Willow
Ich schritt mit gesenktem Kopf vorwärts, während ich meinen Mitbewohnerinnen in einer Reihe folgte. Sie taten das Gleiche und zeigten den Respekt vor den Toten, als wir die Stufen zum Eingang von Hollow’s Grove hinunterstiegen. Die Sonne schien viel zu hell, als wir uns dem unteren Treppenabsatz näherten und uns auf die sechs Türen zubewegten, die weit geöffnet worden waren, damit wir alle auf den vorderen Rasen gelangen konnten.
Die Schlange reichte um die Ecke und wand sich bis zum hinteren Teil der Schule. Ich war nach dem Unterricht gelegentlich dorthin gegangen, wenn ich einen Moment für mich brauchte, und ich wusste, dass sich auf der Rückseite der Schule die Klippen mit Blick aufs Meer befanden. Doch bevor wir dorthin kamen, trennten die wuchernden Überreste eines ehemals wunderschönen, prächtigen Blumengartens die Schule von dem winzigen Stück Land, das für Beerdigungen vorgesehen war.
Nur die Grünen wurden in der Erde begraben, sodass ihre Körper ungehindert verwesen konnten und das Land sich zurückholen konnte, was ihm gehörte.
Ich gehörte nicht wirklich zu den Legatinnen und Legaten, da ich nicht unter ihnen aufgewachsen war, aber ich gehörte auch nicht zu den neuen Schülerinnen und Schülern. Crystal Hollow und ich teilten eine viel zu lange Vergangenheit, als dass ich jemals eine aufgeregte neue Schülerin mit offenem Blick auf jene Magie sein könnte, die ich gezwungen war, geheim zu halten. Dafür war ich viel zu zynisch und ich wusste, wie viele Knochen der Coven in den Kellern von Hollow’s Grove versteckt hielt.
Ich stand allein da, meine eigene Zukunft lag vor mir, nachdem die Aufgabe, die mir mein Vater übertragen hatte, erfüllt war. Wenn alles gesagt und getan war, würde ich Crystal Hollow verlassen und zu Ash zurückkehren.
Ich folgte Della über den Pfad; die Gärten an unseren Seiten waren verdorrt und welk. Hier war kein Leben zu finden und ich verstand nicht, warum niemand in der Schule das ungewöhnlich fand. Eine Hexe zu sein und sich nicht darum zu kümmern, dass die Welt um uns herum starb …
Das war mir unbegreiflich.
Wenn meine Magie vollständig wiederhergestellt war, würde ich herkommen und ein weiteres Opfer bringen. Das konnte ich nicht so schnell – nicht, wenn ich wusste, dass der Garten mir wieder alles nehmen würde. Beim letzten Mal hatte ich getaumelt, als ich mich vom Boden erhob, nachdem die Ranken mich endlich losgelassen hatten.
Vermutlich würde ich gar nicht mehr aufstehen, wenn ich versuchte, den Garten wieder zu heilen. Die Pflanzen waren dermaßen ausgehungert, dass sie wahrscheinlich nicht mehr aufhören würden, wenn sie einmal angefangen hatten.
Della schloss sich dem Kreis an, der das frisch ausgehobene Grab umgab. Die Hexen von Hollow’s Grove standen als Barriere aufgereiht zwischen dem Grab und dem Rest der Schule. Die Hüllen hielten sich im Hintergrund, sie waren gekommen, um der zu früh verstorbenen Schülerin die letzte Ehre zu erweisen. Doch sie blieben weit genug weg, um uns die Möglichkeit zu geben, selbst zu trauern.
Ohne es zu wollen, suchte ich nach Gray und ließ meinen Blick über die Hüllen schweifen, die alle so ähnlich gekleidet waren. Ob es nun vor oder nach der Auslöschung der Hecate-Linie geschehen war – sie hatten die Farbe Schwarz zu ihrer eigenen gemacht. Die meisten trugen tagein, tagaus Anzüge, aber auch diejenigen, die eher legere schwarze Kleidung bevorzugten, hatten sich für diesen Anlass herausgeputzt.
Ich entdeckte ihn und mein Körper wurde starr, als ich seinen Blick auf mir spürte. Die Hitze, die mich erfüllte, war unanständig und ließ mich unruhig mit den Füßen scharren, als ich mich an das Gefühl seines Mundes auf meinem und seiner Hand zwischen meinen Beinen erinnerte. Den Großteil der Nacht hatte ich nach Erlösung gesucht, verzweifelt versucht, sie ohne ihn zu finden und gebetet, dass sein Zwang nicht funktionierte.
Das Einzige, was ich geschafft hatte, war, mich selbst anzufachen und unter die kalte Dusche zu springen, um meine überhitzte Haut zu kühlen. Ich wollte ihn erdrosseln, ihm die Kehle herausreißen, weil er mich so verlassen hatte.
Jetzt wollte ich ihn einfach bloß vögeln, denn mit seinem glühenden Blick auf meinem Gesicht wich jeglicher Hass aus mir. Meine Schenkel rieben aneinander, als ich mich wieder bewegte, und da wurde mir klar, was ich da tat. Ich suchte Reibung, suchte Berührung.
Und das auf einer verdammten Beerdigung.
Ich schüttelte den Kopf und riss mich von den Gedanken los, als sich mein Blick zu einem Zornesfunkeln verdichtete. Er lachte leise, seine Lippen hoben sich, als er wegschaute. Ich sah zu der Hexe, die beerdigt werden sollte, dann zu dem Covenant, der daneben stand. Beim Anblick des Sarges – dieser Holzkiste, die sie von der Erde abschottete, die sie so dringend brauchte – blieb mir der Mund offen stehen.
»Warum ist sie in einem Sarg?«, flüsterte ich und sah zu Della neben mir.
Sie drehte langsam den Kopf und sah mich an. Ihre Stirn legte sich verwirrt in Falten und ein besorgtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Was meinst du damit, warum sie in einem Sarg ist? Worin sonst sollte sie denn liegen?«
»Grüne sollten in der Erde begraben werden. Nicht in einer Kiste«, argumentierte ich und mein Blick fiel auf den Covenant, der auf sie wartete. George bemerkte meinen Blick und biss die Kiefer zusammen, als er mein Entsetzen wahrnahm.
»Oh, sie war keine Grüne. Quincy war eine Weiße«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern, als ob das eine Erklärung wäre. Mein Entsetzen wuchs und mein Blick zuckte zu der Kiste, in der eine Weiße Hexe lag. Sie hätte auf einem Bett aus geheiligten Steinen aufgebahrt werden müssen, damit diese sie wieder in die Quelle aufnehmen konnten.
»Das ist falsch«, flüsterte ich und bemerkte, dass Margot und die anderen mich besorgt ansahen.
Ich ignorierte sie. Ich machte einen Schritt nach vorne und bereitete mich darauf vor, auf den Covenant zuzugehen. Ich bezweifelte aufrichtig, dass sie meine Einmischung zu schätzen wussten, aber ich konnte nicht einfach dastehen und nichts tun. Ich konnte nicht zusehen, wie sie eine Hexe von ihrer Magie und ihren Vorfahren trennten.
Eine Hand packte mich am Ellbogen und zog mich zurück. Mein Körper schien genau zu erkennen, wer es gewagt hatte, mich zu berühren, und ich erstarrte an Ort und Stelle, als ich dorthin blickte, wo er noch vor einem Moment gestanden hatte. Gray war nicht mehr da, und als ich mich umdrehte, starrten mich seine stahlblauen Augen warnend an.
»Nicht jetzt, kleine Hexe«, sagte er mit leiser Stimme und zog mich zurück.
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, versuchte, nicht zuzulassen, dass mein Körper ohne nachzudenken reagierte. Es war, als wüsste er, dass er der Einzige war, der mir jetzt Vergnügen bereiten konnte, und ich wollte mich an ihn drücken und wie eine Katze an ihm reiben.
Verräterisches Miststück.
»Das ist falsch«, sagte ich und wiederholte meine Worte von vorhin.
»Das mag sein, aber wenn man Veränderung will, besteht ein Teil davon darin, zu wissen, wann man handeln und wann man schweigen muss. Du kannst die alten Wege nicht wiederherstellen, wenn du Susannah so sehr verärgerst, dass sie dich zum Schweigen bringen will. Sie braucht dich vielleicht lebend. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie dich nicht leiden lassen wird, um dich auf Spur zu halten«, knurrte er mir seine Warnung ins Ohr.
Ich war mir vage bewusst, wie die Augen des Covenant auf uns gerichtet waren und er unseren Austausch beobachtete, als wäre es nicht normal, dass sich diese beiden Arten im Tageslicht begegneten.
Der Schutz der Dunkelheit verbarg normalerweise diese gestohlenen Momente.
»Du kannst nicht erwarten, dass ich zulasse, dass sie ihre Seele der Verdammnis anheimgeben«, flüsterte ich und mein Herz brach in meiner Brust. Quincy würde nicht in der Lage sein, sich mit der Quelle und ihren Vorfahren zu verbinden, musste ein christliches Begräbnis und ein Leben nach dem Tod ertragen …
»Wende dich unter vier Augen an den Covenant, wenn du unbedingt musst, aber sei nicht so töricht, ihn öffentlich herauszufordern«, gab Gray zurück. Sogar ich erkannte die Logik in seinen Worten, doch meine Unterlippe zitterte bei dem Gedanken an das, was ich würde tun müssen.
Eine weitere Narbe, ein weiterer Fleck auf meiner Seele. Sie mochte auch schon lange vor meiner Geburt an den Teufel verkauft worden sein, aber das bedeutete nicht, dass ich das noch obendrauf bekommen musste.
»Ich kann das nicht tun«, sagte ich und schüttelte den Kopf, während Tränen in meinen Augen brannten.
»Du hast mir aufgetragen, dich zu beschützen. Also lass mich das tun«, sagte er und ließ meinen Arm los. Seine Hand glitt über den Stoff meines dunkelgrünen Blazers und seine Finger fädelten sich zwischen meine, bis er meine Hand hielt. Ich starrte schockiert darauf hinunter, weil wir auf irgendeine Art zusammenpassten.
Außer meiner Mutter und meinem Bruder hatte noch nie jemand meine Hand gehalten. Ich blinzelte die Tränen zurück, als ich mich an Ashs kleine Hand erinnerte, die meine umklammert hatte, als wir vor nicht allzu langer Zeit in den Sarg unserer Mutter gestarrt hatten. Ich schluckte mein Bedürfnis zu sprechen hinunter. Sowohl die Knochen als auch einen Weg zu finden, um zu dem Bruder zurückzukehren, den ich mehr als alles andere vermisste, musste meine Priorität sein – auch wenn ich Quincys Seele für den Rest meines Lebens auf dem Gewissen haben würde.
Mein Blick wanderte über seinen Oberkörper und seine Brust zurück zu seinen Augen, wo er meinen Blick auffing. Die Beerdigung begann, als George zu sprechen ansetzte und die Elemente beschwor, die dem Coven schon lange den Rücken gekehrt hatten. Ich hoffte, dass sie seinen Ruf ignorierten, hoffte, dass er gedemütigt wurde für das, was er der Weißen Hexe antun würde, die gegen ihre Natur beerdigt werden sollte.
Sie erhörten Georges Ruf dennoch, aber für die Stärksten unter uns war die leichte Brise, die mir ins Gesicht wehte, blanker Hohn dessen, was hätte sein sollen.
Die Kräfte, die Charlotte dem Covenant verliehen hatte, welkten mit dem Rest von ihnen dahin. Was also hatten sie sich erhofft, als sie sich von unseren Wegen abwandten?
Ein paar der Grauen hoben ihren Sarg in die Luft und ließen ihn in das Erdloch sinken, das ihr unfreiwilliges Grab werden sollte. Ihr Gefängnis im Jenseits.
Ich schloss die Augen und schwor mir, einen Weg zu finden, um es wiedergutzumachen. Ich würde sie befreien, sobald ich konnte. Ich blickte mich auf dem Friedhof um und betrachtete jeden Grabstein mit neuem Entsetzen, das in mir hochkroch.
Ich würde sie alle befreien.