27

Willow

Als er aus dem Raum eilte, löste er meine Arme von dem Haken; seine Bewegungen waren viel zu schnell, damit er seine Identität den neuen Regeln entsprechend geheim halten konnte. Ich fiel auf die Knie, als ich hörte, wie die Tür hinter ihm leise zuschlug. Alles in mir sackte unter meinem Gewicht zusammen, der Blutverlust traf mich auf eine Weise, die mir viel plagender vorkam, als wenn ich mich der Erde um mich herum freiwillig hingab.

Denn im Gegenzug kümmerten sich die Pflanzen wenigstens um mich. Sie halfen mir, selbst wenn ich alles gab, was ich hatte. Die Hülle, die mir alles genommen hatte, hatte nicht innegehalten, mich dann verlassen und sich achtlos aus dem Raum zurückgezogen.

Ich hob die zitternden Hände an mein Gesicht, die Schellen um meine Handgelenke klirrten, als ich die Stoffbinde von meinen Augen zog. Sie glitt dabei über meine Nase und berührte meinen Mund, als ich sie bis zu meinem Hals herunterzog. Ich öffnete die Augen und musste gegen das schwache Licht im Raum anblinzeln. Die Haut meiner Wangen fühlte sich gespannt an, das deutliche Gefühl von getrockneten Tränen brachte mich dazu, mich aufzurappeln.

Der Schatten einer Seele zog an mir vorbei, während ich darum kämpfte aufzustehen, wobei ich meine gefesselten Hände als Stütze benutzte, als meine Beine nicht mitspielen wollten. Sie zitterten unter mir, als ich mich zwang, mich gerade hinzustellen, und wackelten dann unbeständig hin und her.

Die Erschöpfung des Schlafs war nur einen Atemzug entfernt und zog mich an die Grenze zwischen Leben und Tod. Der Schleier war am dünnsten, wenn ich so an der Schwelle zum Tod schwebte wie jetzt. Noch eine Minute mehr, in der er sich von mir genährt hatte, und ich wäre vielleicht auf die andere Seite gewechselt.

Ich stolperte zum Schrank und zu dem silber glänzenden Schlüssel, den Della außer Reichweite auf das Regal gelegt hatte. Mit einem Seufzer der Erleichterung griff ich ihn endlich, setzte ihn im richtigen Winkel an und schloss auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich warten sollte, bis jemand kam und mich befreite, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich mich noch einen Moment länger wie eine Gefangene in meinem eigenen Körper fühlte.

Ich machte mich auf den Weg zu meiner Kommode, schüttelte die Handschellen ab und ließ sie zu Boden fallen. Ich suchte nach den Andenken, die ich aus dem Haus meiner Mutter mitgebracht hatte, denn ich brauchte die getrockneten Blumen, damit die Wunden an meinem Hals keine Narben bildeten. Er war brutal gewesen, grausamer als nötig, aber das bestätigte nur alles, was ich bereits über die Hüllen wusste.

Sie hassten die Hexen ebenso inbrünstig wie die Hexen im Gegenzug sie.

Mein Hals fühlte sich wie eine klaffende Wunde an, deren Brennen mich durch die seltsame Schwere quälte, die mit dem Druck der Toten kam, die darauf warteten, nach mir zu greifen und mich mit sich zu nehmen.

Ich stolperte um die Ecke meines Bettes, stieß gegen die Kante und fluchte über den blauen Fleck, der sich unvermeidlich an der Außenseite meines Knies bilden würde. Ein ersticktes Wimmern entwich mir, als ich fiel und mich gerade noch auf der Matratze abfangen konnte und weich landete.

Ich stützte den Kopf in die Hände und vermisste Ash mehr denn je. Ich konnte es fast vor mir sehen, wie er nach einer harten Trainingseinheit in mein Zimmer kam und mir die notwendigen Heilkräuter brachte, damit ich den Schaden heilte, den mein Vater mir zugefügt hatte.

Seine braunen Augen hätten warm und mitfühlend dreingeblickt, verständnisvoll, obwohl er nichts von dem wusste, was an meinen freien Wochenenden passiert war. Ich kniff die Augen zusammen, richtete mich wieder auf und ignorierte das Schwanken meines Körpers und den Schwindelanfall, der mich in die Tiefe zu ziehen drohte. Die Last der Dunkelheit, die aus dem Badezimmer drang, ließ mich in die entgegengesetzte Richtung herumwirbeln. Ich suchte nach dem Licht, das mir vorenthalten worden war.

Ich würde heute Nacht mit Licht schlafen, damit ich, wenn ich aus den unvermeidlichen Albträumen erwachte, wusste, dass ich nicht schon wieder unter der Erde lag.

»Reiß dich zusammen«, flüsterte ich zu mir und griff mit zitternden Händen nach dem Knauf der Kommodenschublade. Ich zog sie ganz auf und holte das Foto von Ash und mir heraus, das ganz vorn lag.

Er war in Sicherheit. Alles andere war unwichtig.

Ich stellte es auf die Kommode und schaute in die Schublade, um das Glas mit den Trockenblumen zu suchen. Als ich sie nicht fand, griff ich hinein und tauchte meine Hand in die Dunkelheit, nur um mich an etwas Gezacktem in den Finger zu schneiden.

Ich verzog das Gesicht und schlang die Finger um den Griff von etwas Unbekanntem. Ich zog es langsam aus der Schublade und starrte auf die Rückseite eines Handspiegels. In das Silber waren verschlungene Ranken geschnitzt, ein feines Detail, das das Weiß des menschlichen Knochens umgab. Ich sah mich plötzlich im Zimmer um, verblüfft davon, dass jemand einen Spiegel aus Knochen in meinem Zimmer versteckt hatte.

Die Botschaft entging mir nicht und meine Hand zitterte, als ich ihn umdrehte. Auf dem Glas des Spiegels war eine Person zu sehen, die mit der Zeit verblichen war. Ich konnte die Gesichtszüge nicht erkennen, nur die Länge der Haare und die Form des Gesichts verrieten mir, dass dort einmal eine Person hineingeschnitzt gewesen war. Fingerknochen umgaben die spiegelnde Oberfläche, ordentlich in einem Kreis angeordnet.

Ich spürte die Toten, die sich an den Spiegel klammerten, spürte ihr Flüstern auf meiner Haut. Ich atmete zitternd aus und hob den Spiegel an, um ihn noch einmal zu betrachten. Ich prägte ihn mir ein und wusste, dass ich ihn niemals wieder in die Hand nehmen würde. Nicht mit der Art und Weise, wie er auf meiner Haut zu summen schien und diese Seite meiner Magie unverkennbar an die Oberfläche drängte.

Ich hob ihn an, um mein Spiegelbild zu betrachten, erschrocken über die Wunde an meinem Hals, aber auch noch nicht bereit, ins Badezimmer zu gehen. Die Dunkelheit dort war zu ausgeprägt, als dass ich es riskieren konnte, mich zu nähern. Die Wunde an meinem Hals war roh, zornig und zerrissen, und ich hob erschrocken die Hand, um sie zu berühren.

Als ich das tat, bewegte sich etwas hinter mir. Entsetzt beobachtete ich, wie die Gestalt einer Frau sichtbar wurde. Ihr halbes Gesicht und ihr halber Körper waren verschwunden, sodass nur noch die Knochen ihres Schädels und das Skelett auf dieser Seite das Ausmaß ihres Verfalls zeigten. Die andere Seite war unverändert, als hätte die Zeit sie nicht berührt, abgesehen von der Durchsichtigkeit, die alle Geister aufwiesen. Ich wusste mit einem einzigen Blick, wer sie war, und dass die blassvioletten Augen, die mich anstarrten, nur zu einer Hecate-Hexe gehören konnten. Wir sahen alle ähnlich aus, aber etwas in ihrer stählernen Entschlossenheit sagte mir, dass sie der Ursprung war.

»Du bist nicht echt«, sagte ich und wiederholte das Mantra, mit dem ich schon viele Schrecken überstanden hatte, nachdem meine Kraft zum ersten Mal erwacht war und die Knochen zu rufen begonnen hatten. Das Entsetzen, das ich in den ersten Momenten empfunden hatte, als ich sah, wie die Toten nach mir griffen, war unvorstellbar. Mir war nichts anderes übrig geblieben, als die Augen zu schließen und so zu tun, als gäbe es sie nicht. Sie konnten mich nicht berühren, nicht bis ich die Knochen hatte.

Ich schloss die Augen und beteuerte mir selbst, dass sie weg sein würde, wenn ich sie wieder aufmachte. Ich zählte meine bebenden Atemzüge, die ich ebenso langsam ein- wie ausatmete.

Der kalte Druck der Knochen schabte über die Haut meines Handgelenks und legte sich um meinen Handrücken, während ich meine Augen noch fester zusammenpresste.

Die Haut ihrer anderen Hand berührte meine Schulter, und ihre Kälte drang in mich ein, so wie es bei meiner Mutter gewesen war. Ich hatte geglaubt, dass sie mich berühren konnte, weil sie eben meine Mutter gewesen war, aber ich zwang mich, gleichmäßiger zu atmen, als Charlotte sich gegen meinen Rücken lehnte.

Wenn sie mich hätte verletzen wollen, dann hätte sie es getan.

»Öffne deine Augen«, murmelte sie und ihre Stimme wurde leiser, als würde sie vom Wind fortgetragen. Ich zwang mich, die Lider aufzuschlagen und nahm den Anblick ihres fleischbedeckten Gesichts wahr, als sie sich über meine Schulter beugte. Ihre Wange strich an meiner entlang und die Ähnlichkeit zwischen uns war frappierend. Ihr violettes Auge war wie meines, ihr Haar hatte den gleichen Farbton und die gleiche Schattierung. Ihr Mund war zu einem grimmigen Ausdruck verzogen, der dem meinen glich – so sehr, dass es war, als würde ich in einen Spiegel schauen. Sie drehte ihren Kopf zu mir, als ob sie wieder sprechen wollte, und packte meine Hand fest, als ich den Spiegel loslassen wollte.

»Apage!« , befahl ich, das Wort zerplatzte zwischen uns. Die Spannung im Raum intensivierte sich und ein Luftzug wehte mir die Haare von den Schultern. Ihre Hand gab meine frei und ich konnte den Spiegel endlich fallen lassen, während sie verschwand.

Er fiel vor meinen Füßen zu Boden und zersplitterte in winzige Glasscherben, die den Boden übersäten. Ich atmete tief ein und starrte entsetzt auf das unbezahlbare Artefakt, das ich in meiner Angst zerbrochen hatte. Ich drehte mich um, um ein getragenes Shirt zu holen und den Spiegel aufzuheben, und trat so vorsichtig wie möglich über die Scherben.

Mein Wäschekorb stand auf der anderen Seite des Zimmers, was mich dazu zwang, dem Gegenstand den Rücken zuzukehren. Vermutlich würde mich das Ding in dieser Nacht in mehr als einem meiner Träume verfolgen.

Glas klirrte hinter mir, als ich einen Schritt machte, und ich zwang mich, mich langsam umzudrehen und zurückzuschauen. Das Glas glitt über den Boden, ordnete sich auf der Oberfläche des Spiegels an und setzte sich wieder zusammen. Dunkelheit umhüllte den Spiegel und wirbelte ihn für einen kurzen Moment herum.

Als der Nebel verblasste, war der Spiegel wieder heil.