Kurz nach Mitternacht befanden sich Ryan und Arabelle in der riesigen Höhle, die Rubina und Piet beherbergte. Die beiden Drachen wirkten konzentriert, knisterten vor magischer Energie, und die Luft zwischen ihnen begann gerade zu flirren.
Sie hatten beschlossen, für ihre Reise ein Drachenportal statt das Portal der Burg zu benutzen, da ihr Ziel weit von Burg Thariginian entfernt lag. So würden sie sich mindestens eine Tagesreise durch gefährliches Gebiet zu den Gebirgszügen ersparen, wo die Ta’ah lebten. Mit dem Bild, das Sloane von Grisham hatte, sollte es ihnen gelingen, direkt in den Bergen zu landen.
Piet grummelte. »Das ist nicht richtig. Den Ort, den wir laut Sloane finden sollten, gibt es nicht.«
Rubina atmete Rauchschwaden durch die Nasenlöcher aus. »Doch, es gibt ihn schon, aber dort hat sich ein Felssturz ereignet. Dahin können wir euch nicht schicken.«
»Könnt ihr uns eine andere Stelle in der Nähe suchen?«, fragte Arabelle. »Ich weiß nicht genau, wie das geht.«
Piet und Rubina schlossen die Augen. Einige Herzschläge lang herrschte Stille, abgesehen vom Schrammen der schuppigen Drachenschwänze über den Boden der Höhle.
»Gefunden!«, rief Piet und öffnete die Augen.
Rubina knurrte. »Dann teil das Bild, du großer Trottel.«
Piet verengte die Augen und sah sie an. »Trottel? Ich habe die Stelle vor dir gefunden.«
»Wo ist dieser Ort?«, wollte Ryan von Piet wissen.
»Sloanes Bild hat eine Höhle gezeigt«, sagte Piet. »Wir errichten das Portal auf den Felsen, die den Eingang verschüttet haben. Um hineinzugelangen, müsst ihr ein paar Felsbrocken bewegen, aber das sollte für einen Erzmagier wie Ryan kein Problem sein.«
Ryan drückte Arabelles Hand. »Bist du bereit?«
Sie nickte. »Bereit.«
Die Drachen schlossen die Augen erneut, und wenige Herzschläge später erschien ein Portal. Ryan errichtete seinen Schild und ließ sich damit unsichtbar werden.
»Belle, stell dich dicht neben mich, damit ich dich auch unsichtbar machen kann.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich bin durchaus in der Lage, mit den Schatten zu verschmelzen, schönen Dank auch.«
Ryan verdrehte die Augen. »Na schön, auf drei gehen wir durch. Eins, zwei, drei .«
Ryan trat in das schimmernde Bild. Sein Fuß landete auf wackeligem Gestein. Er befand sich auf einem Felssturz inmitten einer leblosen Ödnis. Weit und breit gab es keinerlei Anzeichen von Leben oder Grün.
Arabelle erschien neben ihm und bewegte sich lautlos auf eine Spalte im Berg vor ihnen zu. Die Höhle war nicht vollständig verschüttet. Das war gut. Ryan folgte ihr in den Berg. Dunkelheit verschluckte die beiden.
Kurz nach dem Eingang holte Arabelle eine Ampulle aus der Tasche. Sie legte den Kopf in den Nacken und träufelte einen Tropfen Flüssigkeit in jedes Auge. Dann winkte sie Ryan zu sich. »Du bist dran.«
»Was ist das?«
»Sie hat es eine Tinktur des Neumonds genannt. Es verbessert deine Nachtsicht.«
»Und sie ist wer?«
»Eine alte Kräuterfrau, die meine Mutter kannte, hat mir gezeigt, wie man sie herstellt. Keine Sorge, ich habe sie schon oft benutzt.«
»Fällt mir schwer, mir keine Sorgen zu machen, wenn ich sehe, wie sich das Weiße in deinen Augen in Schwarz verwandelt«, murmelte Ryan.
»Das wird letztlich wieder normal. Und bis dahin kann man mich dadurch schwerer erkennen – was gut ist.«
Ryan schüttelte den Kopf. »Ich brauche das nicht. Meine Augen passen sich schon an. Sieh nur – an den Wänden wächst eine schwach leuchtende Flechte. Und falls uns das Licht ausgeht, kann ich den Diamanten an meinem Stab bloßlegen.«
»Nein, kannst du nicht, weil wir dadurch zur Zielscheibe würden. Wir sind besser dran, wenn wir im Dunkeln bleiben.«
»Na schön«, gab Ryan zurück, »dann decke ich den Diamanten eben nicht auf. Trotzdem will ich, dass meine Augen so bleiben, wie sie sind.«
Arabelle seufzte und verstaute die Ampulle in einer versteckten Tasche. »Dann gehe wohl ich voran. Abmarsch.«
* * *
In den nächsten Stunden kletterten sie über Hindernisse, zwängten sich durch schmale Durchgänge und überwanden unzählige Einsturzstellen. Ryans Muskeln brannten vor Anstrengung. Arabelle hingegen bewegte sich flink dahin und wurde selten langsamer, außer, wenn sie anhielt, um auf ihn zu warten.
Ryan gab rasch den Versuch auf, einen Schutzschild um sie beide herum aufrechtzuerhalten. Dafür lief seine Frau ständig zu weit voraus, um den Weg auszukundschaften. Manchmal hielt sie dabei inne und hob warnend die Faust. Er konzentrierte sich stattdessen darauf, mit ihr Schritt zu halten, ohne sich dabei zu verletzen.
Als Arabelle wieder einmal etwas Abstand zwischen sie gebracht hatte, spürte Ryan plötzlich, wie der Boden erbebte. Er hörte das Knirschen und Knacken von Gestein. Dann gab der Felsboden unter ihm nach – und riss Ryan in die Tiefe.
Als er geradewegs nach unten stürzte, umgeben von wirbelndem Schutt, schaute er zurück nach oben und sah, wie sich Arabelle halb über die Kante des Abgrunds warf und eine Hand nach ihm ausstreckte. Dann schlug er hart auf dem Boden auf, und alles wurde dunkel.
* * *
Ryans Schädel pochte vor Schmerzen. Eigentlich sein gesamter Körper. Als er die Augen öffnete, stellte er fest, dass er halb unter Schutt begraben lag – aber er lebte.
Er biss die Zähne gegen die Schmerzen zusammen und stieß genug Geröll weg, um darunter hervorkriechen zu können. Einen Moment lang spürte er die Beine kaum. Panik breitete sich in ihm aus, bis er feststellte, dass sich sein Unterkörper nur vor Kälte taub anfühlte. Er war in nassem Schlamm gelandet. Vermutlich hatte das seinen Sturz abgefedert.
Während er sich kräftig die Beine rieb, um das Blut zum Zirkulieren zu bringen, sah er sich um.
Die Flechten schimmerten hier heller und beleuchteten einen weiteren Tunnel. Wenigstens saß er in der Grube nicht in der Falle. Aber als er den Schacht hinaufblickte, durch den er abgestürzt war, sah er nur Gestein. Offenbar war hinter ihm ein riesiger Brocken gefolgt und hatte sich so verkeilt, dass er den Weg nach oben versperrte.
Ryan schauderte beim Gedanken, was aus ihm geworden wäre, wenn der Felsbrocken nicht im Schacht stecken geblieben wäre.
Als er sich seinem Ring zuwandte, um Arabelle mitzuteilen, dass es ihm gutging, musste er feststellen, dass beide Ringe an den Nähten aufgebrochen waren – und die grausig geschwollenen Finger seiner rechten Hand pochten schmerzhaft.
Verdammt! Im Verlauf der Jahre hatten sie herausgefunden, dass die Verständigungsringe nur dann nicht mehr funktionierten, wenn die Schweißnaht brach. Belle flippt wahrscheinlich gerade aus, während sie versucht, zu mir zu kommen.
Ryan biss behutsam auf die Ringe und löste sie von seinen Fingern. Sofort schoss das Blut mit einem Anflug von Schmerzen zurück in die beiden Finger. Ryan tastete an seinem Gürtel nach einem Fläschchen mit Heiltrank. Wie sich herausstellte, waren sie alle bei dem Sturz zerbrochen. Er würde die Qualen einfach ertragen müssen.
Zum Glück fand er zumindest seinen Stab, der aus den Trümmern ragte. Er packte ihn mit der linken Hand und benutzte ihn, um sich auf die Beine zu rappeln. Jeder einzelne Muskel seines Körpers schien vor Schmerz zu brüllen.
Ich sollte mich nicht beschweren. Ist immerhin ein verdammtes Wunder, dass ich mir nichts gebrochen habe.
Dann fuhr ihm so plötzlich Schmerz in den Magen, als hätte ihn jemand getreten. Gequält krümmte er sich vornüber, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Krämpfe peinigten ihn, begleitet von Übelkeit. So ging es eine volle Minute weiter, bevor es allmählich nachließ.
Was zum Geier war das?
Ryan richtete sich auf. Ohne Heilkräfte konnte er nichts gegen die Schmerzen unternehmen. Er konnte nur versuchen, Arabelle zu finden – und hoffen, dass er nicht vorher auf etwas anderes stieß. Mühsam und mit pochenden Schläfen stellte er seinen Unsichtbarkeitsschild wieder her und setzte sich humpelnd durch den Tunnel in Bewegung.
* * *
Im Gegensatz zu den Tunneln oben verlief der Gang, durch den sich Ryan schleppte, kerzengerade und ohne Verzweigungen oder Einsturzstellen. Er hatte gehofft, einen Pfad zu finden, der nach oben führte. Aber da es nur einen Weg gab, konnte er ihm lediglich weiter folgen oder umkehren und es in der anderen Richtung versuchen – was er nicht tat.
Stattdessen ging er weiter, und nach etwa 20 Minuten mündete der Tunnel in eine Kammer. Ryan war sich nicht sicher, wie groß sie war – jedenfalls groß genug, dass der Schimmer der leuchtenden Flechten nicht bis zur hinteren Wand reichte.
Erschöpft sank Ryan auf die Knie. In der feuchten, muffigen Luft lag ein metallischer Beigeschmack. Der Geruch erinnerte ihn an den Schlamm, in dem er gelandet war. Oder vielleicht roch er den Schlamm selbst. Er war immer noch bedeckt davon, und das Zeug juckte wie verrückt.
Was würde ich nicht für einen unterirdischen See geben, in dem ich mich waschen könnte.
Als irgendwo weiter vorn in der riesigen Kammer ein Scheppern ertönte, verstärkte Ryan instinktiv seine Schilde.
Das hat wie eine zu Boden fallende Rüstung geklungen.
Schweigend stand er da und lauschte gefühlte Minuten lang, hörte aber nur noch ein vereinzeltes Tröpfeln. Er wünschte, er hätte sich doch von Arabelle die Augen mit ihrem seltsamen Gebräu behandeln lassen. Das Licht der Flechten reichte nicht weit, und wo es endete, herrschte undurchdringliche Schwärze.
Er überlegte, seinen Diamanten zu enthüllen, obwohl er Arabelle versprochen hatte, es nicht zu tun. Aber sie hatte recht – durch ein eigenes Licht würde er zur Zielscheibe für etwaige Feinde in der Nähe.
Er lächelte. Es sei denn, das Licht ist nicht in meiner Nähe ...
Er entschied sich für eine Stelle etwa 15 Meter vor ihm. Dort konzentrierte er seine Magie in etwa neun Metern Höhe. Eine kleine, bläulich-weiße Lichtkugel erschien und verteilte ihren Schein durch die Höhle. Ryan ließ sie allmählich heller werden, bis er erkennen konnte, was sich vor ihm befand.
Und als er es sah, klappte ihm buchstäblich die Kinnlade auf. Das riesige Objekt, das in der Mitte der Höhle lag, war das Allerletzte, womit er je in Trimoria gerechnet hätte.
Denn vor ihm in der unterirdischen Kammer lag im Schein seiner magischen Kugel ein altes zweimotoriges Flugzeug.
* * *
Ryans Hand zitterte, als er das Metall des Rumpfs berührte.
Wie zum Teufel bist du hier gelandet?
Er hielt inne, als sich ein Kribbeln über seinen gesamten Körper ausbreitete und ihn ein Schwindelgefühl erfasste. Als es verging, setzte er den Weg um das Flugzeug fort und betrachtete es eingehend. Es schien kaum strukturelle Schäden erlitten zu haben. Ohne all den Rost könnte es sogar noch flugtauglich sein.
Als er die Vorderseite erreichte, spähte er ins Cockpit.
Ein Skelett starrte ihm entgegen.
Wenn deine Knochen nur deine Geschichte erzählen könnten.
Ryan entdeckte ein Logbuch auf dem leeren Sitz neben dem toten Piloten. Als er danach griff, streiften seine Finger das Steuerpult, und eine Vision explodierte in seinem Kopf.
Eine vage vertraut wirkende Pilotin spricht ins Mikrofon. »Itasca, wir müssten eigentlich bei euch sein, können euch aber nicht sehen. Der Sprit wird knapp. Kann euch über Funk nicht erreichen. Wir fliegen in einer Höhe von 300 Metern.«
Sie dreht sich ihrem Copiloten zu, der mit besorgter Miene in Kartenmaterial auf seinem Schoß blättert. »Fred, ich bin mir nicht sicher, ob ich den Anzeigen der Instrumente traue.«
Fred zeigt ihr eine Karte mit einer darauf eingezeichneten Linie von ihrer Position zur Howland-Insel. »Keine Sorge. Mit Fred Noonan als Navigator kommen wir schon klar.« Er zwinkert.
Die Pilotin justiert die Querruder und neigt das Flugzeug, um nach unten zu blicken. »Ich wünschte, wir hätten Bodensicht zur Bestätigung. Wenn da nur nicht dieser verdammte Nebel wäre!«
Fred schüttelt den Kopf und erneut auf die Karte. »Außer dem Meer gibt’s da unten nichts zu sehen. Bleib einfach auf diesem Kurs. Wir werden die Insel jeden Moment überfliegen, meine Liebe.«
Ryan riss die Hand zurück und schüttelte den Kopf. Wieder überkam ihn ein Schwindelanfall. Diesmal kippte er nach hinten und landete auf dem Rücken.
In der Hand umklammerte er das Logbuch, nach dem er gegriffen hatte. Da er nicht glaubte, es im Augenblick auf die Beine zu schaffen, nahm er sich etwas Zeit, um in den vergilbten Seiten zu blättern. Der handgeschriebene Inhalt schien eine Reise zu dokumentieren, die am 1. Juni in Miami begonnen und zu Orten in Südamerika, Afrika, Indien und Teilen Asiens geführt hatte. Der letzte protokollierte Flug startete am 2. Juli von Neuguinea.
Aber die letzte gefüllte Seite protokollierte Hinweise auf Probleme.
KHAQQ Navigationslogbuch
2. Juli 1937
Itasca verschwunden. Motor gestottert und abgestorben. Irgendwie nicht abgestürzt. Überall Nebel, keine Sicht. Noonan ist bewusstlos. Wir sollten tot sein. Ich muss Hilfe finden.
Amelia
Ryans Gedanken überschlugen sich. Amelia .
Lange vor seiner Ankunft in Trimoria hatte Ryan von einer Frau namens Amelia gehört – einer berühmten Draufgängerin, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf See verschollen war.
»Jetzt wissen wir, was aus Amelia Earhart geworden ist«, murmelte er.
Ohne Vorwarnung überfiel ihn von Krämpfen begleitete Übelkeit, und er krümmte sich vor Schmerzen. Er verlor jegliche Kontrolle über seine Muskeln, und sogar seine schimmernde Lichtkugel erlosch. Das Kribbeln auf seiner Haut artete in ein heftiges Brennen aus, und er spürte, wie er ohnmächtig wurde.
Und kurz, bevor er die Besinnung verlor, nahm er noch wahr, wie ihn jemand am Arm packte.