die Dokumente zu atmen.

»In Anbetracht ihres Alters sind sie natürlich in der alten Sprache verfasst, also werde ich für euch übersetzen.«

Wat las laut vor und übersetzte fast ohne jedes Stocken aus der alten Sprache:

Mittlerweile haben die meisten unseres Volks vergessen, dass die größte unserer Königinnen, Nicnevin, die uns auf Seder aufmerksam gemacht hat, immer noch am Ende der Welt haust. Obwohl es Tausende Jahre zurückliegt, dass jemand von uns sie gesehen hat, ist sie immer noch die Mächtigste, die je unter uns gewandelt ist. Vor ihrem Aufbruch gab sie einen Teil ihrer großen Macht an ihre Tochter ab, und diese Macht ist seither auf jede Königin unseres Volks übergegangen. Nachdem sie ihre auserwählten Erben benannt hatte, wollte sie sich aus Gründen, die selbst den Ältesten unter uns unbekannt waren, ins Exil begeben.

Als eine bedeutende Macht in Trimoria Einzug hielt, ließen sich einige von uns dazu verleiten, dieser neuen Macht zu folgen, die sich Lilith nannte. Die Frauen schienen am empfänglichsten für ihren Einfluss zu sein. Anfangs dachten wir, es wäre Nicnevins Werk.

Einige von uns suchten nach Geleit vom Ende der Welt, erhielten als Antwort jedoch nur das schrille Schreien und gackernde Gelächter einer verrückt gewordenen Frau.

»Es gibt also wirklich einen Ort, der sich Ende der Welt nennt«, murmelte Ryan.

Arabelle ergriff seine Hand und küsste sie. »Scheint so.«

Wat schob das Pergament vorsichtig beiseite und ein anderes näher.

Königin Reiluanni bestand darauf, das Ende der Welt zu besuchen, obwohl wir ihr davon abrieten. Sie meinte, es wäre unangemessen, dass jemand unseres Volks für immer im Exil lebte. Der Grund für ein solches Exil ist in den Jahrtausenden verloren gegangen. Sie fand, wir sollten danach trachten, unsere altvordere Königin nach Möglichkeit zurückzuholen.

Der Ältestenrat sprach sich dagegen aus, doch Reiluanni reiste vor zwei Wochen mitten in der Nacht ab, ohne es jemanden wissen zu lassen. Wir befürchteten das Schlimmste, als ihre Tochter, die Thronerbin, plötzlich ihre magischen Kräfte erlangte. Vielen ist bekannt, dass die Königin ihre Macht erst mit dem Tod abgibt.

Wir trauerten noch, als Reiluanni zur Überraschung aller nach Eluanethra zurückkehrte. Ihr Verstand war gebrochen, und selbst die Versammlung der Zauberer vermochte nicht zu erklären, was ihr angetan worden war.

Mit der Faust umklammerte sie ein handgezeichnetes Bild einer Frau, die niemand in Eluanethra erkannte. Gemutmaßt wurde, es könnte sich um eine Zeichnung unserer Ahnenkönigin Nicnevin handeln. Ich hoffe, eines Tages zu verstehen, warum ein solches Opfer von unserer Reiluanni verlangt wurde. Denn was nützt schon eine Zeichnung?

Wat schob den Bogen beiseite und brachte eine alte Zeichnung zum Vorschein. »Ich glaube, das ist die erwähnte Abbildung.«

Die Zeichnung zeigte eine Elfenfrau in zerlumpter, abgewetzter Kleidung. Sie stand erhaben auf einer Lichtung im Wald. Ihr stechender Blick ließ Verärgerung darüber erahnen, dass sie gestört worden war.

Es ist fast so, als würde ich in ihren Freiraum eindringen, indem ich ihr Bild ansehe , ging Ryan durch den Kopf.

Arabelle schloss ihre Augen und summte leise. »Das ist Nicnevin.«

»Woher weißt du das?«, fragte Ryan.

Seine Frau öffnete die Augen. »Ich habe dir erzählt, dass Seder mich mit seiner Gegenwart beehrt hat. Das war nicht sein einziges Geschenk.« Sie schloss die Augen wieder. Nach wenigen Herzschlägen hob sie den Arm und zeigte in Richtung Nordosten. »Sie ist dort.«

Arabelle öffnete die Lider. »Wenn ich ein Bild davon habe, wonach ich suche, kann ich normalerweise die Richtung und die Entfernung erspüren.«

»Das ist unglaublich!«, rief Wat.

Ryan schlang den Arm um ihre Taille und drückte sie zärtlich an sich. »Und wie weit ist sie entfernt?«

»Ich würde einen Tagesmarsch über offenes Gelände schätzen. Aber da wir uns mitten im Wald befinden und ich die Umgebung nicht kenne, könnte es auch deutlich länger sein.«

Ryan legte Wat die Hand auf die Schulter. »Danke für deine Hilfe, Wat. Ich kann dir gar nicht sagen, wie nützlich das war.«

Wat hob die Hand. Funken sprühten knisternd aus seinen Fingerspitzen. »Braucht ihr Hilfe bei der Suche?«

»Nein, mein Freund. Mir wurde gesagt, es wäre am besten, wenn nur ich und meine Heilerin zu ihr gehen.«

»Heilerin?« Arabelle stupste ihn mit dem Ellbogen. »Ist das alles, was ich für dich bin?«

»He!« Wat schob sich zwischen das Paar und die empfindlichen Pergamente. »Wenn ihr unbedingt streiten wollt, dann macht das draußen. Eglerion bringt mich um, wenn seinen Schätzen etwas zustößt.«

* * *

Spät am Abend schlenderten Ryan und Arabelle Arm in Arm zu dem für sie abgestellten Haus. Die Sonne war längst untergegangen, aber die Flechten, die entlang des Pfads wuchsen, schimmerten grünlich und erhellten ihren Weg.

Plötzlich blieb Arabelle stehen. »Wir haben Gesellschaft.«

Labri trat vor ihnen aus dem Wald, gefolgt von einem Elfen, der ein Bündel in den Armen trug.

»Deine Frau hat scharfe Augen, Ryan Riverton«, sagte Labri. Sie drehte sich Arabelle zu und hob mit gespreizten Fingern die Hand. »Arabelle Riverton, obwohl wir uns schon oft gesehen haben, wurden wir einander noch nie offiziell vorgestellt. Ich bin Labriuteleanan Sirfalas, Königin des Elfenvolks, Zauberin und höchste Instanz der Stadt Eluanethra. Ich heiße dich und deinen Gemahl in meinem Reich willkommen und habe ein verspätetes Hochzeitsgeschenk für dich.«

Lächelnd hob Arabelle ebenfalls mit gespreizten Fingern die Hand. »Vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Ich bin Arabelle Riverton, Prinzessin der Imazighen, Heilerin und Gefolgsfrau Seders.«

Ryans Augen wurden groß. Gefolgsfrau Seders?

Labri trat vor und umarmte sie. »Willkommen, Schwester in Seders Schein«, flüsterte sie. Dann wich sie einen Schritt zurück und wischte sich Tränen aus den Augen.

Ryan bemerkte, dass auch Arabelle Tränen auf den Wangen hatte. »Was ... was ist gerade passiert?«, fragte er verwirrt.

Die beiden Frauen lachten, dann trat Labri vor, packte Ryan und umarmte ihn kurz. »Du warst gerade Zeuge einer förmlichen Freundschaftserklärung.«

Ryan legte die Stirn in Falten. »Ich dachte, ihr wärt schon Freundinnen.«

»Natürlich sind wir Freundinnen«, sagte Arabelle. »Sie hat damit die Völker der Elfen und der Imazighen gemeint. Seit Labri zur Königin ihrer Leute wurde, bin ich ihr nicht mehr offiziell begegnet. Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, wie das läuft?«

Ryan zuckte mit den Schultern. »Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt von dem Brauch wissen.«

»Tja, dann kannst du sie darüber in Kenntnis setzen«, meinte Labri. »Jetzt kommt«, fügte sie hinzu und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. »Gehen wir zu eurer Hütte. Ich möchte Arabelle ihr Geschenk zeigen.«

* * *

Labri packte das Bündel aus und holte ein Kamisol daraus hervor. Es schien aus feinem Rehleder gefertigt zu sein. »Arabelle, das habe ich für dich anfertigen lassen.«

Ryan fragte sich, was daran besonders sein sollte. Ist doch bloß ein Leibchen.

Arabelles Augen jedoch weiteten sich, als sie das Hemd entgegennahm und zwischen den Fingern rieb. »Es ist etwas darin eingewoben. Ich kann es fühlen.«

»Probier es an«, drängte Labri.

Arabelle warf einen Blick zum Leibwächter der Königin. Labri lachte.

»Jasper, kannst du bitte draußen warten? Menschen sind schamhafte Wesen.«

Nachdem Jasper gegangen war, zog Arabelle ihr Oberteil aus und schlüpfte in das neue Kamisol. »Es ist schön. Unglaublich, wie gut es passt.«

Ryan runzelte die Stirn. »Sieht wie feines Leder aus, aber meine Sinne erkennen ... Metall?«

Labri lächelte. »Deine Sinne trügen dich nicht. Unsere besten Schmiede haben mit unseren besten Webern zusammengearbeitet, um es zu schaffen.« Sie wandte sich an Arabelle. »Ich weiß, dass deine Art zu kämpfen keine herkömmliche Rüstung zulässt. Dieses Hemd ist eine wunderbare Lösung. Die meisten Waffen mit Klingen vermögen nicht, es zu durchdringen. Den Treffer einer stumpfen Waffe wie eines Streitkolbens würdest du allerdings sicherlich spüren.«

»Danke.« Arabelle strahlte übers ganze Gesicht. »Das kann ich wirklich bestens gebrauchen. Es ist ein wunderbares Geschenk.«

»Für mich gibt es nichts?«, wandte sich Ryan scherzhaft an Labri.

Die Elfenkönigin verdrehte die Augen. »Du benutzt magische Schutzschilde, Zauberer. Außerdem ist das Geschenk für euch beide. Du willst doch, dass deine Frau geschützt ist, oder?«

Ryan spähte zu Arabelles herausforderndem Blick und wusste, dass es nur eine richtige Antwort auf die Frage gab.

»Ja«, sagte er mit fester Stimme. »Es ist wirklich ein wunderbares Geschenk. Für uns beide.«

* * *

Zwei Tage waren vergangen, seit sie Eluanethra verlassen hatten, und Ryan war froh, dass sie ausreichend Proviant für die Reise eingepackt hatten. Arabelle brauchte ihn, weil sie so viel Energie darauf verwendete, ihn davon zu heilen, was ihn im Schlaf heimsuchte. Auch Ryan brauchte Unmengen an Nahrung, weil er seine Kräfte vollends ausreizen musste, um die zahlreichen magischen Fallen und Trugbanne zu entwirren, die ihren Vormarsch behinderten.

Seine Gemahlin erwies sich wahrhaftig als Geschöpf des Waldes. Sie bewegte sich allzeit lautlos auf den Fußballen. Ihre Instinkte schienen auf alles in der Umgebung eingestimmt zu sein, und sie witterte mühelos Schwachstellen im Weg, die als Fallen dienten. Zu Beginn der Reise hatte sie sogar ihre Haut mit dem Saft einiger beißend riechender Blätter aus dem Wald eingerieben. »Ich muss mich ja nicht schon von Weitem ankündigen«, hatte sie dazu erklärt.

Als sie plötzlich eine Warnung zischte – »Mach dich unsichtbar« –, zögerte er keinen Moment. Er veränderte die Eigenschaften seines magischen Schilds, dass Licht seinen Körper so umhüllte, als wäre er nicht da.

Auch Arabelle wurde unsichtbar, wenngleich auf ihre eigene Weise – durch Regungslosigkeit und Tarnung. Ohne ihre magische Signatur hätte Ryan sie niemals bemerkt.

Ich könnte schwören, dass sie sich besser in die Schatten fügt als jeder Elf.

Wenig später tapste ein riesiger Bär vor ihnen auf den Pfad. Er drehte den Kopf in Ryans Richtung, schnupperte und knurrte.

Er wittert mich.

Verwirrt hielt der Bär eine Weile inne, dann knurrte er abermals und rückte vor.

Arabelle sprang hervor, huschte quer durch das Sichtfeld des Bären und verschwand im Blattwerk. Im selben Moment umgab eine Rauchwolke den Kopf des Tiers. Der Bär erstarrte, winselte, brach zusammen und sackte auf die Seite.

Arabelle tauchte wieder auf, um nach dem bewusstlosen Tier zu sehen, dessen Brust sich hob und senkte.

»Belle«, sagte Ryan und wurde wieder sichtbar. »Was hast du gerade gemacht?«

Lächelnd hielt sie drei Strohhalme hoch. »Ich habe ihm ein paar Strohhalme voll Pulver aus Tiskah -Blättern ins Gesicht geblasen. Das verursacht Vergesslichkeit und Schlaf. Ansonsten wird dem Bär nichts fehlen, wenn er aufwacht.«

Ryan starrte sie weiter an. »Und du ... hast rein zufällig Strohhalme diesem Zeug dabei? Nur für den Fall, dass dir ein Bär über den Weg läuft?«

Arabelles ließ ein spitzbübisches Lächeln aufblitzen. »Ein Bär, ein Dieb ... oder vielleicht ein Ehemann, der sich nicht zu benehmen weiß. Eignet sich für die verschiedensten Zwecke.«

Damit wandte sie sich um und ging weiter den Weg entlang. Ryan musste unwillkürlich lächeln.

Ich habe eine ganz schön gefährliche Frau geheiratet.

* * *

Wieder hielt Arabelle auf dem Pfad inne, diesmal jedoch nicht wegen eines Bären.

»Wir sind nah«, flüsterte sie. »Nicnevin befindet sich unmittelbar vor uns. Fast zum Greifen nah.«

Ryan erweiterte seine Sinne und entdeckte keine magischen Fallen. »Der Weg ist frei – jedenfalls liegen keine magischen Hürden vor uns«, flüsterte er zurück.

Aber Arabelle schüttelte den Kopf. »Stärk deine Schilde. Uns erwartet sehr wohl ein Hindernis. Es ist vielleicht nicht magisch, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas ist ...«

Ihr Blick suchte den Weg gründlich ab, während sie sich vorsichtig vorwärtsbewegte.

Ryan folgte ihr so behutsam wie möglich, aber irgendwie schien er jeden Ast und Dorn zu streifen, denen sie so geschickt auswich. Er beschleunigte die Schritte, um mit ihr mitzuhalten. Plötzlich stolperte er über eine Ranke.

»Pass auf!«, rief Arabelle und hechtete mit einem Überschlag vorwärts.

Ryan spürte mehrere kleine Aufpralle an seinem Schild. Ein Dutzend tödlich aussehender Dornen fiel zu Boden. Ein übelriechender Saft bedeckte sie. Zweifellos ein Gift.

Sein Herz schlug schneller, als er nach vorn zu Arabelle schaute. Sie war unversehrt.

»Sieht so aus, als hättest du die Falle gefunden«, flüsterte sie.

»Ja. So geht es auch.«

Sie winkte ihn vorwärts. »Komm. Wir sind fast da.«

Bevor sich Ryan in Bewegung setzen konnte, breitete sich rasant Nebel zwischen den Bäumen um ihn herum aus. Die Schwaden strömten durch seinen Schutzschild, als wäre er nicht vorhanden. Eine undeutliche, entfernte Stimme rief: »Duck dich und lauf daran vorbei!« Doch es war zu spät. Der Boden raste ihm entgegen, und die Welt um ihn herum wurde dunkel.