Es ist so weit

»Man darf nicht so tun, als gäbe es das Böse nicht, denn genau das will das Böse. Man muss es suchen. Es stellen. Es vernichten. Denn beachtet man es nicht, schwärt es und wird stärker.«

– Altes Sprichwort der Elfen

Im Süden stieg Staub auf, und Aaron wusste, dass die Zeit gekommen war. Erst vor einer Stunde war die Welt erschüttert worden, als die Barriere fiel, und schon ritt er in voller Kampfrüstung durch seine Tausenden Soldaten, um das geordnete Chaos der Vorbereitungen zu überwachen. Ihn freute zu sehen, dass die Ta’ah nicht nur ihre Kampfzauberer wie gewünscht über die gesamte Armee verteilt hatten, sondern dass einige von ihnen auch die gewöhnlichen Rüstungen mit dem stärkenden Schimmer ihrer Energie aufluden.

Ein Wagen rollte an ihm vorbei, beladen mit Hunderten kleinen Lederflaschen. Aaron lenkte sein Pferd dahinter her. »He! Die Männer brauchen kein Bier! Heben wir uns das für nach der Schlacht auf.«

Der junge Zwerg, der den Wagen lenkte, zog an den Zügeln. »H-Herr, das ist kein Bier. Das ist Heilelixier, Herr. Meine Mama ist Heilerin Schimmerstein, die Leiterin unserer Heilergilde. Sie dachte, es wäre gut für die Truppen.«

Aaron ließ den Blick über die Hunderten kleinen Fläschchen wandern. »Sag deiner Mutter, ich kann ihr gar nicht genug dafür danken, was ihre Heilergilde getan hat.« Er zeigte auf Castien in der Ferne. »Siehst du den Elfen mit der Lederrüstung, der die Offiziere anbrüllt? Bitte bring den Wagen zu ihm und sag, dass Aaron Riverton dich zu ihm geschickt hat.«

Der junge Zwerg schnalzte mit den Zügeln. »Ja, Herr.«

Als der Wagen davonrollte, tippte Aaron eine Nachricht in seinen Ring.

Aaron. Lasse gerade einen Wagen zum Offizierszelt fahren. Er ist voll mit Heiltränken. Ich vertraue darauf, dass sie umgehend verteilt werden.

Castien. Mögest du gesegnet sein. Darüber war ich schon besorgt.

Aaron. Dank unbedingt dem jungen Zwerg, der den Wagen bringt. Es war die Idee seiner Mutter. Ich fange wirklich an, die Ta’ah zu lieben.

Oda. Aye. Zwerge sind die besten Verwandten, die man haben kann.

Als Aaron den Weg über das Feld fortsetzte, um seine Bataillone zu inspizieren, ertönte über ihm ein Schrei. Er schaute auf und erblickte Piet, der über die Armee hinwegschwebte. Die Männer streckten die Waffen hoch und jubelten.

Am anderen Ende des Felds traf er auf die ausgelassenen Zwerge, die sich mit lautem Gesang auf die Schlacht vorbereiteten.

»Polier die Rüstung, schärf die Klinge.

Tanz zur Musik, während ich singe.

Was ist da passiert, drüben im Tal?

Die Barriere ist weg, verdammt noch mal.

Bereit für den Kampf, die Waffen wir schwingen.

Mit uns’ren Verbündeten der Sieg wird gelingen.«

Die nahen Truppen der Menschen und Elfen jubelten.

»Aufgepasst, Jungs, was höre ich da?

Polterndes Unheil, der Feind ist nah.

In seiner Mitte schreitet Böses einher.

Betet für uns und hebt den Speer!«

Die Zwerge schlugen ihre Schilde aneinander, bevor sie einen weiteren Schlachtgesang anstimmten.

Erstaunt schüttelte Aaron den Kopf. Noch vor wenigen Jahren war hier nichts, und jetzt das.

Er spürte Vibrationen an dem Ring, den sich nur er und sein Bruder teilten.

Ich gebe jetzt den Drachen ein Zeichen. Ohaobbok und ich brechen auf. Ich wünsche dir alles Glück. Das werden wir alle brauchen.

Ein Feuerball schoss von einem nahen Hügel in die Luft. Unter dem Funkenschauer standen Ryan und Ohaobbok. Piet raste zu ihnen, und Rubina näherte sich kreischend aus der entgegengesetzten Richtung.

Aaron trieb sein Pferd an und tippte eine kurze Nachricht.

Warte! Ich will mich von euch verabschieden.

* * *

»Bist du sicher, dass ihr dorthin wollt?«, fragte Rubina, während sie das Portal geöffnet hielt. Das flimmernde Bild zeigte eine Brücke aus Feuer, die in die Schwärze der Abgründe der Niederwelt führte.

Ryan lächelte. »Es muss getan werden, damit es niemand anderes je wieder tun muss.«

Piet spie einen Feuerstrahl in die Luft. »Ich begleite euch dorthin. Ich kann helfen.«

»Nein, Piet«, widersprach Aaron. »Du wirst hier gebraucht. Wir haben bald die feindliche Armee vor der Schwelle. Außerdem ist Ryans Ziel tief unter der Erde in beengten Verhältnissen. Hier hast du reichlich Platz, um zu fliegen und Schaden anzurichten.«

Als Aaron mit seinem Bruder einschlug, hallte der Schlachtgesang der Zwerge von den Versammlungsplätzen herüber. Die Brüder drehten sich zu den versammelten Truppen um, die sich alle dem Hügel zugewandt hatten.

»Sie grüßen dich«, sagte Ohaobbok. »Sie wissen, was gleich passiert.«

Die nächste Strophe des Lieds der Zwerge war neu:

»Wir fürchten den Kampf nicht, das sage ich dir,

denn sieh, die Herren der Prophezeiung sind hier.«

Aaron lächelte seinen Bruder an. »Komm bloß zurück, sonst muss ich selbst in die Abgründe runter und dich holen.«

Ryan lachte. »Ich werd mich bemühen.« Er deutete mit dem Kopf zum Sammelgelände. »Geh da draußen keine unnötigen Risiken ein. Vergiss nicht: Du bist stark, aber nicht unbesiegbar.«

Die Brüder umarmten sich, dann wandte sich Ryan ab und betrat das Portal. Ohaobbok folgte unmittelbar hinter ihm.

Schlachthörner dröhnten über die Felder. Rubina wusste, was die Klänge bedeuteten. Der Feind war im Anmarsch.

Aaron sprang auf sein Pferd und galoppierte zurück zu den Sammelplätzen, ließ die beiden Drachen allein zurück.

Als Rubina und Piet das Portal gerade verpuffen lassen wollten, raste eine schemenhafte Gestalt heraus.

»Was war das?« Rubina knurrte.

Piet flatterte mit den Flügeln. Flammen züngelten aus seinen Nasenlöchern. »Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Es ist an der Zeit für ein wenig Spaß!«

* * *

Anarane klatschte in die Hände. Nachdem sie ein Dutzend der geladenen Diamanten in den winzigen, von ihr erschaffenen Bogen eingesetzt hatte, erwachte das Portal zum Leben – und im Inneren des Bogens erschien wabernd die innere Kammer von Liliths Tempel.

Anarane schob die riesige Truhe durch das Portal, dann durchquerte auch sie es. Nach einem Augenblick der Orientierungslosigkeit fand sie sich in einer von violettem Licht erhellten Kammer wieder.

Ihre Herrin lächelte sie an.

»Willkommen zurück, Erste unter meinen Jüngern. Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«

Mit einer Handbewegung fegte Lilith den Deckel von der Truhe und verstreute Hunderte Diamanten über den Boden. Sie lachte bei dem Anblick. »Das hast du gut gemacht. Es ist an der Zeit zu beenden, was vor über 500 Jahren begonnen wurde.« Sie zeigte auf den riesigen Bogen in der Wand des Tempels. »Setz die Diamanten in die Fassungen ein.«

Es bedurfte der Hilfe vieler von Liliths Getreuen, aber nach einer Weile füllte jede Fassung des gewaltigen Bogens ein geladener Diamant. Lilith betrachtete den leuchtenden Bogen mit freudestrahlender Miene.

»Kommt «, sprach sie in Anaranes Gedanken. »Es ist so weit, mein Volk. Unser Schicksal erwartet uns. «

Offenbar hatte sie ihre Stimme an alle Getreuen übertragen, denn innerhalb weniger Augenblicke füllten Liliths Anhänger den Tempel.

Lilith schwenkte die Arme, und das Tor erwachte summend zum Leben.

»Vertraut mir, denn wir reisen an einen besseren Ort.«

In dem riesigen Portal erschien ein flirrendes Bild eines Walds mit Tieren, wie Anarane sie noch nie gesehen hatte. Ihre Schwestern bewunderten die Schönheit des Anblicks und murmelten freudig über den Neubeginn. Dann rannte ein Mann mit einem Bogen durch den Wald und hetzte einem verletzten Tier hinterher.

Lilith hob die Arme. »Folgt mir.«

Und damit trat sie durch das Portal.

Anarane dachte an die Möglichkeiten.

Ein einfaches Leben, ohne Vorurteile und Hass.

Sie legte die Hand auf den Bauch und lächelte.

Ein Kind auf natürliche Weise bekommen.

Lachend folgte sie der Schar zum Portal und ließ Trimoria für immer hinter sich.

* * *

Als sich Aaron dem Offizierszelt näherte, kam ihm Castien entgegen.

»Wir haben die ersten sicheren Anzeichen einer Armee im Anmarsch gesehen«, verkündete der Schwertmeister. Er reichte Aaron eine lange Röhre aus glänzendem Metall. An der Seite befanden sich mehrere Regler und Knöpfe. »Schau da durch. Es ist eine Weitsichtvorrichtung. Miriam, die Zofe deiner Schwägerin, hat unseren Glasmeistern geholfen, es anzufertigen.«

Aaron hielt sich ein Ende ans Auge und lachte. »Das ist ein Teleskop. Brillant!« Er schwenkte es nach Süden und sah die in der Ferne aufsteigenden Staubwolken. »Sie sind unterwegs.«

Labris Stimme meldete sich zu Wort. »Soll ich ihren Vormarsch verlangsamen?«

»Was hast du denn im Sinn?«, wollte Aaron wissen.

Labri rieb sich das Kinn, dann lächelte sie. »Wie wär’s mit sintflutartigen Regenfällen?«

»Schlamm?« Castien nickte zustimmend. »Das würde uns mehrere Stunden Zeit verschaffen.«

»Dann will ich sehen, was ich tun kann.« Labri schloss die Augen. Nach wenigen Herzschlägen zogen im Süden dunkle Wolken auf. Dann zuckten Blitze über den Himmel. Aaron suchte den Bereich mit dem Teleskop ab und entdeckte zwei Trichterwolken.

»Ich bin froh, dass wir dich auf unserer Seite haben«, sagte er.

Einige weitere Herzschläge vergingen, bevor Labri die Augen öffnete. »Mehr kann ich vorerst nicht tun.«

Aaron lachte, während er die Entwicklung in der Ferne weiter durch das Teleskop beobachtete. »Du hast mehr als genug getan. Ich glaube sogar, die Dämonen müssen in die Schlacht schwimmen.«

* * *

»Bist du sicher, dass du den Weg kennst?«, wollte Ryan von Ohaobbok wissen.

»Ja. Eine der Gaben, die ich auf dem Berggipfel von den anderen Paladinen bekommen habe, war ihr Wissen über die Tiefen der Welt. Irgendwann vor vielen Jahren müssen einige von ihnen durch die Abgründe gereist sein. Vermutlich wollten sie damals alles Böse in der Welt vernichten.«

Angewidert ließ Ryan den Blick über das Gelände wandern. Hunderte, wenn nicht Tausende Dämonenkadaver lagen zerfetzt verstreut. Überall war Blut. »Was hat all diese Kreaturen umgebracht?«

Ohaobbok trat einen Dämon aus dem Weg, während er durch die Höhle stapfte. »Das hier ist eine Kinderstube, in der neue Dämonen herangezüchtet werden. Deshalb vermute ich, die hier hat man als zu schwach betrachtet, um nützlich zu sein. Die größeren Dämonen haben wahrscheinlich ihre noch schlagenden Herzen gefressen, um sich für das bevorstehende Gefecht zu stärken.«

Ryan kämpfte sich durch einen Mückenschwarm und wäre beinah in einer Blutlache ausgerutscht. »Das ist grauenhaft.«

Sie ließen den Aufzuchtbereich hinter sich und gelangten in eine andere riesige Kammer. Schwefelgeruch fuhr Ryan in die Nase, und ein heißer Windstoß peitschte ihm ins Gesicht. Das Gelände stieg an, und auf dem Weg hinauf zog Ohaobbok sein weiß leuchtendes Schwert.

Dann blieben sie stehen. Unmittelbar vor ihnen befand sich eine lange Steinbrücke, die über eine breite Kluft im Gestein führte. Als sie sich der Brücke näherten, stieg die Hitze drastisch an. Von irgendwo unten schimmerte schwach ein rötliches Licht herauf. Vom anderen Ende der Brücke ertönte Gebrüll.

»Wappne dich«, sagte Ohaobbok. »Es ist so weit.«

* * *

»Dad«, sagte Aaron, »sei da oben vorsichtig.«

Sein Vater lächelte, als er auf Piets Sattel kletterte. »Ist fast wie bei einem Einsatz zu meiner Pilotenzeit. Aber sei du auch vorsichtig. Deck deinen Männern den Rücken, dann decken sie ihn dir.«

»Verstanden, mach ich. Aber wer wird dir den Rücken decken?«

Dad tätschelte Piets Hals. »Piet, du hast die Augen doch ständig offen, oder? Ich decke dir den Rücken, wenn du ihn mir deckst.«

Der Drache lachte. »Halt dich einfach fest, dann passiert dir nichts.«

»Also gut. Auf geht’s!«

Mit mächtigen Flügelschlägen erhob sich Piet in die Luft.

Als sie in den Himmel aufstiegen, rief Dad: »Heiho, Piet, los, los, los!«

Sloane berührte Aaron am Ellbogen. »Mach dir keine Sorgen, er nimmt das schon ernst. So unbekümmert gibt er sich nur deinetwegen.«

»Ich weiß. Ich sorge mich trotzdem. Er ist mein Vater.« Aaron drehte sich ihr zu. »Wie kommst du mit den Vorbereitungen voran?«

»Na ja, ich habe fast 100 Sumpfkatzen und 300 Wölfe, die marschbereit sind. Bei Tieren gibt’s nicht so viel vorzubereiten. Außerdem sind mir zwei ziemlich beunruhigte Kampfzauberer zugeteilt und zwei Heiler der Ta’ah.«

»Hast du etwas von den Heiltränken bekommen?«

»Oh ja. Castien hat mir eine kleine Wagenladung davon gebracht.«

»Gut.« Aaron hob sich das Teleskop ans Auge und blickte in die Ferne. Der Regen hatte den Feind verlangsamt, aber nicht aufgehalten. In höchstens einer Stunde würde er eintreffen.

Er tippte eine Nachricht in seinen Ring.

Der Feind nähert sich.