Ein feuchter Lappen tupfte Ryans Stirn ab, dann trocknete eine sanfte Hand die Nässe mit einem Handtuch.
»Belle«, flüsterte er, ohne die Augen zu öffnen. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Ich glaube, ich bin krank geworden, als ich in dem Schlamm gelandet bin.«
Die Stimme, die ihm antwortete, gehörte nicht Belle. »Du bist vergiftet, nicht krank.«
Ryan zog seine Schilde hoch und wollte sich aufsetzen, knallte jedoch mit dem Kopf gegen Stein. Zum Glück fing der Schild den Großteil der Wucht ab. Als er zurückfiel, konnte er nichts sehen, nur die Sternchen, die in seiner Sicht explodierten.
»Unter meiner Obhut geschieht dir kein Leid«, versprach die Stimme. »Das würde meine Herrin nicht erlauben.«
Ryan beschwor eine winzige Kugel aus bläulich-weißem Licht herauf und erhellte seine Pflegerin – ein schlankes, elfenähnliches Wesen.
Sie lächelte. »Du bist wirklich ein Magier.«
Ryan sah sich um. Er lag in einer Nische in der Wand einer Kammer, nur von einem dünnen Laken bedeckt. Seine Kleidung fehlte. Der Raum enthielt nur einen einzigen Stuhl, auf dem die Elfin saß, einen Eimer mit Wasser und einige Handtücher. Dann fiel sein Blick auf seine rechte Hand. Drei der Finger waren geschient worden.
»Habt ihr keine Heiler?«, fragte er.
Die Elfin schüttelte den Kopf. »Diese Gabe besitzen Liliths Anhänger nicht. Warum? Hast du noch andere Beschwerden? Habe ich die Schlammdämonen nicht ausgetrieben?«
»Schlammdämonen?«
»Ja. Manche sind winzig, und du warst voll mit Schlamm, in dem es von ihnen gewimmelt hat. Ohne Behandlung können sie selbst den Stärksten schnell überwältigen.«
»Das erklärt, warum ich mich so krank gefühlt habe.« Ryan nickte der Elfin zu. »Danke. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
Die Elfin errötete und schüttelte den Kopf. »Dank mir nicht. Meine Herrin hat mir aufgetragen, dich zu suchen. Sie besitzt die Macht der Voraussicht und wusste, dass du kommen würdest.« Mit starrem Blick sah sie Ryan in die Augen, und ihm fiel auf, dass sich ihre Pupillen geweitet hatten. »Außerdem hat meine Herrin entschieden, bei mir wäre die Gefahr am geringsten, dass ich dich verderbe.«
Dazu lächelte sie, entblößte die Fänge eines Raubtiers und griff nach seiner unverletzten Hand.
»Mein Name ist Canarane«, fuhr sie fort. »Bist du mit jemandem gepaart? Verzeih meine Unverblümtheit, aber wir hatten seit Jahrhunderten keine Männer mehr unter uns.«
Ryan bemühte sich, gefasst zu bleiben. »Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Canarane. Und es tut mir leid, aber ich bin verheiratet.«
Die Elfin runzelte die Stirn und beugte sich näher. »Sie muss weit weg sein, wenn du hier unten bei mir bist.«
Ryan gelang es nur mit Müh und Not, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Tatsächlich sie ist auch in den Tunneln. Wir wurden getrennt. Kannst du mir vielleicht helfen, sie zu finden?«
Canarane stand auf. Ihre grünen Augen blitzten. Dann trat ein weiteres, diesmal unheimliches Lächeln in ihre Züge, und wieder erschienen diese Reißzähne. »Die Tunnel sind gefährlich. Bist du dir sicher, dass sie noch lebt?«
»Ich bin mir sicher«, log Ryan. »Kannst du mir auch Kleidung besorgen? Das wüsste ich sehr zu schätzen.«
»Die wirst du nicht brauchen. Es ist warm im Reich meiner Herrin in der Niederwelt.«
»Eigentlich doch. Und hast du zufällig einen langen Metallstab gesehen? Den darf ich nicht verlieren.«
Die Elfin huschte aus der Kammer und kehrte mit seiner Kleidung zurück, die sie fein säuberlich gefaltet neben ihn ablegte. »Meiner Herrin hat dein Stab gefallen. Du wirst mit ihr darüber reden müssen, ob du ihn zurückbekommen kannst.«
»Dann würde ich sie gern kennenlernen. Und vielleicht wärst du so freundlich, mir bei der Suche nach meiner Ehefrau zu helfen.«
Eine andere Elfin trat ein. Sie trug ein Tablett mit Essen. Aber als sie Ryan sah, erstarrte sie. Ihre Pupillen weiteten sich genau wie die von Canarane, die der anderen das Tablett aus den Fingern zerren und sie mit Nachdruck aus der Kammer schieben musste.
»Bitte iss und trink alles«, sagte Canarane, als sie selbst ging. »Es wird helfen, das Gift aus dir zu spülen. Ich bewache deine Kammer und halte unerwünschte Besucher fern. Wenn es Zeit für deine Audienz bei meiner Herrin ist, komme ich wieder.«
Sobald Canarane weg war, versuchte Ryan aufzustehen – und wurde prompt von einem Schwindelgefühl und Erschöpfung überwältigt. Rasch sank er zurück auf seine Liegestatt und betrachtete das Tablett, das Canarane zurückgelassen hatte. Es enthielt Brot, gedünstete Pilze und zwei Schalen mit dampfender Brühe. Er steckte sich einen Pilz in den Mund. Mild gewürzt und saftig, wie sich herausstellte.
Von draußen hörte er etwas, das sich wie das Fauchen einer Katze anhörte, aber er vermutete, dass es von einer der seltsamen Elfinnen ausging.
Ich darf ihnen nicht vertrauen.
Er betete, dass Arabelle ihn finden würde, denn ihn beschlich das Gefühl, diese Elfinnen würden ihm niemals helfen. Vielmehr vermutete er, sie würden sogar versuchen, Arabelle zu verletzen, wenn sie wüssten, wo sie sich aufhielt.
Wut stieg in ihm auf.
Ich muss hier weg. Ich muss sie finden.
* * *
Canarane rüttelte ihn wach. »Die Herrin sagt, es ist an der Zeit, dass du sie kennenlernst. Bitte beeil dich.«
Ryan fühlte sich unglaublich müde und benommen. Mit trägen Bewegungen zog er sich an.
Canarane zerrte mit einer Kraft an seinem Arm, die er ihr bei ihrer zierlichen Statur nicht zugetraut hätte. »Komm. Die Herrin wartet. Du solltest dich sputen.« Sie klang besorgt. »Bitte mach mit.«
Ryan stand auf und hielt Ausschau nach seinem Stab, bevor ihm einfiel, dass diese »Herrin« ihn hatte. Er streckte den Arm in Richtung der Tür aus und verbeugte sich leicht. »Na schön. Geh voraus, Canarane.«
Die Elfin packte ihn am Ellbogen, geleitete ihn aus der Kammer und durch ein Labyrinth von Tunneln. Sie kamen an mehreren anderen Elfinnen vorbei. Jede Einzelne bedachte Ryan mit demselben beunruhigenden, gierigen Blick, oft begleitet von einem breiten Lächeln, bei dem sich Fänge zeigten. Dann senkten sich ihre Blicke auf seine Brust, und ihre Begeisterung verflüchtigte sich.
Er blickte auf sein Gewand hinab. Auf der Vorderseite prangte ein goldgesticktes Bild, das sich vorher nicht dort befunden hatte. Es erinnerte an einen Baum,
»Was ist das für ein Symbol?«, fragte er.
»Es ist das Zeichen der Herrin. Sie beansprucht dich für sich selbst.«
Sie beansprucht mich?
Ryan Herz setzte einen Schlag aus. »Das verstehe ich nicht.«
»Oh, das wirst du noch.«
Ryan gefiel nicht, wie sich das anhörte.
Gesänge von irgendwo vor ihnen hallten durch den Gang. »Wir sind nah«, verkündete Canarane. »Das sind die Gebete der Auserwählten meiner Herrin. Sie beten um Zeit mit ihr.«
Ryan sprach in Gedanken ein eigenes kurzes Gebet.
Seder, bitte hilf mir durch diese Begegnung.
Plötzlich zischte Canarane und riss die Hand von seinem Ellbogen zurück. Blasen bildeten sich an ihren Fingerspitzen. Und Ryan spürte, wie sich eine wohlige Wärme durch seinen Körper ausbreitete. Hatte er das irgendwie gemacht? Oder wachte tatsächlich Seder über ihn? Und beschützte ihn?
Die Elfin hielt sich die verletzte Hand und deutete auf einen Bogen vor ihnen. »Dort ist die Kammer meiner Herrin.«
Als Ryan darauf zuging, verstärkte er seine Schilde, sowohl körperlich als auch mental.
Die »Kammer der Herrin« erwies sich als riesiger, zig Meter langer Raum mit einer mindestens 15 Meter hohen Decke. Die polierten Steinwände wirkten beinah wie Spiegel und reflektierten das violette Licht der über die Wände verteilten Fackeln. Und den Boden bedeckte eine federnde Schicht aus dichtem, schwach leuchtendem Moos. Am anderen Ende des Raums stand ein großer Stuhl – offenbar der Thron der Herrin. Und an der Wand dahinter glänzte ein riesiger Bogen aus schwarzem Metall. Damantit. Aber er führte nirgendwohin. Nur ein in eine Steinwand eingebauter Bogen.
Am auffälligsten waren jedoch die Dutzenden Männer, die betend in Richtung des vorderen Bereichs der Höhle auf den Knien kauerten.
Canarane trat neben Ryan, achtete aber sorgfältig darauf, ihn nicht zu berühren. Sie führte ihn durch die Mitte des Raums an den Männern vorbei zum verwaisten Thron.
»Bitte verärgere sie nicht«, warnte Canarane. »Sie ist allmächtig.«
Ryan führte seinen Schilden mehr Energie zu.
Ein Gong ertönte, eine Tür an der Seite der Kammer öffnete sich, und die Herrin trat ein.
Sie war eine Elfin wie die anderen – spitze Ohren, dunkles schwarzes Haar, zierlicher Körperbau –, aber etwas an ihr ließ erahnen, dass sie zugleich viel, viel mehr war. Vielleicht lag es an den Augen, die ein helles violettes Licht ausstrahlten. Als sie auf den Thron zuging, bemerkte Ryan ihren Hüftschwung. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Tänzerin und der Selbstsicherheit einer Kriegerin. Das Gesicht besaß perfekte Proportionen.
Plötzlich dämmerte Ryan, an wen sie ihn erinnerte.
Sie sieht wie eine dunkelhaarige Nicnevin aus!
Als die Herrin den Thron erreichte, drehte sie sich Canarane zu. »Warum hältst du ihn nicht fest, falls er sich nicht zu benehmen weiß?«
Canarane hob die Hand und zeigte ihre Blasen. »Herrin, das habe ich getan – bis das passiert ist.«
Die Herrin winkte Canarane weg und wandte sich schließlich Ryan zu. Ein Lächeln, bei dem sich keine Zähne zeigten, trat in ihr Gesicht, während sie ihn von Kopf bis Fuß musterte. Als sie näher trat, spürte er die Macht, die von ihr ausging, und seine Knie wurden wackelig.
Das ist keine gewöhnliche Elfin.
Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr. »Senk deine Schilde. Ich will dir nichts tun.«
Er spürte tatsächlich, wie seine Entschlossenheit schmolz. Vielleicht sollte er die Schilde aufgeben. Dann jedoch schaute die Herrin abrupt nach oben und trat einen Schritt zurück.
Ryan schüttelte seine Benommenheit ab und erkannte, wie kurz er davorstand, ihr ungehinderten Zugang zu seinen Gedanken zu gewähren.
»Bruder«, sagte die Herrin, den Blick immer noch nach oben gerichtet, »ich spiele doch nur ein bisschen mit deinem Verfechter.« Sie ließ ein schallendes Lachen vernehmen. »Kein Grund, gleich einzugreifen.«
Ryan folgte ihrem Blick und sah eine weiße Lichtkugel, die über und hinter ihm schwebte. Plötzlich ertönte in seinem Kopf eine widerhallende Stimme.
Dein Ziel liegt bei den Ta’ah, mein auserwählter Verfechter. Lass dich von Lilith nicht davon abbringen.
»Seder?«
Die Herrin setzte eine Schmollmiene auf. »Wie es scheint, bist du meinem Bruder lieb und teuer. Er verwehrt mir die Zeit zum Spielen.«
»Seder ist dein Bruder? «
Die Herrin fasste sich ans Kleid und knickste förmlich. »Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Lilith, und ja, Seder lässt sich am besten als mein Bruder beschreiben. Ein sehr langweiliger Bruder, trotzdem ein Bruder.«
Sie deutete auf die Kugel. »Du kannst jetzt gehen. Ich gelobe, für seine Sicherheit zu sorgen und ihm freies Geleit zu dem Schicksal zu gewähren, das du ach so schätzt.«
Die Kugel flackerte, und diesmal sprach die Stimme ohrenbetäubend laut.
»Meine liebste Lilith, du fehlst mir. Ich weiß, du bist nur ein Schatten deines früheren Selbst, aber ich kann deine Gedanken spüren. Bevor ich gehe, sollst du wissen, dass die Barriere fallen wird. Und der, von dem du getrennt bist, wird dich aufsuchen.«
Damit erlosch die Kugel und verschwand spurlos, als hätte es sie nie gegeben.
Einen Moment lang starrte Lilith auf die leere Stelle. Dann drehte sie sich mit Tränen in den Augen Ryan zu und lächelte.
»Komm mit. Ich muss dir etwas zeigen.«
Sie trat hinter ihren Thron zur rückwärtigen Wand der Kammer. Als Ryan ihr folgte, sah er, dass dort sein Stab lehnte. Lilith setzte sich im Schneidersitz daneben und bedeutete Ryan, ihrem Beispiel zu folgen.
Sie zeigte zu dem in die Wand eingelassenen Bogen. »Weißt du, was das ist?«
»Ein Bogen aus Damantit, der nirgendwohin führt?«
»Nein!« Lilith schüttelte den Kopf. »Er kann überallhin führen.«
Ryan betrachtete den Bogen. Über die Länge verteilt befanden sich Löcher. Nein, keine Löcher – Fassungen. Ihm dämmerte etwas.
»Es ist ein energieloses Portal«, sagte er.
Lilith klatschte in die Hände. »Genau!«
»Aber wohin willst du?«, fragte Ryan. »Ich bin sicher, wenn du mit den Ta’ah zusammenarbeitest, helfen sie dir und deinem Volk.«
Seufzend schüttelte Lilith den Kopf. »Ich fürchte, beim Umgang mit anderen Völkern in dieser Welt habe ich mich schon mehrfach verschätzt. Mein Volk wird gemieden. Tatsächlich sind sie einigen ihrer früheren Angehörigen als Avud bekannt.«
»Avud?«
»Das Wort bedeutet ›verloren‹. Pah! Mein Volk sollte eher als die Gefundenen bekannt sein. Alle hier haben bei mir ihre Bestimmung gefunden.«
Ryan spürte, wie ihm Galle in die Kehle stieg, als er einen Blick auf die geistlosen Männer warf, die auf der anderen Seite der Kammer knieten und der Aufmerksamkeit der Herrin harrten.
»Vielleicht würden du und deine Handlangerinnen nicht so gemieden, wenn ihr den Männern freien Willen zugestündet.«
Lilith zuckte mit den Schultern. »Das wäre wohl möglich. Aber ich fürchte, wenn man Männern Freiheit gibt, werden sie mehr wie Sammael. Mein anderer Bruder. Das kann ich nicht zulassen.«
Ryans Gedanken überschlugen sich. Sowohl Seder als auch Sammael sind ihre Brüder? Und endlich dämmerte ihm die volle Wahrheit: Er sprach mit der Inkarnation einer Gottheit.
»Dir ist klar, dass ich auch ein Mann bin?«, fragte Ryan. »Ich bin völlig frei, und die meisten halten mich für ehrenwert und am Wohlergehen anderer interessiert. Willst du meine Meinung hören?«
Lilith nickte. »Bitte.«
Er beugte sich zu ihr. »Du musst den Sterblichen um dich herum erlauben, sie selbst zu sein. Wer Bestrafung verdient, den kannst du ruhig bestrafen. Aber du darfst ihnen nicht den freien Willen nehmen. Damit säst du tiefreichende Feindseligkeit.«
Lilith quittierte seine Äußerungen mit einem gleichgültigen Nicken. Dann warf sie einen Blick auf seinen Stab, und er flog zu ihr. Mit einem lauten Klatschen landete er in ihrer Hand.
»Dieser Stab ist mit Energie durchwirkt, die ich interessant finde«, sagte sie. »Hast du das getan, oder war es ein natürliches Ereignis?«
»Ich habe ihn selbst aufgeladen.«
Sie riss die Abdeckung weg und legte den leuchtenden Diamanten frei. »Und das? Dieser leuchtende Kristall wurde mit einer gewaltigen Menge Energie gefüllt. Auch von dir?«
Unter ihrem sehnsüchtigen Blick zog sich Ryan alles zusammen. »Ja, ich habe auch den Diamanten aufgeladen. Aber die meisten Magier können das nicht. Damit scheine ich derzeit einzigartig zu sein.«
In Liliths Augen trat ein abwesender Ausdruck. »Nein. Es gibt noch einen.« Sie deckte den Diamanten wieder ab und reichte Ryan den Stab. »Sie behauptest, ehrenwert und am Wohlergehen anderer interessiert zu sein. Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
Ryan legte die Stirn in Falten. »Um welchen?«
Lilith stand auf. Mit einer schlichten Handbewegung wuchs sie innerhalb eines Wimpernschlags von etwa zwei Meter auf perfekt proportionierte vier Meter an. Sie fuhr mit der Hand an der Oberseite des Bogens entlang.
»Kannst du das hier für mein Volk mit Energie auffüllen? Es muss auf den Fall der Barriere vorbereitet werden. Wir werden diese Schöpfung brauchen. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, darauf zu warten, dass uns ein anderer hilft, der so ist wie du.«
»Was hast du mit dem Bogen vor, wenn er mit Energie versorgt ist?«, fragte Ryan.
Lilith runzelte die Stirn, als würde sie die Worte sorgfältig abwägen. »Mein Volk verdient einen Neubeginn. Ich höre die Worte meiner Anhänger in anderen Welten, und zu ihnen will ich mein Volk bringen.«
Ryan betrachtete die Gesamtgröße des Bogens und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das ist wesentlich mehr, als ich bewältigen kann. Diesen Bogen aufzuladen, wäre so ... als würde ich Hunderte Male meinen Stab aufladen. Das könnte ich unmöglich rechtzeitig vor dem Fall der Barriere schaffen.« Er zeigte auf seinen Stab. »Allein für diese Länge Damantit brauche ich zehnmal die gesamte Energie, die ich in mir habe. Ich muss ihn aufladen, meine Energiereserven auffüllen, ihn erneut aufladen und so weiter. Und wie gesagt, das nur für dieses kleine Stück Damantit.«
»Energie?«, fragte Lilith. »Ist das alles, was du brauchst? Und wenn ich dir Energie bereitstelle? Kannst du sie dann in den Bogen meines Volks übertragen?«
Ryan dachte darüber nach. Wenn sie geladene Diamanten hat, auf die ich zurückgreifen kann, sollte es vielleicht möglich sein.
Er nickte. »Wenn du mir genug Energie geben kannst, um es schnell zu erledigen, will ich versuchen zu helfen.«
Lilith nickte, und mehrere Gongs erklangen außerhalb der Kammer. Einige Elfinnen kamen herein, dann einige weitere, und innerhalb weniger Augenblicke bewegte sich ein durchgehender Strom von Liliths Handlangerinnen in die Kammer.
Lilith deutete auf sie alle. »Hier ist die Energie, die du verlangst.«
* * *
Ryan sandte unsichtbare Ranken aus Energie zu dem Bogen und brachte das dichte Metall zum Leuchten. Lilith saß im Schneidersitz darunter und beobachtete jede seiner Bewegungen.
Als sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und er spürte, wie seine Energie schwand, nickte er ihr zu. Sie winkte die ersten ihrer Ergebenen herbei. Die Elfin trat vor und beugte sich ihm entgegen, ohne ihn zu berühren. Ryan spürte, wie sich Energie in Wellen in ihn ergoss. Der aus ihm fließende Strom geriet ins Stocken, als er unerwartete Euphorie verspürte.
Dann stöhnte die Elfin und fiel zu Ryans Füßen in Ohnmacht.
Lilith schwenkte einen Finger, und der Körper der Gefallenen schwebte durch den Raum zu den anderen, die ihre bewusstlose Gefährtin wegtrugen. Ryan starrte ihr mit offenem Mund hinterher.
Liliths Lachen hallte durch die Kammer. »Also bist du besorgt um sie! Das musst du nicht sein. Sie hat sich nur verausgabt. Ihr ist nichts geschehen.«
Sie bedeutete ihm, fortzufahren.
Ryan zapfte seine aufgefrischten Reserven an und übertrug mehr Energie in den Bogen. Überrascht stellte er fest, dass er auf den ersten drei Metern des Damantit-Bogens bereits ein zartes Glühen erkennen konnte.
Lilith beobachtete ihn weiter. Beim ersten Anzeichen, dass es für Ryan schwieriger wurde, winkte sie die nächste ihrer Ergebenen herbei. Wieder beugte sich ihm die Elfin zu und ergoss alles, was sie an persönlicher Energie besaß, in ihn, bevor sie zusammenbrach.
Lilith ließ sie mit ihren Kräften davonschweben, und die nächste Elfin hielt sich bereit, damit Ryan seinen unablässigen Energiestrom aufrechterhalten konnte.
Das wird ein sehr langer Tag.
* * *
Letztlich brach Ryan selbst auf dem Boden zusammen. So verausgabt hatte er sich noch nie zuvor. Trotzdem gelang es ihm, seine Schilde zu stärken, als er zu Lilith aufschaute, die aufgeregt umherhopste.
Ihr Blick wirkte verzückt, als sie sich unter dem Bogen tanzend im Kreis drehte. Das Metall leuchtete vor der schier unvorstellbaren Energie, die Ryan hineingeleitet hatte – mit der Hilfe ihrer Hunderten Anhängerinnen. Viele waren zurückgekehrt, um sich die Früchte seiner Arbeit anzusehen; sie wirkten abgehärmt und erschöpft von ihrer Energiespende, aber Lilith hatte die Wahrheit gesagt: Alle erwiesen sich als unversehrt.
An der Stelle ereilte Ryan eine Erkenntnis. Diese Frauen sind alle Zauberinnen. Hunderte!
Lilith tänzelte zu Ryan herüber und ging vor ihm in die Hocke. »Bist du sicher, dass du nicht bei uns bleiben kannst? Ich weiß, wonach sich die Herzen von Männern sehnen, und ich versichere dir, wir könnten dich glücklich machen.«
Ryan deutete mit dem Kopf in Richtung der geistlosen Männer, die ihre Gebete an Lilith sangen. »So?«
Lilith schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.« Sie zeigte von einem Ende des Bogens zum anderen. »Ich hätte nicht geglaubt, dass je ein Mann freiwillig dem Wohl der Allgemeinheit dienen würde. Aber du hast bewiesen, dass es möglich ist.« Sie schloss die Augen. Plötzlich verstummte das Dröhnen der leiernden Gesänge. »Ich habe es getan.«
Ryan schaute in den hinteren Bereich der riesigen Kammer. Die geistlosen Männer, die zuvor gekniet hatten, richteten sich auf und blinzelten, als wären sie gerade aus einem Traum erwacht. Liliths Handlangerinnen eilten hin und halfen ihnen auf die Beine.
»Was hast du getan?«, fragte Ryan.
Lilith konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich habe allen ihr Schicksal zurückgegeben. Sie sind frei.«
Als sich die Kammern nach und nach leerten, beugte sich Lilith vor und wiederholte ihre Frage. »Und ... bleibst du nun bei uns?«
»Ich kann nicht. Mein Schicksal liegt woanders. Und selbst, wenn es nicht so wäre, ich bin schon verheiratet.«
Lilith schloss die Augen, und zum ersten Mal erkannte Ryan die Fäden der Magie, die von ihr ausgingen. Eine lange Weile verging. Ryan wartete unbehaglich in der stillen Gegenwart des übernatürlichen Wesens. Schließlich ergriff er das Wort.
»Wenn die Barriere fällt, werden bestimmt reichlich andere an Umgang mit deinem Volk interessiert sein, davon bin ich fest überzeugt. Vorausgesetzt, du versklavst die Männer nicht wieder. Ich kann sogar dabei helfen, euch vorzustellen, wenn du willst.«
Lilith schlug die Augen auf und schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
»Das weiß ich zwar zu schätzen, aber es wird nicht nötig sein. Ryan Riverton, wir werden uns in dieser Welt nicht wiedersehen. Wie dem auch sein mag, ich werde deine Freundlichkeit mit einer Freundlichkeit meinerseits vergelten.«
Sie schnippte mit den Fingern, und ein Pergament erschien in ihrer Hand. Sie reichte es ihm.
Es handelte sich um eine genaue Karte der Tunnel.
»Jemand von Seders Günstlingen schwebt in Gefahr«, sagte sie. »Ich habe auf der Karte gekennzeichnet, wo sie sich aufhält. Sie will zu dir, aber ich fürchte, Seders Waffe stehen Schwierigkeiten bevor.«
Seders Waffe. Arabelle!
»Das X auf der Karte zeigt, wo wir uns gerade befinden«, fuhr Lilith fort. »Und das Zeichen des Dolchs ist Seders Waffe. Die Waffe braucht ihren Verfechter. Geh jetzt, sonst versuche ich erneut, dich zu überreden, bei meinem Volk zu bleiben.«
Ryan raste aus der Kammer in die verwinkelten Tunnel der Niederwelt.