Willow
Die Frau am Steuer bog von der Hauptstraße ab, die den Schildern zufolge in die Stadt Salem, Massachusetts, führte. Ich war natürlich noch nie dort gewesen, da ich mich so weit wie möglich von Crystal Hollow hatte fernhalten müssen. Meine Mom hatte mir erzählt, was aus der Stadt, in der einst unsere Vorfahrinnen gelebt hatten, geworden war, wie die Geschichten über die Hexen, die dort gehängt wurden, zu dem wurden, wofür die Stadt bekannt war, und wie die Touristen den ganzen Oktober über dorthin strömten.
Irgendwie war es perfektes Karma, dass die Stadt für die Leute bekannt war, die sie versucht hatte loszuwerden, und dass die Verfolger aus der Geschichte verblasst waren. Es fühlte sich an wie etwas, das mir aus dem Jenseits Frieden gebracht hätte.
Der Direktor von Hollow’s Grove saß neben mir und tippte hektisch auf seinem Handy. Seine Daumen flogen mit einer Geschwindigkeit über das Display, die eigentlich hätte unmöglich sein sollen.
Seine Miene war ernst, so als ob sein Gesprächspartner am Telefon ihn sehr verärgert hätte. Sein dunkles Haar war dezent nach hinten gestrichen und gab den Blick auf sein kantiges Kinn und den gut getrimmten Bart frei. Die gerade Nase prägte sein Profil und ich wusste, wie schwierig sich der Plan meines Vaters gestalten würde, wenn dieser Mann an der Spitze der Hüllen stand.
Wenn er wüsste, was ich war oder was ich vorhatte, würde er mir ohne zu zögern die Kehle herausreißen, bevor ich überhaupt um mein Leben betteln könnte. Die Tatsache, dass ich dem Coven gegenüber genauso wenig loyal war wie den Hüllen, würde mich nicht retten.
Nicht, wenn er herausfand, dass ich diejenige war, die ihn unschädlich machen konnte, die seine Hülle wieder zu dem Schlamm machte, aus dem er erschaffen worden war, und seine Seele zurück in die Schlünde der Höllen schicken konnte.
Er warf mir einen Blick zu und zwang mich damit, aus dem Fenster zu schauen. Ich schluckte meine Verärgerung darüber hinunter, dabei ertappt worden zu sein, wie ich sein Gesicht musterte; ein Gesicht, durch das er vermutlich gewohnt war, stets seinen Willen zu bekommen. Während er wahrscheinlich dachte, ich sei interessiert an ihm, hatte ich nur die vor mir liegende Aufgabe taxiert.
1. Die Hülle verführen.
2. Herausfinden, was er weiß.
3. Die Knochen finden.
Bei dem Gedanken an die Aufgabe, die mir mein eigener Vater aufgegeben hatte, überkam mich Übelkeit. Es musste einen anderen Weg geben, um die Knochen zu finden, denn der Gedanke, dass ich eine unsterbliche Kreatur verführen könnte, die so aussah, war lächerlich. Vor allem, wenn er mich eigentlich nur kosten wollte.
Und wahrscheinlich nicht auf die spaßige Art.
»Der Covenant hat verlangt, dass ich dich ihnen vorstelle, sobald wir angekommen sind«, erklärte er und steckte das Handy in die Tasche seiner Anzugjacke.
Ich warf ihm einen Blick zu, der wohl sehr genau ausdrückte, was ich davon hielt, zu den sterblichen Überresten jener Frau gebracht zu werden, die meine Mutter so unglücklich gemacht hatte, dass sie das einzige Zuhause verließ, das sie je gekannt hatte. Sie hatte ihren eigenen Tod vorgetäuscht, um sich die Freiheit zu erkaufen, indem sie eine Frau umgebracht hatte, die aussah wie sie, und die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Magie dieser Größenordnung erforderte gewisse Opfer, und zwar in Form eines Menschen, also hatte meine Mutter jemanden ausgesucht, der niemals vermisst werden würde.
Obwohl sie jemanden gewählt hatte, ohne den die Welt besser dran wäre – eine Frau, die ihr eigenes Kind misshandelt hatte –, verfolgten der Tod und das, was sie getan hatte, meine Mutter bis zu dem Tag, an dem auch sie starb und ins Jenseits übertrat. Ich würde meine Mutter nicht dafür verurteilen, dass sie getan hatte, was nötig war, um der Kontrolle des Coven zu entkommen. Ich würde allerdings sehr wohl die Situation verurteilen, in die der Coven sie gebracht hatte. Die absolute Verzweiflung, die sie empfunden haben musste, um bereit zu sein, etwas so Drastisches zu tun; etwas, das außerhalb der Norm für meine Mutter lag, die sanft und freundlich zu allen gewesen war, die sie traf. Es sagte genug über das Böse, dem ich in meiner Zeit hier begegnen würde, dass Mord das geringere Übel war.
Ich machte mir nicht die Mühe, so zu tun, als wüsste ich nichts von dem Covenant. Das wäre auch sinnlos gewesen, zumal ich längst gewusst hatte, was Thorne war, als ich ihn vor meiner Tür stehen sah.
»Welches Interesse sollte der Covenant an mir haben, Direktor Thorne?«, fragte ich und wandte meinen Blick von der Straße ab, deren Pflaster schnell in Erde überging. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte und ich konnte nicht sagen, ob ihn die Förmlichkeit der Anrede irgendwie ärgerte.
»Du bist die letzte lebende Nachfahrin von ihnen. Ich denke, die bessere Frage ist, was sie nicht von dir wollen, Miss Madizza«, sagte er und seine Stimme wurde spöttisch, als er meinen Namen sagte.
»Und was passiert, wenn ich kein Interesse daran habe, ihre Schoßhexe zu sein?« Ich hob eine Augenbraue und wich zurück, als er endlich meinem hitzigen Blick begegnete. Er musterte mich, und das Gold, das seine Pupillen umgab, schien zu brennen, verkündete eine flammende Warnung, die ich besser beherzigte.
»Du bist nicht die Einzige, die Crystal Hollow als Gefängnis ansieht, aber die Welt ist noch nicht bereit dafür, dass wir in der Öffentlichkeit existieren können. Du hast uns alle in Gefahr gebracht, indem du so lange außerhalb der Schutzzauber gelebt hast, und dass mit deiner Art von Magie. In deinen Adern fließt eine ganze Magielinie, bis dein Bruder erwachsen wird und das einfordert, was ihm gehört. Jede andere Hexe hätte sich seiner entledigt, bevor er das tun könnte«, erklärte Direktor Thorne und zupfte eines meiner Haare von seinem Anzug. Es wehte im Fahrtwind, als er es neben mir fallen ließ, das einzige Zeichen dafür, dass er von unserem Handgemenge im Wald auch nur im Entferntesten betroffen war.
»Vielleicht ist diese egoistische Gier der Grund, warum nur ich von den Grünen übrig geblieben bin. Vielleicht verdienen die Hexen das Schicksal, das sie ohne Verbindung zu der Magie, die die Schutzzauber gebildet hat, erwartet«, schnappte ich und sah zu ihm auf.
Er drehte sich in seinem Sitz, sodass sein Gesicht ganz nah an meinem war, seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Grinsen. »Ich werde dir nicht widersprechen, dass die Hexen egoistische, gierige Kreaturen sind. Vergiss nicht, dass deine Vorfahren ihre Kräfte erlangt haben, indem sie ihre Seelen an den Teufel verkauft haben. Die Magie, die durch deine Adern fließt, mag grün sein, aber dein Herz ist am Ende schwarz wie das aller anderen.«
Ich schnaubte und lachte, als ich ihm mit dem Finger gegen den Fleck pikte, wo sein Herz hätte sein sollen. »Wenigstens habe ich eins«, sagte ich.
Sein Blick fiel auf den Finger an seinem Hemd, auf die Stelle, wo uns nur der Stoff von der Berührung trennte. Er wanderte langsam über meinen Finger und meine Hand, mein Handgelenk und meinen Pullover hinauf, bis er mir unvermittelt in die Augen sah.
»Ich glaube, die Menschen haben ein Sprichwort, das dir hier gute Dienste leisten könnte«, sagte er und griff nach meiner Hand. Er drückte sie so fest, dass es sich anfühlte, als würden meine Fingerknochen aneinanderreiben, und ließ sie in meinen Schoß sinken. »Schlafende Hunde soll man nicht wecken.«
»Was wissen Sie schon von Menschen?«, fragte ich und weigerte mich, dorthin zu schauen, wo er immer noch meine Hand festhielt.
»Ich weiß, dass sie nicht so gut schmecken wie kleine Hexen«, sagte er und führte meine Hand an sein Gesicht. Er bog sie zurück und entblößte mein Handgelenk, als er es unter seine Nase hielt und meinen Duft einatmete.
Ich riss die Hand zurück und wehrte mich gegen seinen Griff. »Es ist auch viel unwahrscheinlicher, dass die Menschen Ihnen im Schlaf die Kehle aufschlitzen«, knurrte ich warnend.
Mit einem kleinen, schiefen Grinsen ließ er schließlich meine Hand los und entblößte so einen einzelnen Reißzahn. Ich konnte nicht sagen, ob es eine Drohung oder ein Versprechen war, ob er Angst einflößen wollte oder auf etwas Körperliches hoffte.
»Heißt das, dass du vorhast, in mein Bett zu kommen, kleine Hexe?«
»Nur über meine Leiche«, zischte ich und drehte mich zum Fenster um.
Bäume säumten beide Seiten der Straße und wölbten sich über den Schotter, um ein Kronendach zu bilden. Nebel erfüllte die Wälder um uns herum, dehnte sich zum Himmel aus und legte eine unheimliche Aura über den Wald, der Crystal Hollow umgab.
»Dann muss ich wohl in deins kommen«, gab Thorne zurück und ich wandte den Blick vom Fenster ab, um ihn wieder wütend anzustarren. Die Arroganz in diesen stahlblauen Augen war alles, was ich fürchtete, und ich entschied, dass es nicht um eine Drohung oder eine Sünde ging.
Es war beides.
»Ich werde …«
»Nehmt euch doch bitte ein Zimmer!«, stöhnte die Frau auf dem Fahrersitz, während sie die kurvenreiche Straße entlangfuhr und die kleinsten Steigungen erklomm. »Ihr werdet euch besser fühlen, sobald ihr es miteinander getrieben habt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit der Schande leben könnte«, entgegnete ich und schenkte ihr ein zuckersüßes Lächeln.
Sie hob den Kopf und sah mich durch den Rückspiegel an, während sie grinste. »Probieren geht über Studieren, Kleines«, sagte sie und hob das Kinn. »Ich habe einen Freund …«
»Nein, danke«, sagte ich und schluckte die Welle der Übelkeit hinunter, die in meinem Bauch herumschwappte. Die Hüllen waren ein Symptom jener Krankheit, die ich zu hassen gelernt hatte, Körper, die geschaffen worden waren, um neben dem Coven zu existieren. Sie beherbergten etwas Schändliches und Finsteres.
Auch wenn ich wusste, dass ich das wahrscheinlich tun müsste, um zu erreichen, weswegen ich hierher gekommen war … Ich konnte es noch nicht ertragen.
Ich war noch nicht so weit.
»Ich wette, Kairos wäre mehr als willig, dir eine sanfte Einführung zu geben, sobald du bereit bist«, sagte sie und drehte das Lenkrad, um eine besonders harte Kurve zu nehmen.
Ich schluckte meinen Brechreiz hinunter und lehnte mich in meinem Sitz nach vorne. Der Gurt spannte sich, als ich meine Hände hob und sie von hinten auf die Schultern des Mannes legte. Er zuckte nicht einmal, als ich sie in Richtung seines Nackens bewegte und meine Finger sanft über seine Haut gleiten ließ. Er erschauderte bei der Berührung, bei der Wärme meines Körpers auf seiner kalten Haut.
Wenn er die kühle Herbstluft war, war ich die Wärme der tiefen Erde, die den Frost fernhielt. Es erinnerte mich an den Schlamm, aus dem er geformt worden war und der ihm als physische Gestalt ein Zuhause bot.
Ein leises, tiefes Knurren vibrierte durch das Auto und zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht, als ich meine Wange gegen seine Kopfstütze drückte. Ich spähte zu Thorne, der mit kalter Miene jede meiner Bewegungen beobachtete. Ich fixierte ihn und legte jedes Bisschen Herausforderung, das ich empfand, in meinen zornesfunkelnden Blick.
»Willst du mich vögeln, Kairos?«, fragte ich und beobachtete, wie Thornes Oberlippe zuckte.
Der andere Mann antwortete nicht, war still, so wie sein Körper, der sonderbar reglos blieb. Ich grub zwei Finger in seine Kehle, packte ihn leicht und hielt ihm so mein Fleisch direkt unter die Nase. Ich ließ Thorne nicht aus den Augen, als Kairos meine Hand ergriff und sie an seine Nase führte, als ob er meine Duftnote aufnahm.
Thornes Knurren brachte ihn dazu, mich so abrupt loszulassen, als hätte ich ihn verbrannt. »Das reicht«, befahl der Direktor und seufzte, als würde es ihn schmerzen zuzugeben, dass ich meinen Standpunkt klargemacht hatte.
»Ich bin die letzte der Madizza-Hexen, die ihr Blut für die Entstehung eurer Hüllen gegeben haben. Nicht nur, dass die Covenant erpicht darauf sein wird, mich mit einem Hexer ihrer Wahl zu paaren , sondern ich könnte mir auch einen von euresgleichen aussuchen, wenn ich wollte«, sagte ich und zog die Nase kraus, während ich mich zurücklehnte und den Mann mir gegenüber anfunkelte. »Sie wissen schon, rein zum Spaß . Also machen Sie sich keine Illusionen, dass ich Sie jemals wählen würde.«
»Das klingt nach einer Herausforderung, kleine Hexe«, sagte Thorne und grinste, als hätte er etwas gewonnen. »Ich freue mich schon darauf, dich daran zu erinnern, wie sehr ich dich hasse, wenn ich meinen Schwanz zwischen deinen Schenkeln vergrabe.«
Ich errötete und mein Mund blieb offen stehen, als ich um Worte rang. Thornes stahlblaue Augen brannten vor Kälte, als er mich musterte, und sein Lächeln wurde noch breiter, als ich nicht schnell genug antworten konnte.
»Ich hab’s gesagt«, kommentierte die Frau und ersparte mir damit eine Erwiderung. Ich richtete meinen Blick auf sie und versuchte, mein Herzklopfen zu unterdrücken. Es lief alles nach dem Plan, den mein Vater beschlossen hatte und der am ehesten zum Erfolg führen würde, also warum konnte ich das Grauen nicht unterdrücken, das sich in meinen Magen bohrte?
»Sind wir bald da?«, fragte ich stattdessen und schluckte, als ich noch einmal aus dem Fenster schaute.
Die Bäume schienen höher und bedrohlicher zu sein, je weiter wir uns von der Hauptstraße entfernten. Der Nebel schien sich auszubreiten, er wurde dichter und machte es schwieriger hindurchzusehen. Das Gestrüpp und das tote Laub auf dem Waldboden verschwanden darin und mir wurde klar, wie erschreckend der Wald ohne diese Dinge wirkte. Das war etwas, das mir so vertraut war, etwas, das ich brauchte, um mich verwurzelt zu fühlen.
Ich mochte es nicht, wenn ich die Erde unter meinen Füßen nicht sehen konnte.
»Hast du nichts zu sagen?«, fragte Thorne und ich machte mir nicht die Mühe, ihn anzusehen. Ich wusste genau, welchen Gesichtsausdruck ich entdecken würde, konnte ich doch den süffisanten Ton der Zufriedenheit in seiner Stimme hören.
»Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass Schweigen manchmal lauter ist als Worte. Wie ich sehe, ist das eine Lektion, die Sie in den Jahrhunderten, in denen Sie unsere Welt heimsuchen, nicht gelernt haben«, sagte ich und hielt meinen Blick auf die unnatürliche Reglosigkeit des Waldes gerichtet.
Es gab keine Vögel in den Bäumen und auch keine Eichhörnchen, die an den Stämmen hochkletterten, als die Frau langsam Kurve um Kurve nahm. Wir fuhren stetig bergauf, aber selbst wenn ich hinter mich spähte, konnte ich keine Bewegung in den Baumkronen ausmachen.
Ich richtete den Blick wieder aus dem Fenster und beobachtete den Nebel, der wogte und sich bewegte. Ein schwarzer Schemen schoss hindurch und erschien nur für einen kurzen Moment, bevor er wieder verschwand.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte ich und wandte mich mit überraschtem Blick wieder an Thorne.
»In diesen Wäldern leben weitaus schlimmere Kreaturen als Hexen. Du tust gut daran, dir das zu merken, wenn du auf die Idee kommst wegzulaufen«, antwortete er und ich versuchte, nicht an das riesige schwarze Ding zu denken oder die Augen, die kurz aufgeglüht hatten.
Was für eine Art von Tier war so groß?
Die Neigung des Hügels wurde steiler und bildete eine sich stetig windende Kurve, die immer weiter und weiter zu gehen schien. Sie erinnerte mich an die Auffahrt zur Interstate, als Mom und ich mit Ash in New York zum Aquarium gefahren waren. Ein ständiger Kreis, bei dem mein Magen mit der Kurve schlingerte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich ohne den Gurt über meiner Brust unfreiwillig auf Thorne zugerutscht wäre.
Als wir immer höher kletterten und die Spitze dessen erreichten, was ich für einen Hügel gehalten hatte, wurde mir klar, dass es sich in Wirklichkeit um eine Klippe handelte. Die Schule war aus der Felswand gehauen und ihre Rundbögen und Türme ragten in den Himmel. Sie war aus hellgrauem Stein gebaut, mit gewölbten Fenstern und Türen, die die gesamte Fassade des Gebäudes überzogen. Das Fenster über den Haupttüren war riesig, halb so hoch wie die ganze Schule, und die Fensterscheiben zeigten detailreich das Labyrinth der Hecate.
Meine Haut pochte beim Anblick des Symbols der Göttin, die uns alle erschaffen hatte. Die erste Hexe, die uns alle hervorgebracht hatte, indem sie ein Bündnis mit dem Teufel eingegangen war, das dazu führte, dass die Hexen ihm dienten.
Sie war die erste Totenbeschwörerin und die erste, die die anderen Clans des Coven herbeirief, damit jeder von ihnen Magie verliehen bekam. Die Gegebenheit, dass sie die erste Hexe war, bedeutete, dass sie und ihre Nachkommen die Einzigen sein würden, die Macht über die Toten haben würden, denn sie behielt diese Fähigkeit für sich selbst und ihre Linie.
Behielt sie für mich.
Das Auto kam vor dem Haupteingang zum Stehen und ich zögerte nicht, meine Tür aufzustoßen und mich vor die Schule zu stellen. Die Stufen, die zu den Türen führten, waren sechs an der Zahl. Sechs Stufen, sechs Türen und sechs Fenster drum herum. Ich drehte mich um, um auf die andere Seite des Wagens zu schauen, als die Hüllen ausstiegen, und mein Blick landete auf dem Gedenkstein mit Blick auf das Meer. Ich machte mich auf den Weg dorthin und wich Thorne aus, als er nach mir griff.
Es war eine einfache Granitplatte, in die die Namen der Toten eingemeißelt waren. »Das sind die Hexen, die bei dem Massaker umgekommen sind«, erklärte die weibliche Hülle mit ernster Stimme. »Man sagt, ihre Geister spuken immer noch in der Schule.«
Ich zwang mich, mir keine Gefühle anmerken zu lassen, als ich den Namen meiner Tante fand.
Loralei Hecate.
»Es ist eine Schande, dass hier nicht mehr Namen stehen«, sagte ich und verzog die Lippen zu einem finsteren Ausdruck. In gewisser Weise war es ein Gräuel, dass die Hüllen nur selten zusammen mit den Hexen getötet werden konnten und dass diejenigen, die den Coven verderbt hatten, nicht diejenigen waren, die sterben mussten.
Mein Hass saß tief, aber er war nicht ganz so tief.
Die Frau blinzelte mir zu, als ich mich von der Gedenkstätte abwandte, ohne anzudeuten, dass ich einen der Namen kannte. Niemand würde vermuten, dass ich mehr als nur eine vage Ahnung von den Ereignissen hatte oder dass ich eine persönliche Verbindung zu ihnen besaß.
Meine Mutter war nicht mit Loralei verwandt gewesen, und mein Vater, nun ja …
Er war nicht mein Vater, soweit der Coven wusste. Sie hatten keine Ahnung, dass mein Vater – einer aus ihrer Linie – existierte.
Soweit sie wussten, war die Hecate-Linie mit meiner Tante gestorben, und das sollte auch erst mal so bleiben.