10

Willow

Thorne erschien an meiner Seite und hakte sich bei mir unter, als ich auf die Türen zusteuerte.

»Kann jemand meine Sachen aus dem Haus meiner Mutter holen?«, fragte ich und versuchte, meinen Arm von ihm loszureißen.

»Brauchst du irgendetwas Bestimmtes?«, fragte er und ich spürte seinen Blick auf meiner Gesichtshälfte. Ich machte mir nicht die Mühe, ihn anzusehen, sondern gestikulierte mit der freien Hand zu den geschlossenen Türen.

Sie gingen langsam und knarrend auf, jede der sechs Türen teilte sich, um uns den Eingang unserer Wahl zu eröffnen. Es war vielleicht eine unnötige Vorführung von Magie, aber sie diente mir als Ermahnung.

Stein. Erde. Natur.

Das waren meine Elemente. Das waren die Dinge, für die ich eine Vorliebe besaß. Die Seelen, die in den Hüllen gefangen waren, interessierten mich nicht, zumindest soweit es die anderen wussten.

Genauso wenig wie der Friedhof, auf dem ich am Rande der Baumgrenze die Knochen der Toten pulsieren spürte. Wenn ich diesem Faden, diesem Instinkt folgte, würde es sich anfühlen, als tauchte ich unter Wasser. Als ob die Berührung die Fähigkeit voraussetzte, in den Tiefen des Ozeans zu atmen, aber ich hatte schon immer besser mit Land unter meinen Füßen funktioniert.

»Nein. Nur Klamotten«, sagte ich, denn ich wusste, dass sich mein Vater jetzt, da wir fort waren, in unser Haus schleichen würde. Er würde jeden Beweis dafür beseitigen, dass ich etwas anderes sein könnte als die Grüne, die ich vorgab zu sein.

Thorne ließ seinen Blick träge über mein Outfit wandern. »Du erhältst Kleidungsstücke, die für eine Grüne passend sind, und wirst die Farben deines Hauses im Unterricht tragen. Ich werde dafür sorgen, dass du auch für deine Freizeit eine entsprechende Garderobe bekommst.«

»Sollte dafür nicht der Covenant zuständig sein?«, fragte ich und ließ mich von ihm durch eine der offenen Türen führen. Eigentlich sorgte der Covenant für die Hexen – er kümmerte sich um ihre Bedürfnisse. Schüler und Lehrer standen verstreut im Eingangsbereich der Schule, als wir eintraten, und lehnten sich tuschelnd zueinander.

»Mögen Sie die Farbe Grün, Miss Madizza?«, fragte er. Es war nicht zu übersehen, wie sich die Energie veränderte, als mein Nachname seinen Mund verließ. Die Leute um mich herum unterbrachen ihre Gespräche und starrten mich an.

»War das wirklich nötig?«, fragte ich zähneknirschend und reckte das Kinn, um mich für die prüfenden Blicke der anderen zu wappnen.

»Es ist besser, den Geiern mit erhobenem Kopf und der nackten Wahrheit gegenüberzutreten, als zu versuchen, ein Geheimnis zu verbergen, das der Covenant Ihnen niemals erlauben wird zu bewahren. Was Sie wollen, wurde in dem Moment unwichtig, als Sie durch die Türen von Hollow’s Grove getreten sind«, erwiderte er förmlich und führte mich nach links.

Vor mir stützte ein Rundbogen den oberen Teil von zwei Treppenabsätzen, die sich zum Eingang hin wanden. Von diesem Bogen aus führten zwei weitere Treppensäulen in die oberen Stockwerke und erstreckten sich in ein spiralförmiges Labyrinth aus Etagen und Ebenen über mir. Alles war aus hellem, grauem Stein gefertigt, der das Licht reflektierte und gleichzeitig die Schatten anlockte.

»Der Covenant möchte Sie sofort sehen, Miss Madizza«, sagte ein junger Mann und trat auf uns zu. Er neigte leicht den Kopf, wie aus Respekt, den ich nicht verdient hatte, und hielt mir die Hand hin. Ich lächelte zögernd und versuchte, mein Unbehagen über diese Etikette zu verbergen, als ich ihm meine Hand entgegenstreckte.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Thorne und zerrte an dem Arm, den er immer noch festhielt.

»Ich bin mehr als fähig, sie zu begleiten«, entgegnete der andere Mann, aber er zog seine Hand zurück, als Thorne mich in Richtung des Gangs manövrierte.

»Sie würde dich zum Frühstück verspeisen, Iban«, antwortete Thorne und machte sich nicht die Mühe, einen Blick zurück auf den jungen Mann zu werfen, während er mich den Flur hinunterführte.

Ibans Schritte waren nicht annähernd so leise wie die der Hülle an meiner Seite, als er uns folgte. Der Stein in dem Gang vor uns war frisch poliert und schimmerte im Mondlicht, das durch die großen Bogenfenster zu beiden Seiten von uns fiel. Auf Thornes Seite konnte man durch sie hindurch die Auffahrt und das Denkmal vor der Schule sehen. Auf der anderen Seite erkannte ich einen Innenhof in der Mitte des Gebäudes. Es sah so aus, als ob er früher einmal ein Garten gewesen wäre, doch die Pflanzen darin blühten nicht mehr so, wie sie sollten.

Auch wenn die Madizzas nicht mehr in Crystal Hollow lebten, hätte Haus Bray seine Magie einsetzen müssen, um das Land zu pflegen, wenn es Hilfe gebraucht hätte. Das Spalier, das mit Rosenranken bedeckt sein sollte, war fast kahl, selbst die Dornen waren schwach und brüchig. Ich widerstand dem Drang, ihrem Ruf zu folgen, und ließ zu, dass Thorne mich den Gang hinunterführte, bis wir vor den legendären Türen der Tribunalräume standen.

Die Oberfläche war mit schwarzem Eisen bedeckt, das mit Gold durchzogen war, aus dem mechanische Vorrichtungen geformt waren. Ich konnte kaum durch die Lücken im Metall in den dahinter liegenden Eingangsraum sehen.

Iban trat neben mich, als ich die Hand hob, und blieb ruckartig stehen, als ich damit vor dem Schloss gestikulierte. Die Zahnräder fingen an sich zu bewegen, und setzten eine Reaktion in Gang. Die Riegel fuhren mit einem leisen Klicken zurück, und als der letzte aus dem Weg war, schwangen die Türen nach außen hin auf.

»Wie ich sehe, hat Ihnen Ihre Mutter mehr erzählt, als ich dachte«, kommentierte Thorne und zog mich nach vorne, als er in die Tribunalräume trat. Iban kam schweigend hinter uns her.

»Glücklicherweise wissen Sie nichts über meine Mutter«, gab ich zurück und ignorierte das Gewicht seines Blicks, der auf meinem Gesicht lastete. Hätte er sie gekannt, hätte sie ihr Bestes getan, um ihn in der Erde einzusperren. Sie hätte die Wurzeln der Bäume herbeigerufen, dass diese ihren Willen erfüllten. Sie hätte die Welt von ihm befreit, auf die einzige Weise, zu der sie in der Lage war.

In ihren Adern floss vielleicht nicht das Blut der Hecate-Linie, aber sie war die wildeste und mutigste Frau, die ich je kennengelernt hatte. Sie trug die Magie aller Madizzas in sich und beherrschte sie auf eine Art und Weise, die, wie ich jetzt verstand, ungeheure Kontrolle erforderte. Schon als wir durch den Eingang zum Tribunalraum gingen, spürte ich die Magie unter meiner Haut pulsieren. Sie zappelte und wand sich in mir, als hätte sie ein Eigenleben und wartete nur darauf, auf die Welt losgelassen zu werden.

Es kostete mich all meine Kraft, dass sie nicht wie ein Vulkan ausbrach und Gestein und Lava auf die Erde schleuderte. Meine Magie zu benutzen, fühlte sich mehr an, als würde ich nach Jahren des Erstickens einen winzigen Atemzug nehmen, statt dass ich mich bemühen musste, sie hervorzuholen. Sie war immer da gewesen.

Hatte immer gewartet.

Die Türen zum inneren Tribunalraum standen weit offen, und ich reckte das Kinn ein wenig höher, als ich einen Atemzug nahm. Die Luft füllte meine Lunge, der Duft des Steins umspülte mich und rief nach der Grünen Magie der Madizza-Linie. Ich folgte dem Ruf und spürte, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufstellten, als meine Magie aus dem kleinen Schlummer erwachte, in dem ich sie gehalten hatte.

Thorne versteifte sich an meiner Seite und das kleinste Zögern bei seinem nächsten Schritt machte mir klar, dass er es spürte. Ich drückte leicht seinen Arm und sah ihn aus den Augenwinkeln an. Seine stahlblauen Augen verdunkelten sich, als er die Regung abschüttelte und nach vorne schritt.

Ich musste mich dem Covenant stellen. Ich musste auf die ausgehöhlten Knochen jener Wesen starren, die das Leben meiner Mutter in solches Elend verwandelt hatten, dass sie aus dem einzigen Zuhause, das sie je gekannt hatte, floh. Doch wenn ich das schon tun musste, dann würde ich es zumindest mit Moms Magie auf meiner Haut tun.

Mit ihrem Tod erbte ich alles, bis mein Bruder erwachsen wurde und etwas davon auf ihn überging. Susannah Madizza mochte die größte Hexe ihrer Zeit gewesen sein, aber die Kraft, die sie dazu gemacht hatte, lag nicht mehr in ihren Händen.

Sie gehörte jetzt mir.

Wir traten durch die magische Barriere, die direkt vor dem Tribunalraum errichtet worden war. Die Barriere sollte das, was innerhalb dieser Wände gesprochen wurde, vor all jenen geheim halten, die sich in den Eingangsbereich geschlichen hatten. Sie war von einem Vertreter oder einer Vertreterin jedes der ursprünglichen Häuser geformt worden und sickerte in meine Brust, als ich hindurchschritt. Nur die Madizza- und Hecate-Linien fehlten, aber diese Barriere schien etwas in mir wahrzunehmen. Sie verharrte und hielt mich in der Mitte gefangen, während sie um mich herumwirbelte. Ich war mir vage bewusst, dass Thorne neben mir hindurchschritt und an meinem Arm zerrte, als ob er mich mit sich ziehen könnte.

Ich hielt seinen Blick, während ich die freie Hand hob und meine Handfläche gen Himmel drehte. Die schimmernde, durchscheinende Kraft der Barriere strömte über meine nackte Haut und glitt tief genug unter meine Nägel, um einen einzigen Blutstropfen hervorquellen zu lassen. Ich stieß ein erschrockenes Keuchen aus, als sich der Tropfen löste.

Rot schwebte inmitten der Barriere und vermischte sich mit dem schimmernden Nebel. Ein Blitz aus Licht zuckte, als sie meine Hand freigab und mich auf der anderen Seite ausspuckte. Ich fing mich beim nächsten stolpernden Schritt ab und schwankte nur kurz, als Thorne meinen Arm fester umklammerte und mir eine seltsame Art von Unterstützung bot.

Ich konnte dem Drang nicht widerstehen, mich gegen ihn zu lehnen, während ich meine freie Hand zu einer Faust ballte. Ich hoffte inständig, dass die Magie der Barriere keiner der Hexen, die mich gerade anstarrten, etwas preisgegeben hatte, was auch immer sie gespürt haben mochten. Thorne führte mich in die Mitte des Kreises, zwischen zwei Stühlen hindurch. Die Stühle waren mit den Symbolen des jeweiligen Hauses gekennzeichnet und die Hexe, die darauf saß, trug die Robe in der Farbe ihrer Magie.

Zwei der Stühle waren leer. Ein kurzer Blick auf den Hecate-Thron zeigte schwarzes Eisen, das an den Seiten zu kunstvoll verschnörkelten Spitzen aus Dunkelheit gearbeitet war. Ganz oben auf dem Thron ruhte mittig ein einzelner, aus Eisen geschmiedeter Schädel, von dem sich eine Wirbelsäule hinabzog und über der Rückenlehne waren Skelettarme drapiert.

Ich ließ den Blick nicht lang verweilen, sondern richtete ihn auf den anderen leeren Thron. Während Hecates Sitz in dem Tribunal aus der Dunkelheit selbst gefertigt worden war, bestand der Madizza-Thron aus Ranken, die sich noch bewegten. Sie waren dort lebendig, wo es unmöglich schien, und sprossen durch Risse im Fundament, um den Sitz meiner Vorfahren zu formen.

Oben auf dem Thron erblühte eine einzelne Rose zu neuem Leben, während ich zusah. War sie vorher nur eine verwelkte Hülle, entfalteten sich jetzt die Blütenblätter und die Farbe kehrte zurück. Rot mit einer Spur von Schwarz, als ob die Ränder vom Tod selbst befleckt wären. Diejenigen auf den Thronen um mich herum rutschten auf ihren Sitzen hin und her. Mit ihren Bewegungen lenkten sie meine Aufmerksamkeit zurück auf mich, ich musste mich auf meinen Selbstschutz konzentrieren. Jede dieser Personen hätte für die jahrelangen Qualen meiner Mutter verantwortlich sein können – sie hätten für die Umstände verantwortlich sein können, die zum Tod meiner Tante geführt hatten.

Sie waren weder meine Freunde noch waren sie Helden. Sie würden mich nicht retten, wenn der Covenant entschied, dass ich mehr Ärger verursachte, als ich wert war, denn in Hollow’s Grove gab es keine Helden.

Es gab nur Hexen, die das taten, was sie zum Überleben brauchten.

Der Hexer, der auf dem anderen Thron der Grünen – Haus Bray – saß, lehnte sich in seinem Sitz vor. Er wagte es, den kleinen Abstand zwischen uns zu tilgen, und erregte so aus dem Augenwinkel meine Aufmerksamkeit. Ich ging nicht das Risiko ein, ihn offen zu mustern, um keinerlei Schwäche erkennen zu lassen, speicherte ihn im Hinterkopf aber als große Bedrohung ab.

Wir blieben in der Mitte des Kreises stehen und erst jetzt richtete ich meinen Blick auf die beiden Gestalten, die auf dem kleinen Podest warteten. Die Umhänge, die ihre Gestalten verhüllten, waren schwarz, ein Affront gegen das Andenken der Hecate-Linie. Die Umrisse der beiden sahen beinahe identisch aus, denn darunter befanden sich nur noch Knochen. Sie besaßen nach Jahrhunderten eines Lebens nach dem Tod kein Fleisch mehr, mit dem sie ihre Skelette hätten ummanteln können, und alles, was sie zu Menschen gemacht hatte, war schon lange verschwunden.

Sie schlugen ihre Kapuzen zeitgleich zurück und enthüllten ihre skelettierten Gesichter. Susannah Madizza und George Collins saßen auf ihren vergoldeten Thronen, die Hälse gekrümmt, als einziges Anzeichen dafür, wie sie gestorben waren.

»Ich präsentiere dem Covenant Miss Willow Madizza«, sagte Thorne an meiner Seite. Ich spähte zu ihm und alles in mir erstarrte, als sich unsere Blicke trafen. Ich wusste genauso gut wie er, dass er mit einem einzigen Satz meine ganze Welt aus den Angeln heben konnte, indem er dem Covenant die Existenz eines weiteren Madizza-Hexers verriet. Er grinste und war sich der Macht bewusst, die er in diesen Momenten des Schweigens über mich hatte. »Die letzte ihres Geschlechts«, fügte er schließlich hinzu. Ich bemühte mich, nicht erleichtert aufzuseufzen, während ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Covenant auf dem Podium zuwandte.

Ich ließ nicht zu, dass mein Blickkontakt mit der Gestalt abbrach, wich nicht vor dem intensiven, augenlosen Starren meiner Vorfahrin zurück. Sie musterte mein Gesicht und suchte nach jeder Art von Information, die sie finden konnte, während ihre skelettartigen Finger die Armlehne des Throns umklammerten. Sie stemmte sich hoch und ging vorwärts, die Knochen ihrer Füße klickten mit einer Leichtigkeit über den Boden, die nicht hätte möglich sein sollen.

Ich hörte, wie jeder einzelne Knochen von der Ferse bis zum kleinsten Mittelfußknochen bei jedem Schritt auf die Steinfliesen traf. Ich weigerte mich, die Nervosität zu zeigen, die ich spürte, als ich neben Thorne stand. Ein Teil von mir wollte ihn zwingen, meinen Arm loszulassen, aber irgendetwas an dieser Berührung fühlte sich an, als würde sie mich erden.

Ich hasste ihn. Ich hasste seine Art mit jeder Faser meines Seins, aber er war berechenbar.

Bekannt.

Seine Beweggründe waren klar. Seine Absichten einfach.

Die uralte Hexe, die auf mich zukam, war hingegen ein Rätsel. Die Wirbel in ihrem Nacken knirschten, als sie den Schädel zur Seite neigte. Nur einen Atemzug entfernt von mir hielt sie an, sie überragte mich und starrte aus leeren Augenhöhlen zu mir herab.

»Du siehst deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich«, sagte sie, und die ersten Worte, die sie zu mir sprach, strichen missbilligend über meine Haut.

Sie fasste mit ihrer Skeletthand nach den Spitzen meiner Haare. Ich beobachtete aufmerksam, wie sie die Strähnen zwischen ihren Fingerknochen rollte, als ob sie sie fühlen könnte. Das Haar meiner Mutter war braun gewesen, die Farbe der Erde.

Genau wie das ihrer Mutter vor ihr.

Meines war in den Längen beinahe schwarz, mit roten Spitzen.

»Sie auch nicht«, sagte ich, wobei meine Stimme ruhig und lässig blieb. Eine der Hexen auf den Thronen im Raum keuchte auf und Thorne unterdrückte ein leises Lachen.

Aber der lippenlose Mund der Covenant verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Nein, vermutlich nicht, Kind«, sagte sie, ließ mein Haar fallen und verschränkte die Hände vor sich.

»Ich bin kein Kind«, erwiderte ich, auch wenn mir die Worte angesichts eines so unsterblichen Wesens wie Susannah sinnlos vorkamen.

»Wie mir scheint, bist du keines mehr. Wir wurden der Möglichkeit beraubt, dich kennenzulernen, als du noch ein Kind warst. Und meinem Schulleiter scheint es nicht entgangen zu sein, dass du als Frau zu uns gekommen bist«, sagte sie und blickte mit ihrem leeren unsterblichen Blick auf die Stelle, an der Thorne immer noch meinen Arm hielt. Es gab keine Bewegung in ihrem Gesicht, keine Veränderung in ihren Knochen, aber irgendwie konnte ich trotzdem spüren, wie sie seinetwegen die Augenbraue hochzog.

Hätte sie zumindest, wenn sie welche gehabt hätte.

»Ich bin nichts mehr als ihr Begleiter in ein unbekanntes Leben«, antwortete Thorne, die Worte kamen ihm mühelos über die Lippen. Hätte ich nicht all seine Absichten in mein Bett zu kommen mit eigenen Ohren gehört, hätte ich sie ihm vielleicht geglaubt.

»Gut. Denn meine Enkelin ist für Sie und Ihresgleichen tabu, Direktor Thorne«, sagte sie und griff nach vorne, um meinen Arm von seinem zu lösen. Er leistete keinen Widerstand, als sie mich zum Podium führte und kurz vor den beiden Thronen stehen blieb.

»Das ist nicht ganz richtig«, warf er plötzlich ein, und selbst ohne ihn anzusehen, hörte ich das Grinsen in seiner Stimme. Aber meine Mutter hatte mich gewarnt, dass meine Verführung geheim bleiben müsse – denn der Covenant verbot Beziehungen zwischen Hexen und Hüllen.

»Wir wissen beide, dass ich nicht von dieser bedauerlichen Ausnahme spreche.« Die Covenant grinste ihn höhnisch über meine Schulter hinweg an, machte den ersten Schritt und ließ mich los.

Sie kehrte zu ihrem Thron zurück, während ich dastand und das Schweigen den Raum durchdrang. Ich wollte nicht die Erste sein, die das Wort ergriff, wollte nicht zeigen, dass es mir unangenehm war, wie sie mich beobachteten.

»Es ist üblich, vor dem Covenant zu knien, wenn man ihm vorgestellt wird«, sagte eine der Hexen und zwang mich damit, meinen Blick auf sie zu richten. Ihre Stimme war nicht unfreundlich, so als würde sie verstehen, dass man mich über deren Gepflogenheiten nicht unterrichtet hatte. Ihr hübsches Gesicht war teilweise unter einem weißen Umhang und einer Kapuze verborgen, unter der eine Strähne amethystfarbenen Haars hervorlugte.

Ich lächelte, um meinen Worten etwas von ihrem Biss zu nehmen. »Sehe ich so aus, als würde ich mich um Ihre Bräuche kümmern?«

»Du wirst niederknien«, rief ein Hexer, der seinen grünen Umhang zurückschlug, um sein wütendes Gesicht zu enthüllen. Sein Thron war aus dem Holz einer Birke gefertigt und Blätter trieben aus, als er auf die Füße kam.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er drei schnelle Schritte auf mich zu machte, die Hand hatte er ausgestreckt, so als wolle er mich berühren.

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, warnte Thorne und trat einen Schritt nach vorne, während ich meinen Blick auf den Bray-Hexer richtete. Ich sprach keine Beschwörungsformel, zuckte nicht mal mit den Fingern.

Ich stieß lediglich einen winzigen Atemzug aus und das kleinste bisschen Magie strömte durch den Raum. Der Bray-Thron wuchs, die Äste schnappten nach vorne und schlangen sich um seine Brust.

»Bitte setzen Sie sich, Mr. Bray.«

Er blickte schockiert auf die Äste hinunter, sein Mund öffnete sich und er starrte mich mit finsterem Blick an. Im nächsten Moment schnellten sie zurück Richtung Thron und rissen ihn mit sich. Sie schlossen sich enger um ihn, als er sich wehrte, und hielten ihn fest auf seinem Platz. Die Brays stellten die andere Erblinie der Grünen Hexen und waren schon immer dazu bestimmt, meine Rückkehr mit einer gewissen Feindseligkeit zu betrachten.

»Du wurdest ausgebildet«, sagte der andere Covenant. Seine Stimme war tiefer als die von Susannah, ein einziges Überbleibsel jener Tatsache, dass er zu Lebzeiten ein Mann gewesen war.

Ich gab ihm keine Antwort, als ich meine Aufmerksamkeit auf ihn richtete, ließ ihn nur das Gewicht meiner Magie in der Luft spüren, bevor ich sie wieder zu mir zurücklenkte. Erst als Bray sich auf seinem Stuhl beruhigte, sprach ich. »Nur weil meine Mutter euch alle gehasst hat, heißt das nicht, dass sie gehasst hat, was sie war.«

»Eine Hexe ohne Coven zu sein, bedeutet, unnötig zu leiden. Wir sollten nicht allein auf dieser Welt weilen«, sagte George Collins und brachte mich damit zum Lachen.

»Sie war hier viel einsamer als jemals in ihrem Leben unter den Menschen und das will schon etwas heißen. Denn die Hälfte der Zeit hatte man sie gefürchtet. Wenigstens war sie dort mehr als nur Zuchtvieh«, fauchte ich, wohl wissend, welches Schicksal auf mich warten würde, wenn ich zu lange bliebe.

»Eine ganze Blutlinie zu retten, ist eine Ehre, die deine Mutter nie verstanden hat«, blaffte Susannah und umklammerte mit den Fingern die Armlehne ihres Throns. »Sie hätte es als höchste Ehre betrachten sollen, dass nach ihrem Tod der Platz im Tribunal von ihrer Tochter eingenommen würde. Sie hätte nur zulassen müssen, dass wir eine vorteilhafte Verbindung für sie arrangieren und sie dann ein geeignetes Kind gebärt.«

»Vorteilhaft für wen? Es war keine Ehre für sie, wenn sie davon überzeugt war, dass die Blutlinie aussterben muss«, antwortete ich und lächelte gelassen, als hätte ich nicht soeben eine schwerwiegende Beleidigung ausgesprochen. Sie war nicht gegen das Haus Madizza speziell gerichtet. Ganz Crystal Hollow war korrupt.

Sie alle verdienten den Tod.

»Ist sie immer so schwierig?«, fragte Susannah den Direktor. Sie kniff sich ins Nasenbein und seufzte bestürzt.

»Angesichts dessen, was ich mitbekommen habe, seit ich sie kennengelernt habe, verhält sie sich im Moment ziemlich kooperativ«, antwortete er mit einem kleinen Lachen.

Mit zornfunkelndem Blick wirbelte ich zu ihm herum, doch ich machte mir nicht die Mühe, gegen das Grinsen anzukämpfen, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich lachte zustimmend. »Betrachten Sie es als etwas, worauf Sie sich noch freuen können«, erklärte ich und drehte mich wieder zu der Covenant um, die irritiert aussah.

»Iban, würdest du bitte meine missratene Enkelin auf ihr Zimmer bringen?«, fragte sie, ignorierte Thornes Knurren, stand auf und verließ ihren Thron. »Versuch unterwegs nicht, über ihn herzufallen, Willow.«

Ich weigerte mich, Thorne anzusehen, um seine Reaktion zu beobachten, weigerte mich, aus dem Augenwinkel zu bemerken, wie sich seine Hand an seiner Seite zur Faust ballte. Ich ließ ihn in dem Glauben, dass mich seine lächerliche Eifersucht überhaupt nicht interessierte.

»Iiiih«, sagte ich und presste eine Hand auf meine Brust, während ich Ekel vortäuschte. »So etwas würde ich nie tun. Ihn lebendig zu begraben, ist viel mehr mein Stil.«

Der Bray-Hexer wurde blass, als ich ihn anlächelte, seine Wange tätschelte und mich dann auf den Weg aus dem Tribunalraum machte.

Der Wald schien ein guter Ort zu sein, um eine Leiche zu verstecken … oder auch zehn davon.