»Sind wir wirklich in der anderen Burg?«, fragte Aaron.
Arabelle ging zur Tür und betrachtete sie eingehend. »Ist mit keiner Falle versehen.« Sie schaute über die Schulter. »Sind wir bereit, nachzusehen, was auf der anderen Seite ist?«
Ryan verstärkte seine Schilde, ging zur Tür und bedeutete Arabelle, beiseitezutreten. »Lass mich sie öffnen. Falls uns eine böse Überraschung erwartet, können meine Schilde hoffentlich das Schlimmste verhindern.«
Aaron zückte den eigenen Schild und zog sein Schwert, während sich Arabelle neben Sloane stellte, in jeder Hand einen Dolch.
Ryan hob den Riegel an und zog an der Tür. Geräuschlos schwang sie auf. Heiße, nach Schwefel riechende Luft strömte herein. Ryan streckte den Kopf in den Gang draußen. An einem Ende führte eine Treppe abwärts, am anderen Ende befand sich eine offene Terrasse.
Ryan steuerte die Terrasse an. Die anderen folgten ihm. Offensichtlich lag die Herzkammer von Burg Thariginian an viel höherer Stelle im Gebäude als in Burg Riverton, denn sie befanden sich nah der Spitze des Gebäudes und hatten eine verblüffende Aussicht auf die Gebiete im Norden. Traurigerweise erwies sich das Land in der Richtung als verwüstet – und endete keine anderthalb Kilometer entfernt an der Nebelbarriere.
»Gelobt sei Seder, wir haben’s geschafft!« Arabelle japste. »Wir haben die Barriere durchquert.«
»Ich kann’s kaum glauben«, murmelte Sloane.
Plötzlich wirbelte Arabelle herum und nahm geduckte Verteidigungshaltung ein. Die schwarzen Dolche leuchteten schwach in ihren Händen. Erst dann hörte Ryan sich nähernde Schritte.
Ein großer, schlanker Elf mit einem dicken Holzstab trat aus den Schatten hervor. Einen Moment lang starrte er die vier Neuankömmlinge nur ungläubig an. Dann traten ihm Tränen in die Augen, und er begann zu zittern. Er fiel auf die Knie. Sein Stab landete klappernd auf den Steinplatten, als er das Gesicht in den Händen vergrub und weinte.
»Seder«, flüsterte er. »Nach so langer Zeit hatte ich den Glauben an deine Visionen verloren ...«
* * *
Der Elf hieß Bryan Grünmandl – derselbe Bryan Grünmandl, der laut Ryan und Arabelle die uralte Geschichte von Nicnevin niedergeschrieben hatte. Als sie alle in der strahlenden Mittagssonne im Schneidersitz auf der Terrasse saßen, erstaunte Sloane, wie lebhaft der Elf wirkte – so völlig anders als die weitgehend zurückhaltenden Elfen, denen sie bisher begegnet war.
Muss wohl am verzweifelten Wunsch nach Gesellschaft über so lange Zeit liegen.
Der Elf deutete über die Terrasse zu der weitläufigen, verwüsteten Ebene. »Wie ihr wahrscheinlich wisst, hat sich alles vor über fünf Jahrhunderten zugetragen. Wir wurden von den Dämonen bedrängt, und der Erzmagier war so töricht, die Sicherheit des Geländes dieser Burg zu verlassen.«
»Meinst du den ersten Protektor?«, hakte Aaron nach.
»Protektor?«
Arabelle meldete sich zu Wort. »Zenethar Thariginian ist für uns nördlich der Barriere ein Held geworden. Wir haben ihn den ersten Protektor getauft.«
Bryan runzelte die Stirn. »Ah. Wäre ich im Norden gewesen, würde ich ihn vielleicht auch in dem Licht sehen. Aber hier im Süden ...« Er verstummte, als wöge er die Worte ab. »Ich verstehe, dass der Erzmagier getan hat, was er für nötig hielt. Aber uns im Süden hat seine Entscheidung nicht zum Vorteil gereicht.«
Sloane spürte den Unmut des Elfen und konnte ihn nachvollziehen. Der erste Protektor hatte ihn im Wesentlichen geopfert – ihn behandelt, als wäre er entbehrlich.
»Wie hast du hier überlebt, auf dieser Seite der Barriere?«, fragte Ryan.
»Das ist eine lange Geschichte. Nach der Schlacht und der Errichtung der Barriere wurde ich von den Avud gefangen genommen. In der allgemeinen Sprache bedeutet Avud ›die Verlorenen‹. Sie sind Elfen aus grauer Vorzeit meines Volkes und haben sich entschlossen, den Pfad Seders zu verlassen und stattdessen den chaotischen Überzeugungen eines Wesens zu folgen, das sich Lilith nennt.« Während er sprach, hob er eine Strähne seines blonden Haars an und enthüllte eine zornig-rote Narbe, die von der Stirn in den Haaransatz verlief. »Ich war im Kampf niedergestreckt worden und dachte zuerst, sie hätten mich gerettet. Allerdings habe ich schnell festgestellt, dass dem nicht so war. Die Avud sind ... nicht wie mein Volk.«
Aaron beugte sich vor. »Dann muss ich mehr über sie erfahren. Ich muss wissen, womit ich es zu tun bekomme.«
Bryan schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihr gegen sie kämpfen müsst. So sind sie nicht so – an Eroberung ist ihnen nicht gelegen. Tatsächlich meiden sie Gewalt, es sei denn ...« Die braune Haut des Elfen wurde blass. »Es sei denn, sie werden herausgefordert.«
Sloane schnappte das Aufblitzen einer Erinnerung auf und stürzte sich darauf. Sie nahm sie so deutlich wahr, als würde sie es selbst erleben ...
Meine gefesselten Handgelenke waren von Fluchtversuchen wundgescheuert. Mein Schädel pochte noch von dem Keulenschlag, der mich auf dem Schlachtfeld niedergestreckt hatte. Die verdammten Avud scherten sich nicht im Geringsten um meine Verletzungen. Ich war auch nicht der Einzige, den sie sich geschnappt hatten. Überall an der Wand der von Fackeln erhellten Höhle befanden sich andere Gefangene – die zwischen dem Eingang zur Niederwelt und der aus dem Nichts aufgetauchten Nebelbarriere festgesessen hatten.
Ich sank in die Ketten, die meine Arme an die Wand fesselten, und beobachtete, wie weitere der dunkelhaarigen Avud-Frauen die Höhle betraten. Sie schleiften einen gefangenen Zwerg zwischen sich. Er kämpfte gegen seine Fesseln an und schrie unzusammenhängend.
Die Anführerin der Gruppe baute sich vor den angeketteten Gefangenen auf und brüllte, um den Lärm zu übertönen. »Ihr Männer werdet in den nächsten Tagen vor eine äußerst erfreuliche Wahl gestellt.«
Dann lächelte sie, und ich sah grausige Fänge glitzernd aufblitzen. Auch spürte ich, dass knisternde Magie von ihr ausging, und mir lief ein Schauder über den Rücken. Wie konnte eine derart verdorbene Kreatur Magie benutzen? War sie die Königin ihres neuen entarteten Volks?
Sie zeigte auf den Zwerg, der Schaum vor dem Mund hatte, als litte er an Tollwut. »Bezeugt die Geburt meiner Tochter. Der Zwerg hat sich mir verweigert, und meine Herrin Lilith verlangt, dass wir uns vermehren.« Nach wie vor den Gefangenen zugewandt zischte sie: »Verweigert euch mir oder einer meiner Schwestern, und das wird euch widerfahren!«
Die Mitte des Zwergs wölbte sich. Blut sprudelte hervor, und der Zwerg stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, bevor er verstummte und erschlaffte. Ich hörte das Reißen von Fleisch – und das Geschrei eines Säuglings.
Die Anführerin der Avud kniete sich neben den Zwerg, fasste in seinen aufgebrochenen Leib und zog ein zappelndes kleines Mädchen heraus – eine junge, blutige Version der Frauen, die uns gefangen hielten. Mein Magen brodelte beim Gedanken, dass etwas Derartiges aus mir hervorbrechen könnte, und mehrere der angeketteten Gefangenen mussten sich übergeben.
Dann trat eine der Frauen auf mich zu. Sie leckte sich über die Lippen, warf das lange dunkle Haar über die Schulter zurück und lächelte. Mir brach kalter Schweiß aus. Aber als sie sich näherte, atmete ich voll stiller Erleichterung auf. Denn sie kam nicht auf mich zu, sondern auf den Gefangenen neben mir.
Da wusste ich, dass es für mich nur eine Hoffnung gab. Ich musste ihrer Aufmerksamkeit lang genug entgehen, um zu entkommen.
Sloane schauderte, als sie die Erinnerung aufnahm. Ihr Blick wanderte zu Bryans stark vernarbten Handgelenken. Sie musste einen Teil von Bryans Geschichte verpasst haben, denn Ryan sprach inzwischen über etwas anderes.
»Und als du wieder in der Sicherheit der Burg warst, wie hast du überlebt?«
Bryan rupfte ein Büschel grünes Moos von einer der Steinplatten und hielt es hoch. »Damit. Die Burg versorgt mich mit allem, was ich brauche. Und mehr bekomme ich nicht. Ich wage es nicht, das Gelände zu verlassen.« Er deutete auf das uralte Schlachtfeld, das die Burg umgab. »Da draußen lauern seltsame Kreaturen. Hauptsächlich Dämonen. Aber auch andere, sowohl gute als auch böse.«
»Gute?«, hakte Arabelle nach. »Haben auf dieser Seite der Barriere auch gute Völker überlebt? Ich hätte gedacht, sie wären alle umgekommen.«
Bryan zuckte mit den Schultern. »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, dass es die Ta’ah noch tief in den unterirdischen Tunneln im Süden gibt. In der Zeit, nachdem ich den Avud entkommen war, bin ich bei meiner Wanderung durch diese Tunnel auf Spuren von ihnen gestoßen und konnte ihre Magie spüren.«
»Du kannst Magie spüren?«, fragte Ryan.
In den Augen des Elfen blitzte etwas auf, und er straffte den Rücken. »Selbstverständlich. Ich war der engste und vertrauteste Berater von Königin Ellisandrea und der Meister des Wissens meines Volks. Ich befasse mich seit fast einem Jahrtausend mit der Kunst der Magie, junger Zauberer.«
»Meister des Wissens«, ergriff Aaron respektvoll das Wort, »gehe ich recht in der Annahme, dass du gern mit deinem Volk wiedervereint werden möchtest?«
Sloane spürte einen überwältigenden Anflug von Traurigkeit, Schuldgefühlen und Hoffnung, die von dem verblüfften Elfen ausgingen. Aber äußerlich nickte Bryan nur stumm.
Ryan stand auf und streckte eine Hand aus. »Dann komm mit. Lass uns nicht länger hier bleiben. Ich glaube, ich kenne jemanden, der dich gern wiedersehen würde.«
Bryans Hand umklammerte Ryans Handgelenk mit festem Griff, und als Ryan ihn auf die Beine zog, sagte der Elf mit brüchiger Stimme: »Gesegnet mögest du sein. Möget ihr alle gesegnet sein.«
* * *
Ryans Ohren fielen zu, als sie wieder in der Herzkammer von Burg Riverton erschienen. Die vertraute Kugel aus violetter Energie pulsierte über ihm.
»Ich kann es nicht glauben!«, stieß Bryan hervor. »Ihr habt eine weitere Burg geweiht. Hervorragend!« Er runzelte die Stirn. »So seid ihr zu mir gelangt, nicht wahr? Meine Visionen haben mir eure Ankunft in der Herzkammer der Burg gezeigt, aber ich konnte mir nicht erklären, wie es möglich sein sollte.«
Ryan lächelte. »Du bist wirklich ein Meister des Wissens, wenn du es dir so schnell zusammengereimt hast. Auf unserer Seite der Barriere hat sich in den letzten fünf Jahrhunderten so viel ereignet. Eine Menge neuer Erkenntnisse erwarten dich. Vielleicht möchtest du unseren eigenen Meister des Wissens kennenlernen.«
»Ja bitte«, erwiderte Bryan. »Das würde mich sehr freuen.«
Ryan schaute mit hochgezogener Augenbraue zu Sloane, die nickte. »Ich habe ihm bereits eine Botschaft übermittelt. Er ist unterwegs in die Haupthalle.«
»Wer ist euer Meister des Wissens?«, fragte Bryan.
»Jemand, der hocherfreut sein wird, dich zu sehen, davon bin ich überzeugt.« Ryan legte Bryan den Arm um die Schulter, und sie traten den Weg durch die Gänge an. »Komm. Du wirst es gleich sehen.«
Wie von Sloane angekündigt wartete Eglerion bereits in der Haupthalle. Bryan erstarrte vor Verblüffung beim Anblick seines ehemaligen Lehrlings.
Eglerion verneigte sich förmlich. »Ich habe es vermisst, dein Gesicht zu sehen, Meister.«
Bryans Augen hätten gar nicht größer werden können. Tränen strömten ihm über das Gesicht. »Das kann nicht sein!« Er berührte den Stoff von Eglerions Gewand, als wollte er sich beweisen, dass er kein Trugbild vor sich hatte. »Der junge Eglerion? Bist du es wirklich?«
Eglerion hob mit gespreizten Fingern die Hand. »Ja, Meister, ich bin es.«
»Eglerion! Ich hätte nie gedacht ...« Abrupt verstummte er. »Und Xinthian?«
»Er ist in Eluanethra.«
»Du musst ihm sagen, dass ich die Avud gefunden habe. Sie haben Seders Weg wahrhaft verlassen. Vertrauen wir ihnen, könnte es der Untergang für unser Volk sein.«
Eglerions Gesichtsausdruck wurde düster. »Du kannst es ihm selbst sagen, Meister. Wir reisen nach Eluanethra. So etwas lässt man keinen Boten überbringen.«