Während Ryan Eintopf mit Hammelfleisch und Wurzelgemüse aus seiner Schale aß, behielt er Nyra im Auge. Sie fühlte sich unter den Zwergen sichtlich unwohl, saß mit steifem Rücken da, während ihre Augen ständig zuckten. Obwohl sie ihr mehrfach versichert hatten, dass sie in Sicherheit war, würde es wohl eine Weile dauern, die Vorurteile eines ganzen Lebens zu überwinden.
Der Koch taumelte, als er zu ihr herüberkam und einen riesigen Spieß aus Metall trug, beladen mit ausgesuchten Stücken gebratenen Hammelfleischs. Sie belohnte ihn mit einem Lächeln und nahm ihm den schweren Spieß mühelos mit einer Hand ab.
»Danke, guter Zwerg.«
Der Koch wischte sich den Schweiß von der Stirn und verneigte sich tief. »Gute Frau, ich bin Hammerdorn Steinfaust.« Er errötete unter dem braunen Bart. »Aber meine Freunde nennen mich Hammelbein.«
Nyra beugte sich tiefer, damit sie dem Koch auf gleicher Höhe ins Gesicht sehen konnte. »Danke für das Fleisch, Hammelbein.«
Arabelle beugte sich zu Ryan und flüsterte: »Ich glaube, unser Koch ist in Nyra verliebt.«
Der Zwerg verneigte sich erneut, so tief, dass sein Bart über den Boden schrammte. Als er sich abwandte und zu den Kochfeuern zurückkehrte, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte Ryan. »Sonst ist er nämlich ein ziemlich mürrischer kleiner Kerl. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je zuvor so erlebt zu haben.«
Eine Stimme ertönte hinter ihnen. »Oy, Erzmagier! Ich hab deine Lieferung für die Armee bekommen.«
Ryan drehte sich um und erblickte einen staubigen Zwerg mit mehreren Gebirgsponys, die eine Reihe von Planwagen zogen. Er stand auf, ging zum ersten Wagen und spähte hinein. »Damantit-Erz?«
»Das wollte dein Vater doch, oder?«
Arabelle kam herüber, fuhr mit den Händen über die Räder des vordersten Wagens, untersuchte die Achsen und nickte zufrieden. »Sieht gut aus.«
Der Zwerg zeigte sich empört. »Was habt ihr denn gedacht, dass ich mit einem schäbigen Wagen daherkomme?«
Ryan klopfte dem Zwerg auf die Schulter. »Meine Frau ist mit Wagen aufgewachsen, deshalb kann sie nicht anders. Sie ist bloß vorsichtig.«
Arabelle schenkte dem Zwerg ein süßes Lächeln, während sie in jeder Hand einen leuchtenden Dolch aus Damantit drehte. »Ich will nur für die Sicherheit meines Ehemanns sorgen.«
Ohaobbok und Nyra kamen herüber. »Sind wir bald bereit zum Aufbruch?«, fragte der Oger.
Ryan tätschelte den gepanzerten Ellbogen seines Freunds. »Ja. Belle und ich müssen sofort zurück.« Er wandte sich an Nyra. »Bist du schon dem Schöpfer des Brunnens begegnet, in dem du gebadet hast?«
Nyras Augen wurden groß. »Er lebt?«
»Gewissermaßen.« Ryan wandte sich an Ohaobbok. »Bevor ihr zwei zur Burg zurückkehrt, erscheint es mir nur richtig, dass sie Gelegenheit bekommt, dem ersten Protektor ihre Aufwartung zu machen. Und besucht beide unbedingt noch ein letztes Mal den Brunnen hier in der Nähe, bevor ihr aufbrecht. Ich will nicht, dass irgendjemand von uns ein Wagnis eingeht.«
Nyra packte Ohaobbok am Arm und nickte.
Barnaby kam herbei und grunzte vor Anstrengung, als er zwei Lederbündel auf den Wagen hievte. »Ich habe mitgebracht, worum du gebeten hat. Keine Ahnung, wofür man Proviant für drei Wochen für eine Reise braucht, die gerade mal ein paar Tage dauert, aber bitte.« Er klopfte auf ein mittelgroßes Fass. »Wenn’s recht ist, gebe ich ein Fass von dem guten Zeug für meinen Bruder Oda mit.«
Ryan lachte. »Wie ich Oda kenne, wird er das sehr zu schätzen wissen.«
* * *
Während sie im vordersten Wagen dahinrumpelten, schloss Arabelle die Augen und lehnte den Kopf an die Schulter ihres Gemahls. »Sag Bescheid, wenn wir da sind.«
Er küsste ihren Scheitel. »Mach ich.«
Sie gestattete sich, einzudösen. Es dauerte nicht lange, bis sie dieselbe Vision wie neulich nachts ereilte.
Arabelle steht mit Ryan auf einer Insel in einem Sumpf. Der Halbmond schwebt hoch am Nachthimmel, Insekten schwärmen über dem abgestandenen Wasser, gespiegeltes Licht blitzt in den Augen von Raubtieren in den Bäumen auf.
Sie dreht sich um und beobachtet, wie ihr Liebster die Hand hebt und eine blau-weiße Kugel aus funkelnder Energie in die Luft entfesselt. Das Licht kann es mit dem des hellsten Vollmonds aufnehmen und vertreibt die Schatten.
Ein Rudel von zwanzig Sumpfkatzen nähert sich. Das vorderste Tier, ein Hüne unter seinesgleichen, fletscht die Zähne und brüllt. Der Schwanz zuckt unruhig.
Als Arabelle erwachte, fragte sie sich erneut, was die Vision zu bedeuten hatte. Was wollte Seder ihr damit sagen?
Was es auch sein mochte, sie konnte es nicht länger ignorieren.
* * *
Arabelle und Ryan waren meilenweit durch die Sümpfe gewatet, folgten ihrer Vision, doch die Sumpfkatzen mieden es, sich den Menschen zu nähern.
Bis plötzlich ein warnendes Knurren ertönte.
Sofort zog Arabelle ihren Umhang um sich und verschmolz mit der Dunkelheit des Sumpfs. Ryan beschwor ein Licht herauf und zischte: »Ich will versuchen, sie nicht zu verletzen. Aber falls etwas schiefgeht, kann ich nichts versprechen.«
Alles war so wie in ihrer Vision. Sie standen tief im großen Sumpf in den nördlichen Gefilden Trimorias. Über Ryans Kopf schimmerte eine strahlende Lichtkugel, als sich ein Rudel Sumpfkatzen näherte.
Das vorderste Tier, ein Kater, fletschte die Zähne, öffnete das Maul und stimmte Gebrüll an.
Mit dem magischen Licht hoch über ihm setzte sich Ryan in Bewegung. Er streckte den Arm aus und entsandte eine schimmernde Lichtranke in den Kopf des Katers. Das Tier schlug mit seiner riesigen Pranke nach Ryan, doch die Krallen schrammten über eine unsichtbare Barriere.
»Irgendetwas ist seltsam an dieser Katze«, sagte Ryan.
Arabelle umklammerte ihre Dolche und wusste nicht recht, was sie tun sollte.
Ryans Ranke aus weißer Energie pulsierte zwischen ihm und dem riesigen Kater. Dann entfernte er sie und wich zurück. Der Kater schwankte und kippte um. Sein Körper zuckte vor Krämpfen.
Die anderen Tiere rückten bedrohlich näher.
Dann pulsierte weiße Energie aus dem schrumpfenden Körper des Katers, und innerhalb weniger Herzschläge war er verschwunden. An seiner Stelle rappelte sich ein zerzauster Zwerg auf die Beine, der heftig blinzelte, als hätte er Mühe, klar zu sehen.
Arabelle schnappte nach Luft.
»Grisham!«