Ein unerwarteter Sommer
Jason schaute quer durch die Fressmeile der Arundel Mills Mall und beobachtete eine junge Frau mit rosa Haaren, die sich über einen Teller mit Chili-Fritten beugte. Trotz der neongrellen Haare fand er sie süß. Sie hatte eine leichte Stupsnase und volle Lippen.
Dann fluchte er leise, als ein Strom von Menschen zwischen ihnen vorbeiging und ihm die Sicht versperrte. Das Einkaufszentrum strotzte an dem Tag vor Leuten, die dem heißesten und schwülsten Juni in Maryland seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen entkommen wollten.
»Dad, ich versuche gerade, von den Lippen zu lesen«, sagte er, »aber ich versteh kein Wort.«
Sein Vater saß neben ihm und nippte an einem Vanille-Milchshake. »Die Lippen zu beobachten, ist nur ein kleiner Teil, wenn man aus der Ferne interpretieren will, was jemand sagt, mein Junge. Versuch, die Bedeutung auch aus anderen Hinweisen im Kontext abzuleiten, zum Beispiel aus der Mimik und kleinen Gesten.« Er beugte sich näher. »Ich geb dir einen Hinweis. Sie spricht nicht Englisch.«
Jason strich sich mit den Fingern durch das braune Haar. »Das soll wohl ein Scherz sein. Ich kann kaum verstehen, was gesagt wird, wenn die Leute Englisch sprechen. Jetzt erwartest du, dass ich Lippen in einer Fremdsprache lese?«
»Ist ja nicht so, als würden wir zu Hause nur Englisch reden, Jason. Denk unkonventionell. Greif auf das zurück, was du weißt, und gleich es damit ab, was du siehst. Deine Mutter kann Lippen in mehr als einem halben Dutzend Sprachen lesen. Wenn sie es kann, gibt es keinen Grund, warum du es nicht können solltest.«
»Aber sie macht das schon fast ihr Leben lang. Ich übe erst seit ein paar Monaten. Und überhaupt, warum ist es so wichtig, dass ich lerne, von Lippen zu lesen?«
Aber als Jason zu seinem Vater aufschaute, wusste er auf Anhieb, dass er darauf keine Antwort bekommen würde – oder auf irgendwelche anderen Fragen. Die Falte zwischen den Augenbrauen seines Vaters und die angespannte Kieferpartie sprachen Bände. Manche Menschen waren leicht zu lesen.
Jason wandte sich wieder der jungen Frau zu. Sie wurde sichtlich aufgewühlter. Ihr Gesicht rötete sich mehr und mehr, während sie mit dem Typen sprach, der bei ihr saß.
Und dann legte sich in Jason ein Schalter um. Als er die Bewegung ihrer Lippen mit ihrem Gesichtsausdruck abglich, tauchten die Worte »He acabado contigo « in seinem Kopf auf.
Sie schüttete ihrem Begleiter ihre Limonade ins Gesicht, stand auf und stürmte in Richtung Ausgang davon.
»Tja, so viel dazu«, meinte Dad unbekümmert.
»Ich glaube, sie hat Spanisch gesprochen«, sagte Jason. Er drehte sich seinem Vater zu. »Hab ich recht?«
»Was glaubst du, dass sie gesagt hat?«
»Ich glaube, das Einzige, was ich aufschnappen konnte, hat bedeutet: ›Ich bin fertig mit dir.‹«
Sein Vater legte einen muskulösen Arm über Jasons schmale Schultern und lachte. »Ziemlich gut. Obwohl es bei der Szene, die sie gerade gemacht hat, nicht allzu schwer war, sich zusammenzureimen, dass sie irgendwas in der Richtung gesagt haben muss. Sie hat dir ziemlich deutliche Kontexthinweise geliefert.«
»He, jetzt gesteh mir das zu, ich hab’s doch rausbekommen. Ich brauche nur mehr Übung. Jetzt antworte du mir: Warum ist dir das so wichtig?«
Sein Vater lächelte. »Jason, du bist mir in mehr Dingen ähnlich, als du dir vorstellen kannst. Wir lieben beide Herausforderungen. Das hat dich dazu angespornt, in Yale angenommen zu werden. Und das ... Na ja, ich dachte, du würdest es als interessante Herausforderung empfinden.«
»Irgendwie bezweifle ich, dass es Yale interessiert, ob ich gut Lippen lesen kann.«
»Das ist nicht für Yale.« Dad stand auf, womit er das Ende der Lektion des Tages anzeigte. »Vertrau mir einfach. Du wirst eine Verwendung dafür finden.«
Jason zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.«
»Genau.«
* * *
Jason saß am Schreibtisch in seinem Zimmer und atmete tief den Geruch des Kräuterbündels ein, das seine Mutter gegen seine Kopfschmerzen zusammengestellt hatte. Der ausgeprägte Duft von Zedernholz, Lavendel und Salbei wirkte zwar beruhigend auf ihn, aber nichts konnte ihn wirklich von den rasenden Kopfschmerzen erlösen, die ihn in letzter Zeit so oft plagten. Er versuchte, sie zu ignorieren, während er über seinem Geschichtsbuch brütete. Die ersten drei Jahre der Highschool hatte er mit ausgezeichnetem Erfolg bestritten, und er wollte sich nicht demselben »Schlendrian« der Oberstufe hingeben wie viele seiner Freunde. Seine Familie ihm ein Gefühl der Verantwortung für die eigene Ausbildung eingebläut. Bildung ist der Schlüssel zur Zukunft war ein oft wiederholtes Mantra im Hause Rogers.
Schon in jungen Jahren hatte Jason immer Bestleistungen angestrebt. Er wusste, dass harte Arbeit dazu beitragen würde, ihn auf das wahre Leben vorzubereiten. So würde er es an die Schulen schaffen, die er besuchen wollte, und sich in weiterer Folge die Jobs seiner Wahl sichern. Seine Aufnahme in Yale stellte nur einen weiteren Schritt seines Lebensplans dar – natürlich einen wichtigen Schritt, dennoch nur einen von vielen.
Er versuchte, sich auf das Lehrbuch zu konzentrieren, aber die Buchstaben auf der Seite verschwammen, und kleine weiße Blitze zuckten durch seine Sicht. Ein Anflug von Übelkeit schwappte über ihn hinweg, brachte ihn unkontrolliert zum Sabbern und ließ ihn fürchten, er müsste sich wieder übergeben. Und dann folgte ein Schwindelanfall. Als sich der Raum neigte, schloss Jason die Augen und presste die klamme Stirn gegen das Buch. Er atmete tief durch und hoffte, den Anfall dadurch schneller zu überstehen.
Plötzlich spürte er eine kräftige Hand im Nacken. »Jason? Geht’s dir gut?«
Abrupt setzte er sich auf und konnte nur mit Müh und Not den Mageninhalt bei sich behalten, als sich das Zimmer wild um ihn drehte. Er spürte, dass ihm kalter Schweiß seitlich über das Gesicht lief.
»Tut mir leid, Dad. Mir ist bloß ein bisschen flau.«
Es ließ sich unmöglich verbergen, wie schlecht ihm war. Vermutlich war es offensichtlich, und selbst wenn nicht, sein Vater war ausgesprochen scharfsinnig. Er hatte Jason sogar ein paar Tricks beigebracht, wie man andere beobachtete, um Schlüsse ziehen zu können. Wirkte jemand zappelig? Zuckten die Augen hin und her? Sein Vater sprach nie darüber, was er beruflich tat, aber Jason vermutete, es hatte etwas damit zu tun, Leute für die Regierung zu verhören.
Dad legte die Hände auf Jasons Schultern und drehte ihn zu sich herum. »Was für Symptome hast du?«
»Wieder Kopfschmerzen. Aber sie werden schlimmer. Meistens wird mir jetzt dabei auch schwindelig und davon wiederum schlecht.«
»Wann haben diese neuen Symptome angefangen? Das Schwindelgefühl und die Übelkeit?«
»Äh ... Ich bin mir nicht sicher. Ist schon eine Weile her.«
Dad runzelte besorgt die Stirn. »Bist du mit deinem Fahrrad gestürzt oder so? Hattest du ein Fieber, von dem ich nichts weiß?«
»Na ja ...« Jason verstummte kurz. »Vor ungefähr zwei Wochen bin ich von der Leiter gefallen, als ich die Satellitenschüssel richten wollte, aber ...«
»Du bist was? « Dad packte Jason fest am Arm und führte ihn aus seinem Zimmer. »Was ist los mit dir, Jason? Du hast dich verletzt und es nicht für nötig gehalten, uns davon zu erzählen? Was hast du dir dabei gedacht?«
»Dad, es war nichts weiter. Ich glaube nicht, dass die Kopfschmerzen irgendwas mit dem Sturz zu tun haben.«
Als sie die Küche betraten, schaute Ma auf. Sie war taub, merkte aber auf Anhieb anhand der Körpersprache, dass etwas nicht stimmte. »Zahseen? Was ist los?«
»Zahseen« stand als Name in Jasons Geburtsurkunde, aber nur seine Mutter nannte ihn so. Er hatte den Versuch aufgegeben, es ihr abzugewöhnen.
Dad antwortete ihr. »Ich kann dir sagen, was los ist, Mirela. Er läuft mit einer Gehirnerschütterung herum und hat es uns beiden nicht gesagt. Ich bringe ihn in die Notaufnahme.«
Das hielt Jason für eine maßlose Überreaktion. Daran änderte sich auch nichts, als sie in der Notaufnahme eintrafen und eine Krankenpflegerin ihm eine lächerlich lange Liste von Fragen über seine Symptome stellte. Aber sein Vater schwieg, bis die Pflegerin Jason Blut abnehmen wollte.
»Ist das wirklich nötig?«, fragte er.
Die Frau tupfte Jasons Arm ab und fächelte der Stelle mit der Hand Luft zu. »Dr. Smalski will ein großes Blutbild und ein paar andere Tests. Die Kopfschmerzen könnten von einer Infektion ausgehen. Gibt es einen Grund, warum ich ihm kein Blut abnehmen sollte, Mr. Rogers? Er leidet doch nicht unter Hämophilie, oder?«
Dad winkte die Frage ab und schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen. Tun Sie, was Sie tun müssen.«
Nach dem Bluttest, einem MRT und sogar einer Lumbalpunktion fühlte sich Jason wie eine misshandelte Laborratte. Aber als ein Arzt die Computerbilder seines Schädels, seiner Halswirbelsäule und seines Gehirns aufmerksam studierte, wurde Jason allmählich so besorgt, wie sein Vater aussah.
Vielleicht hatte Dad recht damit, mich herzubringen.
Schließlich wandte sich der Arzt an Jason und zwinkerte ihm zu. »Ich denke, du wirst es überleben.«
Dad legte Jason die Hand auf die Schulter und drückte sie. »Hatte er eine Gehirnerschütterung?«
»Falls ja, sehe ich keine Anzeichen dafür. Ich schreibe etwas gegen die Kopfschmerzen auf, dazu ein Muskelrelaxans und etwas gegen die Übelkeit.« Er lächelte Jason an. »Du wirst schon wieder, Junge. Aber wenn es auch mit den Medikamenten nicht besser wird, dann melde dich.«
Während der Arzt die Rezepte ausstellte und mit Dad sprach, spürte Jason, wie seine Sicht erneut mit weißen Streifen verschwamm. Er hoffte inständig, die Medikamente würden das in Ordnung bringen.
* * *
Jason befand sich auf dem Heimweg und nahm eine Abkürzung durch den Park, als ihn einer seiner Anfälle abrupt anhalten ließ. Er klammerte sich an der Rinde einer nahen Platane fest, um sich abzustützen. Aber immer noch kippte die Welt, und die Übelkeit wurde überwältigend.
Er fragte sich, ob es sich um Migräne handelte. Er hatte in der Schulbibliothek darüber gelesen. Aber bei Migräne gab es angeblich eine Vorwarnung, bevor sie zuschlug. Jasons Kopfschmerzen hingegen traten so plötzlich auf, als würde man aus heiterem Himmel von einem Vorschlaghammer getroffen.
Er verzog vor Schmerzen das Gesicht, und mit einem Blinzeln verschwand der Park. Einen Moment lang sah Jason nur Weiß.
Und dann, einfach so, wurde die Welt schlagartig wieder normal. Die Schmerzen verpufften so schnell, wie sie eingesetzt hatten.
Wie können sie so abrupt kommen und wieder gehen?
Er setzte sich wieder in Bewegung und versuchte, den Vorfall in Gedanken herunterzuspielen. Er hatte gerade den letzten Schultag hinter sich gebracht und freute sich auf einen Sommer, in dem er viel fernsehen und sich dabei genüsslich auf dem Massagesessel seines Vaters entspannen wollte. Vielleicht war das alles, was er brauchte. Vielleicht hatte er sich zu sehr unter Druck gesetzt, um seinen perfekten Notenschnitt zu halten.
Doch als den Weg nach Hause fortsetzte, fühlten sich die Dinge ... irgendwie falsch an.
Er war die Strecke jahrelang gegangen und wusste genau, was ihn erwartete. Mrs. Pattersons Mülltonnen am Ende ihrer Einfahrt, obwohl die Müllabholung bereits vor zwei Tagen war. Die üblichen Kinderfahrräder in den Vorgärten. Mrs. Dougal, die mit einem ihrer Hunde schimpfte, weil er Löcher buddelte.
Jason war gut darin, derlei banale Kleinigkeiten zu bemerken – dank der Ausbildung durch seinen Vater. Die beiden hatten ein Spiel, bei dem Jason ein Zimmer betrat, nachdem Dad etwas darin verändert hatte – den Winkel des Fernsehers, die Platzierung einer Zeitschrift, das Fehlen eines Buchs in einem Regal –, und Jason musste herausfinden, was es war. Wenn also etwas nicht stimmte, dann fiel es ihm auf.
Zum Beispiel die silbergrauen Limousinen mit getönten Scheiben, die im Leerlauf auf der Straße standen. Eine wies einen Aufkleber des Verteidigungsministeriums auf – genau wie Dads Auto. Das war anders als sonst.
Und als er in seine Straße bog, erwartete ihn noch etwas Ungewöhnliches. Sein Vater war zu Hause, und sowohl er als auch Ma lehnten an Dads Wagen.
Warum ist Dad so früh zu Hause?
Als Jason die Einfahrt hinaufging, winkte Ma aufgeregt, und Dad lächelte.
»Glückwunsch, mein Sohn. Du bist jetzt Student. Jetzt steig ein – ich hab im Old San Francisco Steakhouse reserviert, um zu feiern. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass mein einziges Kind die Highschool abschließt.«
Jason grinste, als Dad ihm das Haar zerzauste und Ma ihn zu sich zog, um ihn auf die Stirn zu küssen.
Während der Fahrt zum Restaurant unterhielten sich Jasons Eltern darüber, dass es sein letzter unbeschwerter Sommer vor dem College sein würde. Ma wollte als Familie irgendwohin in Urlaub fahren. Aber Jason fiel es schwer, zuzuhören. Irgendetwas stimmte immer noch nicht.
Als er sich umdrehte, erblickte er ein Auto etwa 15 Meter hinter ihnen. Er hätte schwören können, dass es sich um eine der Limousinen handelte, die er auf dem Heimweg von der Schule bemerkt hatte. Jason wollte gerade etwas darüber zu seinem Vater sagen ... als die Welt mit einem Blitz weiß wurde.
Sämtliche Geräusche verstummten wie abgehackt. Das Auto, die Bäume, die Straße ... alles verschwand. Und für einen flüchtigen Wimpernschlag ragte eine Sandsteinklippe wie ein bedrohlicher Wächter über Jason auf. Zu seinen Füßen schlängelte sich ein Bach durch Wüstengestrüpp und mündete in eine dunkle Höhle am Fuß des Steilhangs. Jason spürte, wie er zu dem dunklen Eingang hingezogen wurde.
Dann wurde alles wieder weiß.
Von Panik überwältigt schrie Jason auf – allerdings drang in dem endlosen Weiß kein Laut aus seinem Mund.
Dann kehrten langsam seine Sinne zurück.
Zuerst hörte er das Knistern von Feuer. Dann stieg ihm der beißende Geruch von Benzin und verbranntem Haar in die Nase. Jason blinzelte, und das Weiß verwandelte sich in dichten Rauch, durchsetzt von Flammen.
Er spürte Hitze und hörte, wie Glas zerbarst und wie Metall über Metall schrammte.
»Schnappt euch den Jungen, und nichts wie weg!«, rief eine tiefe Stimme.
Jason spürte Hände, die ihn aus dem Wrack des Autos seines Vaters zogen. Ein stechender Schmerz erfasste ihn, und diesmal wurde die Welt schlagartig schwarz.
* * *
Freak
Anya starrte sich im Badezimmerspiegel an, runzelte die Stirn und rieb sich die Wangen im vergeblichen Versuch, etwas Farbe in sie zu bekommen. »Sinnlos«, stieß sie mit einem frustrierten Schnauben hervor.
Sie würde immer wie ein Freak aussehen.
Mit den Fingern schob sie die Oberlippe hoch und biss die Zähne zusammen. Erst am Vortag hatte sie Dr. Livingstone besucht, ihren Zahnarzt in Fort Meade. Er hatte ihre Eckzähne bündig mit den anderen abgefeilt – wie jede Woche, so lange sie zurückdenken konnte. Und schon wieder ließen ihre Fänge die ersten Anzeichen erkennen, nachzuwachsen.
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Ihre Zähne wuchsen nur umso schneller, wenn sie sich gestresst fühlte.
Aber wer wäre zu dieser Zeit des Schuljahrs nicht gestresst? Der Abschlussball stand vor der Tür. Alle waren gestresst, entweder wegen der Vorbereitungen, weil sie hingingen, oder weil sie nicht hingehen würden.
Anya gehörte natürlich zu Letzteren.
Ihre Mutter trat hinter sie, legte das Kinn auf Anyas Schulter und lächelte ihre Adoptivtochter im Spiegel an. »Schatz, warum der düstere Blick?«
Anya wünschte, sie sähe mehr wie ihre Mutter aus. Gewelltes braunes Haar. Ein paar helle Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Und dieses herzliche Lächeln ...
Anya würde nie ein herzliches Lächeln besitzen. Selbst mit abgefeilten Zähnen ging sie bestenfalls als blasses Mädchen durch, das aussah, als könnte es jeden Moment knurren.
»Meinst du, ich sollte noch mal versuchen, mir die Haare zu bleichen?«, fragte sie.
Ma runzelte die Stirn. »Ich bezweifle, dass es besser funktionieren würde als beim letzten Mal, Schatz.« Beim letzten Mal hatte Anya einen juckenden Ausschlag bekommen, der sich drei Tage lang hartnäckig hielt. »Außerdem ist dein Haar wunderschön. Glatt, rabenschwarz, rückenlang und trotzdem nie verfilzt. Die meisten Leute würden für dein Haar glatt töten.«
»Ma, ich sehe aus wie ein Freak. Wie etwas, das Buffy jagen sollte. Ich hab’s so satt.«
Anyas Mutter schlang die Arme um sie und drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. »Schatz, du bist wunderschön.«
»Das denkst du nur, weil du meine Mutter bist. Es ist deine Pflicht zu ignorieren, wie schräg dein Kind ist. Aber ich weiß, was ich im Spiegel sehe: papierweiße Haut, pechschwarze Haare, violette Augen. Ich meine, echt jetzt – violett? Ich weiß, ihr habt mich in irgendeinem Waisenhaus auf der anderen Seite der Welt gefunden. Trotzdem kann ich mir nicht ansatzweise vorstellen, wie die Kombination zustande gekommen sein kann. Ehrlich, ich wünschte, ich hätte Pickel. Dann hätte ich wenigstens ein bisschen Farbe im Gesicht. Aber nicht mal in der Hinsicht bin ich normal!«
»Ach, Liebes, ich weiß, dass es in deinem Alter schwer ist. Aber glaub mir, dass du wirklich wunderschön in jeder Hinsicht bist, die zählt.« Ihre Mutter rieb mit dem Daumen über ihre Wange. »Was hältst du davon, wenn ich mit deinem Vater über ein bisschen Make-up rede?«
Anya schüttelte den Kopf. »Du kannst mit ihm reden, so viel du willst. Er wird trotzdem nein sagen.«
Ihr Vater war ehemaliger Colonel der Special Forces der Army. Er hatte immer zu ihr gemeint, hübsch zu sein, wäre ein Fluch, und sie müsste sich auf ihre Fähigkeiten konzentrieren – über die nur er Bescheid wusste.
»Na, wenn das so ist, sage ich ihm nichts. Du bist 17 – alt genug für ein bisschen Rouge. Ich besorge die eine möglichst helle Schattierung. Das sollte gegen deine Blässe helfen, aber vielleicht nicht so sehr, dass er es merkt. Was hältst du davon?«
Anya zog ihre Mutter in eine innige Umarmung. »Ma, das wär spitze! Vielen Dank.«
* * *
Während Anyas Algebralehrerin, Ms. Claypotch, über quadratische Gleichungen und Parabeln dozierte, galt Anyas Aufmerksamkeit Greg Miller. Er war Torwart der Lacrosse-Auswahlmannschaft. Und jedes Mal, wenn sie ihn ansah, spürte sie, wie sich diese eigenartige Wärme in ihr ausbreitete.
Anya, reiß dich zusammen. Hör auf, an Jungs zu denken.
Ihr Vater mahnte sie ständig zur Vorsicht im Umgang mit Jungs. Die meisten Väter warnten ihre Töchter vor ihnen, weil sie sich davor fürchteten, was ihren Töchtern passieren könnte. Anyas Vater jedoch warnte sie, weil er sich davor fürchtete, was den Jungs passieren könnte. Anya wusste, dass sie sogar einen so großen, muskelbepackten Jungen wie Greg mühelos umhauen könnte. Das hatte sie schon mal, wenn auch nicht Greg. Und das Wissen jagte ihr Angst ein.
Deshalb hatte sie die drei Jungen abgewiesen, die sie tatsächlich zum Schulball einladen wollten. Sie durfte keinen weiteren Vorfall wie den riskieren, der sich im letzten Jahr mit Tony ereignet hatte.
Es war nach einem Football-Match passiert, als sie sich unter der Tribüne getroffen hatten. Tonys Version lautete, dass Anya ihn »ausgelaugt« hatte und er deshalb eine Stunde später bewusstlos aufgefunden wurde. Anyas Version ... nun, sie hatte keine. Die Wahrheit konnte sie schlecht sagen, nämlich dass sie einen Footballspieler mit bloßen Händen bewusstlos geschlagen hatte.
Und so wurde Anya, zuvor als Einzelgängerin und Spinnerin bekannt, über Nacht zum Flittchen.
Es dauerte über eine Woche, bis Anya herausfand, was vor sich ging. Die Aufmerksamkeit, die sie von Jungs bekam, ging durch die Decke, während die meisten Mädchen, mit denen sie sich vorher gut verstanden hatte, nicht mehr mit ihr redeten. Letztlich zählte sie zwei und zwei zusammen.
Und immer noch ließen Gedanken an den Vorfall Wut und Scham in ihr aufsteigen. Sie konnte nicht fassen, dass sie den Trottel tatsächlich geküsst hatte.
Mit der Zeit war ihr Ruf als Flittchen allmählich in Vergessenheit geraten. Aber in letzter Zeit hatte sie neues Geflüster gehört. Da sie Angebote jeglicher Art von den Jungs der Schule ablehnte, wurde sie neuerdings anscheinend als lesbisch abgestempelt.
Wenn diese Idioten nur wüssten, wie falsch sie damit liegen.
Sobald die Glocke läutete, hievte sie sich ihren Rucksack über die Schulter, marschierte hinaus zum Schülerparkplatz und stieg in ihren gelben Volkswagen Beetle – ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem 17. Geburtstag. Während sie das Auto langsam durch die anderen Schüler schlängelte, kam Vorfreude in ihr auf.
Sie fragte sich, wie die heutige Mission aussehen würde.
* * *
Als die Wachmannschaft Anya durch die Einfahrt von Fort Meade winkte, warf sie einen Blick auf den Zettel, auf dem sie die Angaben zu ihrem Auftrag notiert hatte.
Nordöstliches Übungsfeld, 16:00 Uhr.
Bei Commander Kinney im Bunker melden.
Trotz ihres Alters hatte ihr Vater besondere Vorkehrungen getroffen, damit sie an einem Geheimprojekt teilnehmen konnte, von dem weder die Army wusste noch die NSA, die ihren Sitz auf dem Stützpunkt hatte. Nach dem Zwischenfall mit Tony hatte sie ihrem Vater von ihren seltsamen Kräften erzählt – und er ihr seinerseits von einer geheimen Regierungsbehörde, die mit einzigartigen Menschen arbeitete. Menschen wie Anya.
Wie sich herausstellte, leitete ihr Vater etwas, das sich »Projekt Gandalf« nannte. Er hatte die Aufgabe, Menschen mit verborgenen Kräften zu finden und ihnen zu helfen, ihre Fähigkeiten zu beherrschen. In den meisten Fällen handelte es sich um junge Leute. Und sobald sie die ihre besonderen Kräfte kontrollieren konnten, wurden sie zurück zu ihren Familien entlassen – um ein hoffentlich relativ normales Leben zu führen. Viele von ihnen betrachteten es lediglich als einen längeren Aufenthalt im »Camp Gandalf«.
Als Anya in der Nähe des Schießstands parkte, sah sie eine kleine Menschenansammlung beim Betonbunker und ein junges Mädchen, das einsam in der Mitte des Felds stand. Sie wusste auf Anhieb, worin ihre Aufgabe an diesem Tag bestehen würde.
Ihr würde die Verantwortung zufallen, das Mädchen davon abzuhalten, sich selbst – oder jemand anderen – umzubringen.
* * *
Anya tippte dem Mädchen auf die Schulter. »Bist du bereit, anzufangen?«
Sabrinas Pferdeschwanz wippte, als sie nickte. Sie war erst neun Jahre alt. »Diesmal werd ich nicht die Kontrolle verlieren. Versprochen.«
Anya empfand immer noch Ehrfurcht vor den Kräften der Kleinen. Anya trug angemessene Schutzausrüstung, unter anderem Schuhe mit Gummisohlen, und sie stand auf einer Gummimatte, von der ein Draht in den Boden verlief. Dennoch konnte man in Hinblick auf Sabrina nichts als sicher annehmen.
Sie ging in die Hocke, damit sie sich auf Augenhöhe mit dem Mädchen befand, dann zeigte sie auf drei Ziele in etwa 200 Metern Entfernung. »Denk dran, du sollst die Blitze genau auf die Ziele richten. Wenn sie auch nur leicht danebengehen, ist der Test vorbei.«
Sabrina hopste aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß. Kann ich anfangen? Ich kann spüren, wie die Kribblis nach mir rufen.«
Als Anya das Mädchen mit einem Nicken aufforderte, loszulegen, lief Commander Kinneys Warnung erneut in ihrem Kopf ab. Die Kleine ist allzu begeistert von ihren Kräften. Du musst sie fest im Griff behalten. Wer weiß, was sonst passieren könnte.
Sabrina streckte die Arme in die Luft. Als das Mädchen ihre Macht heraufbeschwor, beschlich Anya ein Gefühl, als würden Ameisen auf ihr krabbeln – ein Gefühl, das die Kleine als »Kribblis« bezeichnete. Anya konnte fühlen, wie sich Sabrinas Kräfte beinah in Zeitlupe aufbauten.
Dann zischten am Himmel Tausende dünne Lichtranken über das wolkenlose Blau und verschmolzen direkt über ihnen zu einer gleißenden Kugel aus schimmernder Energie. Der knisternde, strahlendweiße Ball entfesselte einen plötzlichen Blitz in Richtung des ersten Ziels.
Es wurde ein Volltreffer.
Sabrina sprang auf und ab, klatschte in die Hände und drehte sich grinsend Anya zu.
Anya erwiderte das Lächeln und bedeutete ihr, fortzufahren. Commander Kinney hatte Anya gebeten, das Mädchen durch ein Dutzend Blitze zu leiten – vorausgesetzt, ihr unterliefen keine Fehler.
Aber darin lag das Problem. Sabrina würde sich vermutlich in ihrer Kraft verlieren, je mehr sie diese benutzte. Das war typisch für die Kinder des Projekts.
Wieder und wieder beschwor Sabrina Blitze vom Himmel. Damit ging ein prägnanter Geruch einher, der Anya an die Chlorbleiche erinnerte, die ihre Mutter manchmal verwendete. Beim siebten Blitzschlag schimmerten Sabrinas Augen mit einem silbrigen Licht. Und als sie die Arme für den achten Anlauf hob, lachte sie und rief: »Seht her!«
Tausende silbrige Ranken schlängelten sich aus allen Richtungen herbei und ballten sich zu einer gleißenden Kugel. Nur diesmal entfesselte Sabrina die gebündelte Energie nicht auf eines der Ziele, sondern zog einen Blitzschlag direkt auf sich selbst .
»Sabrina!«, brüllte Anya.
Aber die Kleine erwies sich als unversehrt, abgesehen davon, dass sie von Kopf bis Fuß schillerte. Sie hatte die Energie absorbiert.
Eine Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher: »Tests abbrechen. Neutralisieren.«
In Sabrinas lächelnde Züge trat ein Ausdruck des Wahnsinns, und die Energie, die sie umgab, knisterte und knackte. Mit unheilvoller Stimme wandte sie sich an Anya: »Die Kribblis sagen, du bist nicht mehr meine Freundin.«
Zum Glück kannte Anya die Protokolle für den Umgang mit außer Kontrolle geratenen Blitzbeschwörern. Sie riss eine Maschendrahtdecke unter einer anderen Gummimatte hervor und warf sie auf das leuchtende Mädchen. Die um sie geballte Elektrizität entlud sich als heftiger Sturm aus Licht und Geräuschen. Das Netz zischte und fiel teilweise auseinander.
Sabrina schrie. »Ich wusste, dass du die Kribblis für dich allein haben willst. Du kannst sie nicht haben!«
Anya sprang auf sie zu und entfesselte mit Gebrüll ihren eigenen verborgenen Dämon. Als sie Sabrina berührte, schien sich in ihrem Inneren ein Tor zu öffnen, durch das die eingesperrte Bestie heraussprang. Eine knisternde Energiefontäne strömte durch Anyas Hand und in Sabrinas Körper.
Sabrinas Augen rollten nach oben, und sie brach in Anyas Armen zusammen.
Die Stimme aus dem Lautsprecher ertönte wieder. »Vorrücken. Testperson ist neutralisiert.«