Die Barriere fällt

In den Tagen nach der aufsehenerregenden Erscheinung mit Seders Botschaft schwoll die Bevölkerung um Burg Riverton herum sprunghaft an. Aaron stand auf einem der Balkone der Festung und blickte auf eine riesige Armee von Zwergen hinab, die sich auf dem Innenhof versammelt hatte. Die polternden kleinen Soldaten gaben eine hervorragende Ergänzung der Armeen ab. Hinter ihnen befand sich ein genauso großes Kontingent von Elfen. Den größten Teil der Truppen von allen stellten die Menschen.

Odas Stimme drang zu ihm hoch. »Tretet zurück! Ihr seid Steinfausts, keine Steinhirns. Habt ihr nicht gehört, was Fürst Riverton gesagt hat? Räumt den Hof!«

Castien schüttelte an Aarons Seite den Kopf. »Ich bin froh, dass du ihn zum General ernannt hast. Eine ausgezeichnete Wahl. Sieh dir nur an, wie er das Kommando führt über – wie viele sind es? Fast 5.000 Soldaten? Ich hätte nicht gedacht, dass in den Bergen noch so viele Zwerge leben.«

»Das war deine Idee«, gab Aaron zu bedenken.

»Ich kann ja auch meine eigene Idee mögen.«

Aaron lächelte den Schwertmeister der Elfen an. »War das gerade Humor? Bei einem Elfen? Dann musst du gute Laune haben.«

»Oh, wenn stimmt, was ich gehört habe, hast du einen sehr glücklichen Elfen neben dir. Ich könnte sogar lächeln.«

In der Mitte des Hofs flirrte die Luft vor unsichtbarer Energie. Der Lärm der Massen verstummte, und die Leute drängten sich aus dem Weg. Dann erschein mit einem dumpfen Knall ein Portal, aus dem Ryan und Arabelle kamen. Ryan umhüllte ein pulsierendes, weißes Leuchten, das er zuvor nie ausgestrahlt hatte.

»Wow. Er ... leuchtet ja wirklich«, sagte Aaron. »Was hat das zu bedeuten?«

»Wirf einen Blick auf seinen Beutel«, sagte Castien. »Man sieht das Leuchten sogar durch das Leder.«

Als Nächstes folgten mehrere weißbärtige Zwerge in strahlend weißen Gewändern durch das Portal. Und dann, unmittelbar hinter ihnen, folgte eine ganze Kolonne von Zwergen, die paarweise aus dem Portal schritten. Weit mehr als nur ein Clan. Und nach den Zwergen folgten Wagen mit Vorräten. Dutzende. Es dauerte fast 30 Minuten, bis der gesamte Tross von Zwergen und Wagen hindurch war.

Das ist ja eine Massenwanderung , dachte Aaron.

Aarons Vater trat vor, hob die Hand und jagte Tausende Funken hoch in die Luft, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen.

»Ich möchte das Volk der Ta’ah offiziell in Burg Riverton willkommen heißen«, rief er laut. Er zeigte auf Throll. »Gestattet mir, euch allen Throll Lancaster vorzustellen, König von Trimoria.«

Throll trat vor, und alle Ta’ah verneigten sich.

Throll erwiderte die Geste. »Volk der Ta’ah, ich wünschte, wir würden uns in erfreulicheren Zeiten kennenlernen, aber ich heiße euch in meinem Land willkommen.« Er hielt ein eingerolltes Pergament hoch. »Wie von eurem Botschafter gewünscht habe ich zugestimmt, eine Zeile einzufügen, durch die das Volk der Ta’ah zum gleichberechtigten Mitglied meines Regierungsrats wird.«

Einer der weißhaarigen Zwerge trat vor und nahm das Pergament vom König entgegen. Er rollte es auf und setzte sein Zeichen darunter.

Throll streckte daraufhin das Schwert gen Himmel. »Ich werde mich an diesen Vertrag halten und ihn als geschriebenes Gesetz durchsetzen, auf dass sich alle, die mir verpflichtet sind, daran halten.«

Auch Castien zog das Schwert. Seine Stimme dröhnte vom Balkon. »Als Vertreter des Volks der Elfen gelobe auch ich, den Vertrag zu ehren. Willkommen, Volk der Ta’ah. Mögen wir eines Tages auf den friedlichen Wiesen von Eluanethra zusammen das Brot brechen.«

Arabelle meldete sich aus den vorderen Rängen der Menge zu Wort und hielt ihren leuchtenden Dolch hoch. »Als Vertreterin der Imazighen verspreche ich, dass die Ta’ah in unseren Zelten immer willkommen sein werden und wir uns an die Bedingungen dieses Vertrags halten.«

Ein rotbärtiger Zwerg löste sich aus der Menge am Rande des Hofs, trat auf den weißhaarigen Zwerg zu und starrte ihn einige Herzschläge lang an, bevor sie sich innig umarmten und Küsse auf beide Wangen austauschten. Schließlich trat der jüngere Zwerg zurück und erhob die Stimme, auf dass alle Umstehenden ihn hören konnten. »Ich, Silas Rotbart, heiße unsere schmerzlich vermissten Vettern von ihrer Wanderschaft herzlich willkommen zurück.« Silas ließ den Blick über das Meer der weißgewandeten Ta’ah schweifen und sagte: »Vettern, wir sind viel zu lange getrennt gewesen. Ihr sollt wissen, dass euch Clans der Eisenberge in unseren Herzen und Heimen willkommen heißen. Und natürlich halten auch wir uns an die Bedingungen des Vertrags.«

Der weißhaarige Zwerg, der unterschrieben hatte, hob die rechte Hand. »Wir fühlen uns beschämt von eurem herzlichen Empfang. Ich danke euch allen.«

Der Zwerg verbeugte sich erneut vor Throll, ohne die Hand zu senken. »Ich weiß, dass dunkle Tage bevorstehen, und mein Volk steht geschlossen hinter unserem Unterfangen. Wir werden unsere Fähigkeiten nach bestem Wissen und Gewissen einsetzen und bis zum Letzten von uns kämpfen, um die Dämonen aus Trimoria zu vertreiben.« Aus der erhobenen Hand ließ der Zwerg eine schillernde Energiekugel himmelwärts schnellen und hoch über den Versammelten explodieren.

»Er ist ein Zauberer«, entfuhr es Aaron. »Stell sich das einer vor!«

Die Ta’ah brüllten wie aus einer Kehle: »Tod den Dämonen!«

Dann schossen Hunderte knisternde Energiebälle von Hunderten Ta’ah in die Höhe und zerbarsten mit einem Chor ohrenbetäubender Geräusche am Himmel.

Aaron spürte, wie sein Mund aufklappte. Sie sind alle Zauberer.

»Gut«, befand Castien. »Wir haben immer gesagt, dass wir nicht genug Kampfzauberer zur Unterstützung der Armee haben.« Er lächelte breit. »Problem gelöst.«

* * *

Ryan fand Wat in der Bibliothek der Burg, umgeben von Büchern und Pergamenten. »Wat ...«, begann er und legte dem Zwerg tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich hab gehört, was in Eluanethra passiert ist. Es tut mir leid.«

»Wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich lieber nicht darüber reden.«

»Ich verstehe. Aber würdest du bitte mitkommen? Da ist jemand, den du kennenlernen solltest.«

Wat seufzte. »Lieber nicht. Ich muss meine Nachforschungen beenden, bevor wir keine Zeit mehr dafür haben.«

Ryan nahm Wat das Buch aus der Hand. »Tu so, als hätte es dir der König befohlen. Denn wenn es notwendig ist, sorge ich dafür, dass er es wirklich tut.«

Wat brummte und seufzte erneut, erhob sich aber widerwillig.

Wenig später betraten die beiden den Speisesaal, in dem sich viele der Ta’ah zu einer Mahlzeit versammelt hatten.

»Ryan, du weißt, dass ich kein Freund von Geselligkeit bin«, flüsterte Wat. »Und die Zwerge mögen keine Clanlosen.«

»Komm einfach mit.«

Ryan steuerte geradewegs auf den Anführer der Ta’ah zu. »Ältester Feuerwirker«, sagte er. »Ich würde dir gern einen Freund von mir vorstellen. Sein Name ist Wat.«

Der Älteste schob das Essen beiseite, musterte Wat ... und atmete scharf ein. »Was für eine List ist das?«, fragte er unwirsch.

Ryan wandte sich an Wat. »Sag dem Ältesten deinen Clannamen.«

Wat schaute verlegen auf seine Füße, holte tief Luft und hob schließlich das Kinn. »Irrbart.«

Ryan runzelte die Stirn. »Wat, sag dem Ältesten deinen richtigen Clannamen.«

Mit hochrotem Gesicht schlug Wat wieder die Augen nieder. »Ich habe keinen Clan. Ich bin ein Waisenkind.«

Der Ältere stand auf und bedachte Ryan mit einem finsteren Blick. »Ich hätte von dir Besseres als solchen Unsinn erwartet. Welche Flausen du diesem jungen Mann auch in den Kopf gesetzt hast, ich werde es herausfinden.« Er legte Wat die Hände auf die Schultern, schloss die Augen ... und trat abrupt mit zitternden Händen zurück.

Er sah Ryan an. »Warum ist das Gedächtnis dieses Zwergs blockiert?«

»Blockiert?«, fragte Wat. »Mein Gedächtnis ist nicht blockiert. Ich erinnere mich an alles.«

Feuerwirker runzelte die Stirn. »Warum weißt du dann nichts aus der Zeit vor deinem zehnten Lebensjahr?«

Wat zuckte mit den Schultern. »Ist nicht ungewöhnlich, dass man nichts mehr aus der frühen Kindheit weiß.«

Ryan schüttelte den Kopf. »Vielleicht aus der richtig frühen Kindheit, bevor man zwei oder drei Jahre alt wird. Aber ich erinnere mich an vieles aus der Zeit, als ich jünger als zehn war.«

Der Älteste brüllte quer durch den Speisesaal. »Frau Schimmerstein!«

Eine mütterlich wirkende Zwergin stand auf und eilte herbei.

»Frau Schimmerstein, jemand hat das Gedächtnis dieses jungen Zwergs mit einem Bann belegt. Wir wissen nicht, warum. Kannst du nachsehen, ob du dagegen etwas unternehmen kannst?«

»Gewiss, Ältester Feuerwirker.«

Frau Schimmerstein legte die Hände an Wats Schläfen und umschloss seinen Kopf mit Bändern aus Energie. Während Ryan zusah, löste sie vorsichtig einen Faden aus einem Knoten, den Ryan nicht mal entdeckt hatte. Ein mühsames Unterfangen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bevor sie den Knoten vollständig entwirrt hatte.

Und als sich der letzte Faden löste, schnappte Wat abrupt nach Luft.

Als er sich dem Ältesten Feuerwirker zudrehte, liefen ihm Tränen über die Wangen. »Saba?«

Der greise Zwerg breitete die Arme aus, und Wat warf sich ihm entgegen. Frau Schimmerstein tupfte sich Tränen von den Augen.

»Saba?«, wandte sich Ryan an die Zwergin.

Sie lächelte. »Das bedeutet Großvater.«

* * *

Ryan lag mit Arabelles Kopf auf der Brust im Bett.

»Ich freue mich so für Wat«, sagte sie. »Aber warum war sein Gedächtnis blockiert?«

»Wie sich herausgestellt hat, waren Wat und sein Vater die ersten Gesandten der Ta’ah«, erklärte Ryan. »Azazels Handlanger waren ihnen schon kurz nach ihrer Ankunft auf dieser Seite der Barriere auf den Fersen. Offensichtlich wusste Azazel nur von Wats Vater. Aber Wat hat sich geweigert, seinen Vater allein gegen Azazel antreten zu lassen. Um seinen Sohn zu schützen, hat Wats Vater das Gedächtnis seines Sohnes blockiert. Und nicht nur das, er hat auch viele von Wats verborgenen Fähigkeiten unterbunden. Deshalb war Wats erste Erinnerung die an ein Waisenkind in Cammoria.«

Arabelle runzelte die Stirn. »Die Geschichte ist der von Grisham sehr ähnlich. Obwohl Grisham immer gewusst hat, wer er war.«

Ryan nickte.

»Hast du gewusst, dass Ohaobbok diese Frau in die Burg mitgebracht hat?«, fragte Arabelle.

»Du meinst Nyra? Ja, weiß ich.«

»Irgendwie traue ich ihr nicht.«

Ryan seufzte. »Ohaobbok passt auf sie auf, außerdem werden wir alle Tag und Nacht bewacht.«

»Sie ist Kirags Schwester, Ryan. Haben wir nicht gerade darüber gesprochen, wie unerfreulich Azazels Lakaien waren? Kirag hätte mich beinah umgebracht, und seine Meuchler haben versucht, deine Familie umzubringen, als ihr eingetroffen seid. Wie kann ich jemals jemandem vertrauen, der seine Schwester ist?«

»Was soll ich denn machen? Ohaobbok verbieten, sie zu sehen? Sie hat nichts Unrechtes getan.«

»Versprich mir nur, dass du sie nicht mitkommen lässt, wenn Ohaobbok und du in die Niederwelt und die Abgründe aufbrecht.«

Ryan schloss die Augen. »Belle ...«

»Ich mein’s ernst. Ich traue dieser Frau nicht.«

»Schon gut. Ich hatte sowieso nicht die Absicht, irgendjemanden mitkommen zu lassen. Können wir jetzt bitte ein bisschen schlafen?«

Arabelle küsste ihn zart auf die Wange. »Danke.«

* * *

Der Zwerg, der vor der Höhle des ersten Protektors Wache hielt, hörte ein Knistern von drinnen. Sofort schnappte er sich seinen Speer und eilte hinein, um nach dem Rechten zu sehen.

Eine grauhaarige Frau stand neben dem Podest des ersten Protektors.

»Wie im Namen von allem, was heilig ist, bist du hier reingekommen, ohne dass ich dich gesehen habe?«

Die Frau schenkte ihm ein zahnloses Lächeln und lachte gackernd. »Es ist so weit, mein junger Zwerg. Und jetzt still, ich muss mich konzentrieren.«

Mit einer Handbewegung ließ sie den Zwerg zurücktaumeln. Der Speer fiel ihm aus tauben Fingern. Er war wie erstarrt, konnte keinen Muskel rühren.

Die greise Frau schwenkte die Hand über den schimmernden Kokon, der den ersten Protektor umgab.

Er flackerte ... und verschwand.

Der Körper des ersten Protektors zuckte – dann schnappte er nach Luft. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten atmete er tief ein.

»Erheb dich, mein wackerer Recke«, sagte die Frau. »Es ist so weit.«

Die uralte Legende setzte sich stöhnend auf. Er hob die Hand an den Kopf und zuckte zusammen. »Seder, ich ertrage es nicht länger.«

Die Frau legte die knorrigen Hände auf die Schultern des ersten Protektors, und ein weißes Leuchten breitete sich über seinen Körper aus.

Ein Ausdruck der Erleichterung trat in sein schimmerndes Gesicht. »Danke. Aber ... ich habe schon alles getan, was ich ...«

Die Greisin senkte den Kopf, bis sich ihre Stirnen berührten. »Du hast alles getan, was man von dir verlangen konnte. Der Rest liegt bei anderen ...«

Dann verschwanden innerhalb eines Wimpernschlags die Frau, der erste Protektor und sogar das Podest. Die Kraft, die den Zwerg gelähmt hatte, gab ihn frei, und er fiel auf die Knie.

Ein gewaltiges Rumoren erschütterte den Boden unter ihm, als würde Donner durch das Gestein grollen. Der Zwerg hastete hinaus, um die anderen zu warnen – und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm im Süden bot.

Die Barriere aus Nebel war verschwunden. Die letzten Reste lösten sich gerade im Wind auf.

* * *

Während Ryan mit Wat, dessen Mutter und Großvater im Speisesaal saß, konnte er nur an eins denken:

Wat hat eine Familie.

»Ich habe mich immer gefragt, warum Wat für einen Zwerg so ungewöhnliche magische Fähigkeiten besitzt«, sagte Ryan. »Er ist nicht nur der einzige zwergische Kampfzauberer, den wir haben, sondern auch einer der mächtigsten aller unserer Kampfzauberer.«

Wat errötete. Seine Mutter tätschelte seine Wange. »Unser Clan ist ziemlich gut mit Angriffsmagie«, sagte sie.

»Vielleicht hätte etwas in der Art ahnen müssen«, meinte Ryan. »Wat hat immer so anders geredet als die übrigen Zwerge. Aber ich dachte, das käme daher, dass er in einem menschlichen Waisenhaus aufgewachsen ist.«

»Pah«, sagte Wats Mutter. »Er ist nicht in einem Waisenhaus aufgewachsen, sondern hier bei uns, wo er gelernt hat, richtig zu sprechen. Nicht wie einige der Gebirgszwerge, die ich gehört habe.«

Wat wirkte unbehaglich. »Mutter, sie sind nett, auch wenn sie dachten, ich hätte keinen Clan.«

»Jetzt hast du ja einen«, sagte Ryan. »Und einen wahrhaft beeindruckenden. Kaum zu glauben, dass mein Freund, der vermeintliche Waisenjunge, jetzt Mitglied eines angesehenen Clans, Kampfzauberer und Drachenreiter ist.«

Wat schaute auf. »Drachenreiter?«

Ryan zog eine Holzkassette aus der Tasche. »Oh, hab ich das nicht erwähnt? Vielleicht möchte dir deine Mutter oder dein Großvater die Ehre erweisen.« Er öffnete die Kassette. Sie enthielt eine Anstecknadel, die den Rang eines Drachenreiters anzeigte.

Wats Mutter nahm die Nadel heraus und befestigte sie am Kragen ihres Sohns. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Dein Vater wäre so stolz.«

Der Älteste Feuerwirker nickte. »Das war er immer. Genau wie ich.«

In dem Moment erschütterte ein gewaltiges Grollen die Burg. Ryan und Wat sprangen auf und rannten zum Aussichtsbalkon an der Südseite der Burg. Ryans Vater und Arabelle trafen fast gleichzeitig ein.

Während sie alle auf den unglaublichen Anblick im Süden starrten, sagte Arabelle: »Es ist letztlich passiert.«

Ryan nickte stumm.

Dad tippte eine Nachricht auf dem Ring, der alle Offiziere Trimorias miteinander verband, und Ryan spürte, wie sie auf seinem ankam.

Fürst Riverton. Die Barriere ist nicht mehr da. Es ist an der Zeit.

Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich hab versprochen, du würdest deine Mutter und deine Schwester umarmen, bevor du gehst.«

Ryan nickte. »Wird gemacht.«

Unverhofft zog ihn sein Vater in seine Arme und drückte ihn sich an die Brust. »Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was dir bevorsteht. Denk einfach an deine Ausbildung und geh keine unnötigen Risiken ein. Ich liebe dich, mein Junge.«

Als sein Vater ihn losließ und sich die Augen rieb, spürte Ryan, wie weitere Nachrichten auf seinem Ring eintrafen. Castien schickte Befehle, um die Truppen zu formieren.

Ryan schlang liebevoll die Arme um Arabelle. Sie erwiderte die Umarmung innig. »Ich kann es fühlen, Belle. Es ist so weit. Zeit, mich meinem Schicksal zu stellen.«

* * *

Anarane stieg die Treppe in die Dunkelheit ihres Lagerraums hinunter und beschwor einen Lichtball herauf, der die Finsternis aus allen Winkeln der staubigen Kammer vertrieb. Sie schwenkte die Hand über die Truhe aus Damantit und löste mit einer Energieranke den inneren Verschlussmechanismus.

Die Truhe sprang auf und offenbarte ihren Schatz aus blau-weiß pulsierenden Diamanten. Anarane fügte der Sammlung einen weiteren hinzu und kniete sich zu einem stummen Gebet hin.

Als sie den Geist leerte, spürte sie, wie ein Beben durch das Gestein unter ihr ging. Sie wirbelte herum. Energie knisterte an ihren Fingerspitzen, als sie nach einem Eindringling Ausschau hielt. Aber der Moment verging, und die Vibrationen ließen nach.

Anarane entspannte sich. Sie hatte gerade die Hand auf den Deckel der Truhe gelegt, um sie zu schließen, als eine Stimme, die sie seit über 500 Jahren nicht mehr gehört hatte, in ihrem Kopf ertönte.

»Es ist so weit.«

»Herrin? Bist du es wirklich?«

»Ja, und ich habe deine Gesellschaft aufrichtig vermisst. Ich hoffe, du hast die Aufgaben erfüllt, die ich dir gestellt habe.«

Anarane lachte. »Oh ja, Herrin. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich Euch das Ergebnis meiner harten Arbeit zeigen kann.«

»Dieser Tag ist heute. Die Barriere ist nicht mehr. Komm zu mir, Erste unter meinen Jüngern. Wir haben viel zu tun.«

Damit brach die Verbindung ab.

Anarane sandte eine stumme Nachricht an ihre Vollstrecker, dann zog sie einen Vorhang zur Seite. Unmittelbar hinter der Truhe kam ein Bogen aus Damantit zum Vorschein. Sie küsste ihre Finger, berührte den Bogen und lächelte.

»Ich bin bald zurück. Es ist so weit.«

Dann stieg sie die Treppe hinauf und ging in den vorderen Bereich des Tempels. Fast 100 Oger hatten sich bereits davor versammelt. Alle unterstanden ihrer Kontrolle. Sie wartete noch eine Weile, während mehr und mehr der klobigen Kreaturen außer Atem in der Höhle eintrafen. Erst, als kaum noch Nachzügler ankamen, hob sie die Hand und ergriff das Wort.

»Ich habe euch hergerufen, um euch mitzuteilen, dass ich noch eine letzte Aufgabe für euch habe. Danach steht es euch frei, euren eigenen Wünschen nachzugehen. Es ist an der Zeit, Vergeltung für die Ungerechtigkeiten zu üben, die man uns angetan hat. Ich will, dass ihr jetzt loszieht und Rache walten lasst. Tut es für mich.«

Sie übermittelte ihnen Bilder ihrer Beute in die Köpfe und erteilte einen letzten Befehl: »Los!«

Die Oger hasteten zum Ausgang und drängen sich darum, die Wünsche ihrer Herrin zu erfüllen.

Anarane pfiff eine beschwingte Weise vor sich hin, als sie in den Lagerraum zurückkehrte, um ihre nächsten Schritte zu planen.

* * *

»Wie meinst du das, sie sind weg?«, brüllte Sammael. »Wo sind sie hin?«

Malphas kniete vor seinem Herrn. »Herr, unsere Kundschafter haben das gesamte Gebiet der Ta’ah durchstreift und keinen einzigen von ihnen gefunden. Ich habe mich persönlich an der Suche beteiligt.«

Die Temperatur stieg siedend an, als Sammael knurrte. Seine Schuppen glühten rot vor Wut. Malphas litt schweigend vor sich hin, während geringere Dämonen die Flucht ergriffen. Die zu Langsamen explodierten zu schmierigen Sprühnebeln aus Rauch und zischenden Fleischbrocken.

»Noch vor wenigen Tagen waren sie da und haben mir die Kontrolle über den Titanen des Gesteins entrissen«, sagte Sammael. »Sie können nicht einfach verschwunden sein.«

»Herr, da ist noch etwas. Ich habe eine Kammer gefunden, die vorsätzlich zum Einsturz gebracht wurde. Ich konnte in den Trümmern Sprengstoff riechen. Das wurde erst kürzlich getan.«

Sammaels Farbe wechselte von Rot zu Schwarz, und die Temperatur sank. Malphas spürte, wie der Boden unter ihm rumorte. Der Dämonenfürst hob die Hand, verlangte Ruhe.

Nach einer langen Weile lachte Sammael. »Es ist so weit, Malphas. Versammle die Armeen. Wir rücken unverzüglich aus.«