4

Gray

Schnell preschte ich vor, drängte mich in die Lücke zwischen uns und stellte meinen Fuß in den Türrahmen, bevor die Hexe die Tür schließen konnte. Die Tür prallte gegen meinen Fuß, öffnete sich wieder einen Spalt und die Finger der Hexe griffen eilig nach dem Türknauf. Ihre Augen weiteten sich angesichts meiner Geschwindigkeit und blinzelten, als ich so plötzlich dicht vor ihr stand.

Ich hob meinen Unterarm, lehnte ihn an die Wand neben der Tür und beugte mich zu ihrem Gesicht hinunter, während ich meine Oberlippe ein klein wenig zurückzog – meine Fangzähne blitzten kurz auf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und auch ihr Puls wurde schneller, trotz der Ausbildung, die sie womöglich zur Kontrolle ihrer Nerven genossen hatte.

»Warum kommst du nicht zu mir nach draußen, um mich weiter anzulügen, meine Liebe?« Ich lächelte zu ihr hinab, während mich diese seltsamen, nicht zusammenpassenden Augen mit den natürlichen, langen schwarzen Wimpern anstarrten. Die Augenringe verrieten, wie müde die Hexe sein musste, und für einen Moment überlegte ich, ob sie wohl immer so aussah oder nur wegen ihres kürzlichen Verlusts. Trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung war sie von Kopf bis Fuß jene überwältigende, verführerische Ablenkung, die ich überhaupt nicht brauchen konnte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und lenkte damit meine Aufmerksamkeit auf den ausgeprägten Amorbogen ihrer Oberlippe. Sie schüttelte leicht den Kopf und einige dunkle Locken ihres gewellten Haars fielen nach vorn über ihre Schulter. An den Haarspitzen war ein winziger Hauch Rot auszumachen, als hätte sie sie in das Blut ihrer Feinde getunkt. Dieser Gedanke feuerte etwas in mir an und als Reaktion auf diese seltsame Frau spannte sich mein Schwanz in der Hose. Ich ließ den Blick über ihren Körper wandern und nahm dabei eine Ausbuchtung ihrer Kurven nach der anderen in mir auf. Sie hatte große Brüste, die Linie ihres Dekolletés blitzte verlockend aus ihrem Tanktop heraus. Ihr Körper wölbte sich an den Hüften, und wie sie so mit einem Fuß voran dastand, wirkten ihre Oberschenkel kräftig und stark. Sie hatte nicht die hagere, abgemagerte Schönheit der meisten weiblichen Hüllen. Ihre Kurven waren weich und für mich genau richtig.

»Ich bin überrascht, dass Sie mit diesem riesigen Ego überhaupt auf meine Veranda passen.« Ihr falsches, zuckersüßes Lächeln ließ sie älter als die zwanzig Jahre wirken, die sie war. Sie setzte den Blick einer zynischen Frau auf, die lange genug gelebt hatte, um die Hässlichkeit, die die Welt anzubieten hatte, bereits erlebt zu haben.

Sie wirkte alterslos.

Eine Bewegung hinter ihr lenkte mich von der Form ihrer Lippen ab, mit denen sie gerade ihr nächstes Wort formen wollte, das zweifellos eine clevere, genussvolle Bemerkung geworden wäre, die mich zugleich verärgert und unterhalten hätte. Es war so lange her, dass mich jemand wirklich herausgefordert hatte. Ihre Weigerung erinnerte mich an die Anspannung, die einst bei der Jagd zwischen Jäger und Beute geherrscht hatte.

Ein etwa sechsjähriger Junge tauchte hinter ihr im Flur auf und sah mich an, in der Hand einen Schürhaken. Er hielt ihn auf ungeschickte Art und Weise fest, was mir verriet, dass er nichts mit ihm anzufangen wusste.

Der Unterschied zu Willows Körperhaltung war frappierend, zu der Standfestigkeit und Ruhe ihres Körpers. Jede Bewegung hatte ihren Zweck, jedes Zucken ihres Fingers war bewusst gesetzt.

Sie war ausgebildet worden, dessen war ich mir nun sicher. Der Junge hingegen nicht.

Willow blickte sich über die Schulter zu ihm um, genau in dem Moment, in dem sie mit ihrer freien Hand nach vorne schoss, um mir damit den Mund zuzuhalten. Jeder Zweifel, den ich gehabt hatte, verflüchtigte sich, und ihre Hand ließ den Befehl verstummen, mir den Zutritt zu ihrem Haus zu gewähren.

Er besaß kein Amulett, das ihn vor dem Zwang hätte beschützen können.

Ich grinste in ihre Handfläche, ließ meine Fangzähne über ihre Haut gleiten und weidete mich an dem Schaudern, das durch ihren Körper zog.

»Geh zurück in die Küche. Jetzt«, befahl sie. Der Junge starrte sie an, tat aber, was sie ihm aufgetragen hatte. Dabei schwang er den Schürhaken, bis er nicht mehr zu sehen war.

Es war fast niedlich, dass er sie beschützen wollte. Ich war überzeugt, dass sie kaum damit einverstanden sein konnte, dass er die Täuschung ruinierte, die sie hatte aufbauen wollen. Sie ließ meinen Mund los, als sie sich sicher war, dass ich nichts sagen, nicht meinen Zwang bei dem Jungen, der vermutlich ihr Bruder war, einsetzen würde.

»Da hütest du ja aber ein ganz schönes Geheimnis, kleine Hexe .« Ich betrachtete ihr Gesicht von der Seite, während sie zusah, wie der Junge verschwand. Die sorgfältig entwickelte Maske, die sie für mich aufgesetzt hatte, verrutschte, und die Andeutung eines freundlichen, aber leeren Lächelns verschwand. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, ihre Wangenknochen traten deutlicher hervor, ihr Blick schimmerte, und sie wandte sich langsam mir zu, um mich durch die langen Wimpern anzusehen.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Ihre Lippen wurden zu einer schmalen Linie. Ihr Oberteil offenbarte das schwache Leuchten, das um ihr Turmalinamulett pulsierte und auf ihrer olivfarbenen Haut schimmerte.

»Wenn du mitkommst, ohne dich zu wehren, werde ich dem Coven nichts von dem Hexer in eurem Haus erzählen«, sagte ich und unterbreitete ihr damit ein Angebot, das sie von niemand anderem erhalten hätte. Ich war der Einzige, dem die Gesetze der Hexen derart gleichgültig waren, dass ich sie so leichtfertig ignorieren konnte.

»Sie erwarten von mir, dass ich einem blutsaugenden Parasiten traue?« Ihre Augen flackerten herausfordernd. Nachdem wir nun unsere Mauern fallen gelassen hatten, wurde ihr Hass auf Wesen meiner Art in dem endlosen Blick deutlich, der mich mit ihnen gleichsetzte.

»Du kannst dich nicht für immer in diesem Haus verstecken. Ich biete dir einen Weg, deinen Bruder vor der Wahl zu schützen. Ruf jemanden an, der ihn zu sich nimmt, und komm mit mir, und keiner wird je davon erfahren«, bot ich ihr an und hob besänftigend die Hände. Ich wich nicht zurück und beließ den Fuß in der Tür, um ihr nicht die Gelegenheit zu geben, sie zuzuwerfen.

Sie wendete ihre Augen ab, sah sich noch ein letztes Mal dorthin um, wo ihr Bruder verschwunden war, und traf dann die Entscheidung, von der wir beide wussten, dass es die beste war.

Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf mich gerichtet hatte, war aus ihrem finsteren Blick jedoch ein zufriedenes Grinsen geworden. »Passen Sie mal gut auf«, brummte sie und ließ mit gekräuselter Nase ein tierisches Knurren hören, das sich auch über ihr Gesicht ausbreitete. Sie ließ die Tür los, krachte ihren Stiefel auf meinen Fuß und hieb im selben Augenblick mit ihrer Handkante gegen meine Kehle.

Mein Atem stockte. Bei ihrem Schlag durchfuhr mich ein heftiger Schmerz. Ihr zweiter Angriff ging gegen meinen Schritt, während ich noch immer über die Tatsache taumelte, dass dieses bösartige Ding mich tatsächlich angegriffen hatte. Ich bedeckte meine Leiste mit beiden Händen, um mich vor dem erhobenen Fuß zu schützen. Dabei blieb meine Brust ungedeckt, was sie nutzte, um mich einen Schritt zurückzustoßen.

Ich wich nicht weit zurück, doch weit genug.

Sie zuckte in einer Geschwindigkeit zurück, die ich selbst bei sehr gut ausgebildeten Hexen nur selten gesehen hatte, packte den Knauf und warf die Tür zu, während ich sie noch angaffte. Meine angegriffene, sich selbst heilende Kehle dehnte sich wieder aus und ich drehte den Kopf von einer Seite zur anderen.

Verfickte Hexen.

Die Vorhänge an den nach vorne gehenden Fenstern wurden zugezogen, ohne dass das Hexenmädchen dort zu sehen gewesen wäre. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich wieder dem verdammten Briefkasten ganz vorn an der Einfahrt zuzuwenden. Ich kramte mein Handy hervor und wählte Juliets Nummer.

Noch während ich die drei Stufen der Veranda hinunterstieg, drückte ich den Apparat ans Ohr und sah zu dem viel zu still wirkenden Haus zurück.

»Hast du sie?«, wollte Juliet wissen und das Geräusch des startenden SUV s war zu hören.

»Nein. Sie weiß, wer wir sind. Ich will, dass jeder Ausgang des Hauses überwacht wird«, gab ich knapp zurück und knirschte mit den Zähnen. Ich ging um das Gebäude herum und zwang mich, auf Fluchtgeräusche zu achten. Ich sollte verdammt sein, würde sie sich rausschleichen, während ich noch allein war.

»Alles klar.« Juliet legte offenbar den Gang ein. Da es nun keinen Grund zu Geheimhaltung mehr gab, würde sie den Weg hierher in wenigen Augenblicken zurückgelegt haben.

»Und hörst du, Juliet? Wenn sie sich zeigt, dann gehört sie ganz allein mir. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« Ich fuhr zusammen, denn bei jedem Schritt schmerzten meine Eier.

Juliet schwieg für einen Augenblick und dachte nach. Dann brach ein grelles Kichern aus ihr hervor. »Die Hexe hat dich überrumpelt, oder?«

»Ich habe sie unterschätzt«, gab ich zu und ließ die geschlossenen Vorhänge auf der Rückseite des kleinen grünen Hauses nicht aus den Augen. »Den Fehler mache ich nicht noch ein zweites Mal.«