Durchquerung der Barriere

Aaron näherte sich seiner Frischangetrauten leise von hinten, während sie ihren Wölfen und Sumpfkatzen Anweisungen zubrüllte. Aber als er gerade die Arme um ihre Taille legen und sie von den Füßen heben wollte, knurrte sie.

»Aaron, wann lernst du endlich, dass ich deine Gedanken aus einer Meile Entfernung hören kann?«

Er seufzte frustriert.

Sie drehte sich um und lächelte ihn an. »Och, mein armer Soldat wollte sich die holde Maid schnappen und ihr Kummer bereiten.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss, bevor sie zurücktrat. »Vielleicht lasse ich es dich eines Tages tun.«

Er legte den Arm um seine Ehefrau und beobachtete, was Sloane ihre Tiertruppe machen ließ. Sie hatte aus ihnen Paare aus jeweils einem Wolf und einer Katze gebildet, die sie übergroße Übungspuppen angreifen ließ. Die Bewegungen der Tiere wirkten flüssig und todbringend.

»Zuerst ist mir aufgefallen, dass die Wölfe instinktiv versucht haben, einen Feind handlungsunfähig zu machen, während die Katzen oft auf den Hals gezielt haben«, erklärte Sloane. »Aber wie du siehst, arbeiten sie immer besser zusammen und stimmen ihre Angriffe aufeinander ab. Ich denke, zusammen können sie es mit einigen der größten Dämonen aufnehmen.«

»Was, wenn einer eines Paars getötet oder verletzt wird?«, wollte Aaron wissen. »Sind sie genauso wirkungsvoll, wenn sie dann einen anderen Gefährten zugewiesen bekommen?«

Sie runzelte die Stirn. »Das muss noch gelöst werden. Sobald sie Paare gebildet haben – sie haben sich ihre Gefährten selbst ausgesucht –, bleiben sie dabei. Ich warte erst mal, bis sie diesen Angriff gemeistert haben, danach arbeite ich daran, sie die Gefährten wechseln zu lassen. Obwohl dafür einiges an Überredung nötig sein könnte. Sie sind ziemlich stur.«

Aaron küsste Sloane auf den Kopf. »Also, was du vollbracht hast, ist erstaunlich. Deine Truppen sind besser als jede Reiterei.«

In der Ferne ertönte eine Explosion. Aaron spähte zum Horizont und hob die Hand, um die zusammengekniffenen Augen gegen das Sonnenlicht abzuschirmen. Einer der Drachen schoss himmelwärts. Von unten stieg eine riesige Rauchwolke auf.

Sloane lachte. »Piet hat eine Menge Spaß mit deinem Vater. Die beiden stecken mit Begeisterung Dinge in Brand.«

»Was dagegen, wenn ich hinüberlaufe und zusehe?«, fragte Aaron.

Sloane hob einen Finger. »Ich hab eine bessere Idee.« Sie drehte sich ihrer Truppe zu und rief: »Übt weiter, und wenn das Licht verschwindet, ruht ihr euch aus. Ihr macht euch sehr gut!«

Dann setzte sie sich im Laufschritt zum Übungsgelände der Drachen in Bewegung. »Wer zuerst dort ist, hat gewonnen!«, brüllte sie über die Schulter.

* * *

Aaron suchte den Himmel ab und hielt Ausschau nach seinem Vater. Der Geruch von brennendem Holz stieg ihm in die Nase, als er die warnenden Rufe der Soldaten hörte, die den Auftrag hatten, verirrte Feuer zu bekämpfen, die es über die Feuerschutzbarrieren des Übungsplatzes schafften.

Einer der Hauptmänner brüllte: »Schafft eure Hinterteile vom Feld, sonst werdet ihr knusprig gebraten!«

Einer der nahen Soldaten bemerkte Aaron und Sloane und zeigte zum Himmel. »Herr, der Drache deines Vaters ist in die Wolke da geflogen. Eines ist sicher – wir werden ihn alle sehen, wenn er wieder herauskommt. Als ich zum ersten Mal beobachtet habe, wie Fürst Riverton das Feld unter Beschuss genommen hat, war ich dermaßen erschrocken, ich hätte mich fast angepinkelt.«

Aaron beobachtete, wie Piet mit seinem Vater durch eine Wolkenbank hervorbrach. Das Pfeifen in der Luft wurde lauter, als der Drache die Flügel anlegte und in die Tiefe stürzte. Die untergehende Sonne schillerte auf den dunklen Schuppen des Drachen, als er die Schwingen wieder ausbreitete, aus dem steilen Sturzflug hochzog und einen Schwall schwefeliger Flammen über das Feld mit Soldatenattrappen spie.

Aaron hörte das Lachen seines Vaters, als ein dicker Strahl weißglühender Energie von seinen Fingerspitzen schnellte und in einen entfernten Felsvorsprung einschlug. Als das Gestein explodierte, zog der Drache für eine weitere Runde hoch.

Castien und Oda sahen ebenfalls zu und schlenderten zu Aaron und Sloane.

»Dein Vater führt sich da oben wie ein Kind auf«, sagte der Schwertmeister. »Die Übung bereitet ihm sichtlich Vergnügen.«

»Was ist mit den anderen?«, wollte Aaron wissen. »Wir brauchen mehr Leute als nur meinen Vater als Drachenreiter.«

Castien zeigte auf einen anderen Teil des Himmels, wo sich Rubina mit hoher Geschwindigkeit näherte. »Niemand fliegt so wie dein Vater, aber das ist Charlie Carbunkle. Er schlägt sich einigermaßen gut.«

Rubina verursachte einen heftigen Windstoß, als sie über das Feld flog und es mit Flammen überzog. Charlie entfesselte einen Energieblitz, allerdings so ungezielt, dass er hinter dem Horizont verschwand. Rubina flatterte in den Himmel und gewann rasch an Höhe.

Sloane zog eine Augenbraue hoch. »Das war einigermaßen gut?«

Oda lachte. »Im Vergleich zu seinen Anfängen ist es schon erstaunlich. Gib ihm Zeit.«

Castien klopfte dem Zwerg auf die Schulter. »Dein Freund Wat hat sich richtig gut angestellt. Tatsächlich fast so gut wie Fürst Riverton. Er wäre sogar noch besser, wenn er nicht so viel Zeit in Eluanethra verbrächte. Darüber werde ich mit Eglerion reden müssen. Unsere Drachenreiter brauchen Übung.«

Odas dicker Bart wogte auf und ab, als er nickte. »Ja. Dieser Irrbart erfüllt das Zwergenvolk fürwahr mit Stolz. Ich habe keine Ahnung, wie er das macht. Kampfzauberer, Bibliothekar und Drachenreiter.«

Aaron schlang den Arm um Sloane. »Wie wär’s, wenn wir etwas essen gehen?«

Oda lächelte. »Oy, ich kenne da etwas! Kommt mit.« Ohne auf eine Antwort zu warten, marschierte er los.

Aaron hielt Sloane die Hand hin. »Anscheinend begleitet Oda uns.«

Sie runzelte die Stirn. »Ist uns bei der letzten Empfehlung von Oda nicht schlecht geworden?«

»Nur dir, Liebste. Hoffentlich gibt es dort auch etwas, das dir besser bekommt.«

* * *

Die Schänke, zu der Oda sie führte, schien beliebt zu sein – ein gutes Zeichen. Dutzende Gäste drängten sich an der Theke und saßen an den Tischen.

Sloane drückte Aarons Hand. »Ich rieche frisch gebackenes Brot.«

Die drei nahmen an einen Tisch Platz, und eine Schankmaid eilte herbei.

»Oy, bezaubernde Dame.« Oda legte zwei Kupfermünzen auf den Tisch. »Ich möchte ein Bier, wenn du so freundlich wärst.«

Aaron schob die Münzen zurück zu Oda und drückte der jungen Frau stattdessen eine Silbermünze in die Hand. »Bier für uns drei, bitte.«

»Und einen Laib von eurem frischesten Brot«, fügte Sloane hinzu.

Die Schankmaid eilte davon. Wenig später kam sie mit dem Bier, dem Brot und frisch eingelegten Gurken zurück, bevor sie die Tagesgerichte vorstellte.

»Wir haben Forelle mit würziger Tomatenbrühe, angerichtet auf duftendem Reis. Mir ist die Soße zu scharf, aber vielen Gästen scheint sie zu schmecken. Sehr zu empfehlen ist die gebratene Rinderzunge mit Kartoffeln und Karotten. Wir haben außerdem Brathuhn mit Rahmspinat und Jungzwiebeln. Auch sehr gut.«

Aaron trank einen ausgiebigen Schluck aus seinem Becher. »Die gebratene Zunge.«

Oda brummte und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. »Das Huhn für mich, meine Liebe.«

»Kann ich die würzige Tomatenbrühe mit Reis bekommen, aber statt dem Fisch mit Karotten?«, fragte Sloane.

»Selbstverständlich, Hoheit.« Die Schankmaid wandte sich an Aaron. »General, das macht ein Stück Silber und drei Kupfer.«

Oda kramte einige Münzen aus seinem Gürtel, aber Aaron drückte der jungen Frau rasch zwei Silberstücke in die Hand. »Behalt den Rest.«

Die Schankmaid lächelte und eilte davon.

»Pah!«, schimpfte Oda. »Ich komm mir vor wie ein Mädchen, wenn du mich nichts bezahlen lässt.«

Sloane verdrehte die Augen, hielt aber den Mund.

Während sie an ihrem Bier nippten, erhob sich Lärm von einer Zwergengruppe auf der anderen Seite des Gastraums. Sie klopften mit ihren leeren Krügen auf den Tisch und wollten offenbar einen aus ihrer Mitte zu etwas ermutigen. Schließlich kletterte der widerwillige Zwerg, dessen langer roter Bart über seine schwere Rüstung hing, auf den Stuhl, und die anderen Zwerge jubelten.

Der rotbärtige Zwerg begann zu singen.

Polier die Rüstung, schärf die Klinge,

Tanz zur Musik, während ich singe.

Küss die Damen, eins, zwei, drei,

Auch für mich ist eine dabei.

Genieß den Spaß, solange es geht,

Bald ist er vorbei, es ist schon spät.

Die Barriere ist’s, das will ich betonen,

demnächst bekämpfen wir dort Dämonen.

Wir holen den Sieg, denn wir sind die Harten,

auf geht’s, Jungs, der Krieg wird nicht warten!

In der gesamten Gaststätte brach Jubel aus, und Rufe nach einer Zugabe wurden laut. Die gesamte Gruppe der Zwerge stimmte bei einer zweiten Strophe ein. Einige erhoben sich sogar und tanzten dazu.

Aaron genoss es zwar, die ausgelassene Heiterkeit zu beobachten, dennoch runzelte er unwillkürlich die Stirn. Im Lied der Zwerge lag zu viel Wahrheit. Der Krieg nahte tatsächlich.

Sloane, die wie immer seine Gedanken gelesen hatte, übermittelte eine stumme Botschaft in seinen Geist. »Wo bleibt mein Kuss?«

Als die Zwerge zu »Küss die Damen, eins, zwei, drei« kamen, gab Aaron seiner lächelnden Frau einen langen Kuss. In dem Moment traf die Schankmaid mit dem Essen ein. Grinsend zwinkerte sie den beiden zu.

Als sich Aaron über seinen dampfenden Teller beugte, verdrängte er die Gedanken daran, was sie jenseits der Barriere erwarten mochte. Die Zwerge hatten recht: Genieß den Spaß, solange es geht. Im Augenblick galt es, sich zu entspannen und genießen, denn schon morgen konnte sich alles ändern.

* * *

Malphas’ Faust prallte gegen den Schädel eines widerspenstigen Dämons. Der knurrende Mazikim wurde gegen seine Brüder zurückgeschleudert. Blut strömte aus seiner zertrümmerten Augenhöhle.

»Ich habe gesagt, du sollst vorsichtig sein und nicht vorauspreschen!«, blaffte Malphas.

Die Mazikim waren die Truppen, die er am häufigsten bei Sturmangriffen einsetzte. Ihre dunklen Schuppen und ihre unter acht Fuß kleinen Körper eigneten sich gut für die Tunneln der Niederwelt. Aber gelegentlich erwiesen sie sich als undiszipliniert. Zum Glück genoss Malphas jede Gelegenheit, sie wieder zum Spuren zu bringen.

Sie hatten gerade mehrere Gänge mit ungewöhnlich vielen leuchtenden Pilzen passiert. Malphas hatte im Verlauf der Jahre herausgefunden, dass die Ta’ah diese Pilze züchteten. Deshalb wusste er, dass sich die Ta’ah in der Nähe aufhalten mussten. Er hoffte es. Für die Mazikim wäre es gut, auch gegen andere zu kämpfen, nicht nur untereinander.

Sie schlichen einen weiteren Korridor entlang und gelangten zu einer Kreuzung. Als Malphas tief einatmete und auf einen Hauch der Witterung ihrer Beute achtete, flitzte der widerspenstige, nunmehr halb blinde Mazikim plötzlich nach rechts davon.

Malphas knurrte. Den werde ich in Stücke reißen.

Er jagte dem Dämon hinterher. Die anderen folgten dicht hinter ihm, aber er musste bremsen, als im Gang vor ihm ein Licht erschien. Vorsichtig schlich er weiter und erreichte eine Höhle, die eine einzige Fackel in einem Wandhalter erhellte.

Dort starrte der törichte Dämon auf eine Tür aus Granit in der hinteren Wand. Darüber prangte eine Inschrift, die einen Hauch von Magie verströmte.

Noch bevor Malphas einen Befehl rufen konnte, schlug der Dämon mit den Fäusten gegen die Tür. Kaum hatte er sie berührt, blitzte Energie auf, und der Dämon wurde verbrannt.

Malphas grinste. Lektion gelernt. Obwohl er den Trottel gern mit eigenen Händen in Stücke gerissen hätte, würde auch dieses Ergebnis genügen.

Er durchquerte die Kammer und betrachtete die Tür. Ja, sie wurde eindeutig von einer magischen Barriere geschützt. Er schaute hinauf zur Inschrift und übersetzte die Buchstaben:

Im Gefolge von Dämonen und kriegerisch Zank

Ein neues Leben traf ein und begann.

Von einem Ort jenseits der Sterne war’s,

und kennt die Bedeutung des Planeten Mars.

Malphas las die Worte ein zweites Mal, doch sie ergaben für ihn keinen Sinn. Während er über das Rätsel grübelte, ertönten aus einem angrenzenden Tunnel Stimmen und rennende Schritte.

Die Ta’ah.

Malphas wandte sich an seine Truppe und knurrte. »Euer idiotischer Bruder hat uns die Verteidiger der Ta’ah auf den Hals gehetzt. Für eine ganze Schar von ihnen seid ihr nicht bereit. Rückzug in unsere Tunnel.«

Als Malphas in den Gang losrannte, durch den sie gekommen waren, spürte er in der Kammer hinter ihm einen Energieblitz und hörte einen gequälten Aufschrei eines Mazikim.

Hoffentlich wird damit eine weitere Lektion gelernt. Vielleicht hören sie nächstes Mal auf mich, wenn ich sie warne.

* * *

Ryan lächelte, als sich Arabelle unter der Bettdecke an ihn kuschelte. Die Kopfschmerzen, die ihn monatelang geplagt hatten, waren endlich verschwunden. Er fühlte sich wie ein neuer Mensch.

Drei Tage waren vergangen, seit er aus seinem monatelangen Albtraum erwacht war. An den letzten Teil der Heimreise konnte er sich nicht mal erinnern. Er wusste noch von Nicnevin. Danach hatte er nur bruchstückhaft und verschwommen im Gedächtnis, wie er mit Arabelle an der Seite durch den Wald gestolpert war.

Und so viele seiner Probleme hätten vermieden werden können, wenn er regelmäßig den Brunnen benutzt hätte. Er kam sich wie ein Idiot vor. Ab sofort würde er nicht nur regelmäßig den Brunnen aufsuchen, sondern dabei jedes Mal Seder für seinen schützenden Segen danken, das nahm er sich fest vor.

Obwohl es noch sehr früh am Morgen war, beschloss er, mit seinem Ring eine Nachricht zu übermitteln. Er hoffte, er würde damit niemanden wecken, der noch schlief.

Ryan. Dad? Bist du wach?

Dad. Ja, ich frühstücke gerade mit deiner Mutter.

Ma. Guten Morgen, Schatz.

Guten Morgen. Dad, du hast gesagt, du willst reden. Passt dir heute Morgen?

Ich bin in 30 Minuten in meinem Arbeitszimmer. Komm hin, sobald du bereit bist. Bring deinen Stab mit.

In Ordnung, ich rede mit Belle und komme dann gleich.

Arabelle brummelte unter der Bettdecke. »Mein Ring vibriert.«

Er zog ihr die Decke vom Kopf. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«

Arabelle kniff die Augen gegen das Licht zusammen und vergrub den Kopf unter ihrem Kissen. »Was hat dein Vater für dich geplant?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich will es hinter mich bringen. Später habe ich für heute eigene Pläne. Sie betreffen dich, Aaron und Sloane.«

Arabelle zog den Kopf wieder unter dem Kissen hervor. »Was hast du im Sinn?«

»Ach, nicht viel.« Er lächelte. »Ich dachte mir nur, wir könnten heute versuchen, die Barriere zu überwinden.«

Arabelles Mund klappte auf. »Glaubst du wirklich, wir könnten es schaffen?«

Ryan nickte zuversichtlich. »Weißt du noch, dass ich vor Jahren die Vision hatte, wie wir die Barriere durchqueren und in Burg Thariginian landen? Tja, letzte Nacht hatte ich sie wieder.«

»Und hat dir die Vision auch mitgeteilt, wie es sich bewerkstelligen lässt?«

»Na ja ... nicht genau. Aber warum sollte ich sie ausgerechnet jetzt haben, wenn wir es nicht herausfinden könnten?«

Arabelle biss sich auf die Unterlippe. »Ryan, das ist toll, aber ...« Sie runzelte die Stirn. »Weißt du, ich würde mich besser fühlen, wenn du ein bisschen besorgter wärst. Das ist nicht bloß ein harmloses Abenteuer. Wer weiß, was uns dort erwartet?«

»Glaub mir, das ist mir bewusst. Aber irgendwann müssen wir es ja tun. Warum nicht jetzt?«

»Vielleicht hast du recht. Aber wenn, dann müssen wir vorbereitet sein.«

Sie sprang aus dem Bett, öffnete ihre Truhe und begann, Verschiedenes daraus hervorzuholen. Mehrere Beutel, Mörser und Stößel, Strohhalme. Sie trug alles zum Tisch in der Ecke und begann, einige Blätter aus einem der Beutel zu zerstoßen.

»Fertigst du hinterhältiges Elfenzeug an?«, fragte Ryan.

Sie zwinkerte. »Ich bereite nur mein Werkzeug vor. Geh jetzt zu deinem Vater. Tu, was du tun musst. Wenn ich hier fertig bin, gebe ich Sloane und Aaron Bescheid, was wir vorhaben.«

* * *

Ryan traf seinen Vater in dessen Arbeitszimmer an, wo das übliche Durcheinander herrschte. Mehrere Kreidetafeln verteilten sich in der Kammer. Darauf standen gekritzelte Gleichungen, die für Ryan nicht den geringsten Sinn ergaben. Dad war vor ihrer Ankunft in Trimoria Techniker gewesen. Deshalb betrachtete er Magie lediglich als weitere Wissenschaft, die es zu erforschen galt.

Sein Vater setzte an seinem Hauptarbeitstisch mit einer Pinzette winzige Kristalle in Fassungen auf einer kleinen Platte aus Damantit ein. Ryan wartete geduldig, während sein Vater arbeitete.

Nachdem Dad den letzten Kristall platziert hatte, winkte er Ryan zu sich. »Komm her. Gib mir die Linse da.«

Er zeigte auf ein konvexes Stück Glas, das wie eine Lupe aussah. Ryan ergriff es und brachte es Dad.

»Jetzt pass auf. Das wird cool.«

Dad hielt die Linse über die Platte aus Damantit mit den Kristallen, dann hob er die andere Hand darüber und entfesselte einen Energiestrom. Wie immer drang ein dicker, ungezielter Strahl aus Dads Hand. Aber als er durch die Linse ging, wurde er zu einer dünnen Nadel gebündelt. Er bewegte die Nadel präzise von einem der winzigen Kristalle zum nächsten über die Platte und versiegelte jeden an seinem Platz.

Als er fertig war, drehte er die Platte um. Zum Vorschein kam eine Reihe von Kupferlinien auf der Rückseite. »Okay, sieh dir das an. Diese Linien sind Kupferbahnen. Sie verbinden die Edelsteinfassungen miteinander. Ich habe eine transdermale Verbindung geschaffen.«

»Eine was?«

Sein Vater drehte die Platte wieder um und zeigte auf die versiegelten Kristalle. »Der milchige Stein rechts ist Quarz, der darunter ein Rubin, der links ein Smaragd und der oben ein Diamant.« Er befestigte Lederriemen an den Enden der Platte. »Jetzt streck den Arm aus.«

Ryan hatte keine Ahnung, was vor sich ging, aber er kam der Aufforderung nach.

Dad wickelte ein dünnes Tuch um Ryans Handgelenk, legte die Damantit-Platte darauf und fixierte sie mit den Lederriemen. Die Vorrichtung sah aus wie eine überdimensionierte Uhr, die keine Zeit anzeigte.

Jared grinste. »Jetzt kommt der beste Teil.«

Er zog das Tuch unter der Uhr weg. Sofort leuchteten der Quarz und der Rubin hell auf, während der Smaragd nur einen schwachen Schimmer erkennen ließ.

»Wow. Das ist cool«, sagte Ryan. »Aber was bewirkt es?«

Sein Vater lehnte sich zurück. »Es misst deine magische Energie.«

»Würdest du mir das erklären?«

Dad lachte. »Gern. Ich musste zwar viel experimentieren, aber letztlich ist es mir gelungen, eine magische Schaltung zu erschaffen. Die Kupferleitungen unter der Platte zapfen die Magie an, die durch deinen Körper fließt. Der Quarz ist am empfindlichsten für magische Energie, daher leuchtet er selbst bei einer geringen Energiemenge am hellsten. Den Rubin hab ich so kalibriert, dass er zehnfach unempfindlicher reagiert. Er erreicht seine maximale Helligkeit also bei der zehnfachen Energiemenge, die der Quarz für seine maximale Helligkeit braucht. Der Smaragd leuchtet bei etwa hundertmal mehr Energie als der Rubin mit voller Kraft – also bei tausendmal mehr als der Quarz. Und beim Diamanten ist dafür die Energiemenge von tausend Rubinen nötig. Was der Menge für einer Million Quarze entspricht.«

»Also wie die Tankanzeige in einem Auto?«

»Haargenau. Ziehen wir den Quarz als eine Energieeinheit heran – die praktisch nichts ist, aber der Stein eignet sich zur Überprüfung, ob das Gerät funktioniert. Im Moment kitzelst du den Smaragd gerade mal, was in etwa 1.000 Energieeinheiten entspricht. Wie unsere früheren Experimente gezeigt haben, ist das dein normales Niveau, wenn du nicht müde bist.«

»Wo liegt dein normales Niveau?«

Jared zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Smaragd etwas stärker zum Leuchten gebracht als du. Aber jetzt will ich was anderes ausprobieren. Nimm deinen Stab auf und zapf seine Energie an. Ich will sehen, ob das Gerät diese Energie erkennt.«

Ryan ergriff seinen Damantit-Stab und griff auf die Energie zurück, die er in dem Diamanten an einem Ende gespeichert hatte. Ein Energieschub raste durch ihn.

»Sieh nur!«, rief Dad. »Du hast den Smaragd voll zum Leuchten gebracht, und ich könnte schwören, der Diamant hat kurz aufgeflackert.«

Ryan spielte eine Weile mit dem Gerät herum, ergriff seinen Stab abwechselnd und ließ ihn wieder los. Dabei beobachtete er, wie sich die Messanzeige veränderte.

»Unglaublich, dass du so was erschaffen konntest, Dad. Also nichts für ungut, aber ... wozu brauchen wir es? Wir spüren es ja, wenn wir nur noch wenig Energie haben.«

»Klar, man fühlt es«, räumte Dad ein. »Aber das ist sehr ungenau und unzuverlässig. Wie oft haben wir schon erlebt, dass ein Schüler im Klassenzimmer ohnmächtig wurde, obwohl er behauptet hatte, er könnte mit dem Unterricht weitermachen? Wir können es uns nicht leisten, dass Zauberer auf dem Schlachtfeld zusammenklappen, weil sie sich verausgabt haben, ohne ihre Speicher aufzufüllen. Ich fertige mehr davon an, damit wir zumindest alle Kampfzauberer damit ausrüsten können.«

Ryan nickte. »Klingt einleuchtend.«

»Das kannst du behalten«, sagte Dad. »Denk daran, wenn nur noch der Rubin leuchtet, bist du schon ziemlich ausgelaugt. Wenn du den Quarz erreichst, stehst du kurz vor dem Kollaps.«

»Danke, Dad. Weißt du, es ist Jahre her, dass ich zuletzt eine Uhr getragen habe. Das ruft Erinnerungen an die alten Zeiten wach.«

Sein Vater schmunzelte. »Ich glaube nicht, dass die Uhren zu Hause magische Sensoren hatten. Jetzt setz dich. Ich bin noch nicht ganz fertig mit dir.«

»Dad ... eigentlich hab ich heute keine Lust auf Experimente.«

»Keine Sorge, es ist kein Experiment. Die Burg wollte nur, dass ich dir etwas erkläre.«

»Hast du die Burg gesagt?«

»Eigentlich hat deine Schwester damit angefangen.«

Allmählich wurde Ryan neugierig. Er setzte sich. »Ich höre.«

Dad nahm sich einen anderen Stuhl. »Okay, wo soll ich anfangen? Anscheinend redet Rebecca mit dem Gemäuer, seit sie an der Zeremonie zur Erweckung der Burg teilgenommen hat. Ich habe nachgelesen. Offenbar war das nur zu erwarten. Dem Weihespender von Burg Thariginian ist es angeblich genauso ergangen.

Wie auch immer, gestern ist Rebecca mit einer Botschaft zu mir gekommen. Sie hat gesagt, die Burg will, dass ich dir die Quantenverschränkung erkläre.«

»O-o-o-okay«, sagte Ryan gedehnt. »Ist ja auch total normal für eine Vierjährige.«

Dad lachte. »Ich hab genauso reagiert. Aber glaub mir, es war noch schräger, sie die Worte aussprechen zu hören.« Er nahm einen seiner Ringe ab und ließ ihn auf dem Tisch rotieren. »Weißt du noch, wie wir die angefertigt haben?«

Ryan nickte. »Natürlich.«

»Und was haben wir daraus gelernt?«

Ryan seufzte. Sein Vater wechselte in den Vortragsmodus. Aber Ryan wusste aus Erfahrung, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als mitzuspielen.

»Du hast Energie in ein massives Stück Metall geleitet und es danach aufgeteilt. Und was immer wir mit einem Teil gemacht haben, ist bei allen Teilen passiert, ganz gleich, wie weit sie voneinander entfernt waren. Das haben wir daraus gelernt. Es ist, als wären sie immer miteinander verbunden, auch wenn etliche Kilometer zwischen ihnen liegen.«

»Genau. Ein Quantenphysiker würde sagen, dass diese beiden Teile ›verschränkt‹ sind.« Dad strich sich über den Bart. »Und das widerspiegelt das Konzept der Quantenverschränkung. Die Quantentheorie beschreibt, wie ein Photon geteilt und seine Teile verschränkt werden können. Das heißt, ganz gleich, wie weit die Teile voneinander entfernt sind, wenn sich eines ändert, dann ändert sich auch das andere. Und vergiss nicht, das gilt auf der Erde. Dort gibt es keine Magie, nur Wissenschaft. Aber es funktioniert genau gleich.«

»Okay. Das versteh ich. Aber warum sollte die Burg wollen, dass ich das weiß?«

»Das hab ich mich auch gefragt – und bin auf eine Hypothese gekommen. Wir wissen, dass unsere Burg durch ihr Herz mit einer anderen Daseinsebene verbunden ist. Burg Thariginian muss eine Verbindung derselben Art haben. Und wenn die Kraft, die bei beiden Burgen in das Herz strömt, aus der gleichen Quelle stammt ...«

»Dann könnten die beiden Burgen miteinander verschränkt sein?«

»Es wäre möglich. Aber das ist nur eine Hypothese – und Hypothesen müssen auf die Probe gestellt werden. Also bin ich zum Herz der Burg gegangen, habe einen Stein in die Mitte der Kammer gelegt und mich nach draußen gestellt. Mit Hilfe deiner Schwester habe ich die Burg gebeten, einen Test durchzuführen ...«

Ryan brauchte keine Einzelheiten. »Der Stein ist verschwunden, oder?«

»Der Stein ist verschwunden.«

»Zu Burg Thariginian.«

»Vielleicht. Danach habe ich Rebecca die Burg bitten lassen, den Vorgang zu wiederholen. Wir haben die Kammer kurz verlassen, und als wir zurückgekommen sind, war der Stein wieder da.«

Ryan lächelte. »Genau wie in meiner Vision über das Erscheinen in Burg Thariginian.«

Dad nickte. »Das war auch mein Gedanke. Im Augenblick ist es reine Spekulation, aber denk mal darüber nach. Die Burg möchte, dass ich dir erkläre, was Quantenverschränkung ist; die Ergebnisse meines Experiments; deine Vision.« Er beugte sich vor. »Wir haben vielleicht eine Möglichkeit, die Barriere zu überwinden.«

Ryan beugte sich ebenfalls vor. »Wärst du überrascht zu erfahren, dass ich letzte Nacht eine weitere Vision hatte? Darin sitze ich beim Herz unserer Burg und finde mich plötzlich zusammen mit Belle, Aaron und Sloane in einer anderen Burg wieder. Tatsächlich hatte ich schon vor unserem Gespräch vor, heute zu versuchen, die Barriere zu durchqueren – wie ... wie es mir die Vision angezeigt hat. Ich wusste nur nicht, wie ich es anstellen sollte. Aber jetzt ... jetzt weiß ich es vielleicht.«

Jareds Augen wurden groß. Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Fingern durch die Knötchen im Bart. »Sei vorsichtig, mein Sohn. Ich vertraue deinem Urteilsvermögen, aber geh keine unnötigen Risiken ein.«

»Ich verspreche dir, wir nehmen uns so wenig Zeit wie möglich und sind gleich wieder da.«

Jared stand auf und zog ihn in eine innige Umarmung. »Sag deiner Mutter nichts. Sie würde es nicht gut aufnehmen. Ich erkläre es ihr danach. Und nimm unbedingt Heiltränke mit. Und ruh dich vor dem Aufbruch aus.«

Ryan lachte. »Okay, Dad. Ich weiß.«

»Dann nur noch eins.« Sein Vater lächelte. »Ich hab dich lieb.«

* * *

In der Herzkammer der Burg saßen Ryan, Arabelle, Aaron und Sloane im Schneidersitz auf dem Boden und bildeten einen Kreis. Sie reichten sich die Hände und schlossen die Augen.

»Behaltet einfach klaren Kopf«, sagte Ryan, »und lasst in den Kreis fließen, was ihr an Kräften habt.«

»Ich hab keine magischen Kräfte«, sagte Sloane.

»Dann behältst du eben nur klaren Kopf.«

Ryan schlug die Augen auf und konzentrierte sich auf die funkelnde Kugel aus Magie in der Nähe der Decke – den Herzschlag der Burg. Er sah, wie ihre eigene magische Energie durch den Kreis floss und im Einklang mit der Magie über ihnen pulsierte.

Dann verfärbte sich die magische Energie des Rings, passte sich dem Violett des Herzens an. Ranken derselben Schattierung schlängelten sich von der Kugel zu ihnen allen herab. Plötzlich erfüllte ein greller Lichtblitz den Raum, und Ryan fielen die Ohren zu.

Und die Kammer wirkte verändert.

Es handelte sich immer noch um einen leeren Raum mit vier Wänden aus Stein, aber offensichtlich nicht um denselben. Und die Energiekugel über ihnen pulsierte grün, nicht violett.

»Leute ... wir haben es geschafft. Ihr könnt die Augen jetzt aufmachen.«

Die anderen öffneten die Lider. Sloane, die der Tür zugewandt saß, schnappte nach Luft.

Ryan drehte sich der Tür zu und erblickte eine Inschrift darauf.

Willkommen, meine Freunde. Ich habe auf eure Ankunft gewartet.