In London blühten schon die Krokusse in Parks und vor Denkmälern.1 Der 8. März 1973 war ein Donnerstag, ein kristallklarer frischer Vorfrühlingsmorgen. Nach dem nassen englischen Winter ließen sich die Menschen von der Sonne nach draußen locken. Die Queen trat in den Garten des Buckingham-Palasts und begutachtete die ersten Blüten. Die Bahnarbeiter streikten, es fuhren keine Züge, viele Pendler mussten mit dem Auto in die Stadt und verstopften jetzt das Londoner Zentrum.2 Die Stadtverwaltung hatte für einen Tag die Parkverbote aufgehoben, um den Ansturm zu bewältigen. Jetzt standen überall Autos — in Lieferzonen, in Halteverbotsbereichen, neben längst abgelaufenen Parkuhren.
Kurz nach der Mittagspause gegen 14 Uhr klingelte bei der Londoner Times das Telefon.3 Elizabeth Curtis hatte gerade ihre Schicht am Newsdesk angetreten und nahm ab. Der Mann sprach sehr schnell und mit starkem irischem Akzent. Die junge Frau verstand erst nichts, bis ihr klar wurde, dass es um verschiedene Autos ging und er deren Standorte durchgab. Das Gespräch dauerte nur gut eine Minute, und sie schrieb mit, was sie bei aller Verwirrtheit verstehen konnte. Bevor der Mann auflegte, sagte er noch: »In einer Stunde gehen die Bomben hoch.«
Martin Huckerby war an dem Tag Chef vom Dienst in der Nachrichtenredaktion.4 Er hörte, wie Curtis ihrem Kollegen Daten zu den Bombenautos diktierte. Das nächste stand am Old Bailey, dem zentralen Londoner Strafgericht, nur einen Katzensprung von der Times entfernt. Huckerby stürzte aus der Redaktion. Es sollte ein grüner Ford Cortina Estate mit dem Kennzeichen YNS 649K sein, wenn Curtis richtig mitgeschrieben hatte.5 Um 14 Uhr lief Huckerby los, ein paar Minuten später stand er vor dem Old Bailey. Der monumentale Gerichtshof war um die Jahrhundertwende erbaut worden und Schauplatz vieler berühmter Prozesse. Auf den massiven Mauern thronte eine mächtige Kuppel, und darauf stand eine bronzene Justitia mit ausgestreckten Armen und hielt Schwert und Waage.
Rund um das Gebäude parkten Dutzende Autos. Huckerby machte sich auf die Suche. Er wurde schnell fündig: Direkt vor dem Old Bailey stand ein grüner Cortina Estate mit dem Kennzeichen YFN 469K, er war sicher, das musste er sein.6 Er sah durch die Scheibe und erkannte ein Paar schwarze Handschuhe und eine Spraydose auf dem Boden. Er wartete eine gefühlte Ewigkeit auf die Polizei. Endlich, um 14 Uhr 33, erschienen zwei Uniformierte und inspizierten den Cortina. Dann evakuierten sie die Menschen in der Umgebung und sperrten die Straße ab.7 Huckerby ging in einer Haustür gut zwanzig Meter entfernt vom Cortina in Deckung und wartete.8
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Die Idee, die Anschläge nach England zu verlagern, stammte zumindest teilweise von Dolours Price. Bisher hatte die IRA Hunderte von Bomben in Einkaufszentren überall in Nordirland gezündet. Mit Erfolg, was den Zweck, die Wirtschaft lahmzulegen, betraf. Allerdings auch mit erheblichen Kollateralschäden. Für Zivilisten, Katholiken wie Protestanten, machten die ständigen Bombenanschläge in Nordirland ein normales Leben fast unmöglich: Man ging in einen Laden, wollte ein Dutzend Eier kaufen und musste plötzlich um sein Leben rennen. Selbst wenn die IRA keine zivilen Opfer wollte — es gab sie, sehr viele sogar, und zwar gleichermaßen katholische wie protestantische. Der Bloody Friday war nur besonders katastrophal gewesen, aber kein einmaliger Ausrutscher — auch die unzähligen kleineren Bombenanschläge forderten Tote und Verletzte und ließen die Sympathien gemäßigter irischer Nationalisten für eine Strategie der Gewalt schrumpfen. Und was das Schlimmste war: Den Blutzoll dafür zahlten vor allem Nordiren — auf das eigentliche Ziel, die Briten, schien sie kaum Auswirkungen zu haben. Die englische Öffentlichkeit jenseits der Irischen See schien nur vage mitzubekommen, wie Nordirland in die Katastrophe sank.9 Es war das Musterbeispiel des strategischen Wahnsinns: In der irrigen Annahme, den Engländern zu schaden, jagten die Iren ihre eigenen Leute in die Luft, und die Engländer merkten kaum etwas davon. Dolours Price war besorgt. »Das ist auch halb deren Krieg«, erklärte sie Wee Pat McClure, dem Chef der Unbekannten, wenn sie zwischen zwei Einsätzen in einem Call House zusammensaßen. »Unser Krieg ist das nur zur Hälfte.10 Die andere Hälfte ist ihrer, sie sollten auch ein bisschen was auf ihrem Territorium abkriegen.« Ihrer Überzeugung nach hätte »ein kurzer heftiger Schock — ein Angriff aufs Herz des Empires — mehr Wirkung als zwanzig Autobomben irgendwo in Nordirland«.11
Sie trug Seán Mac Stíofáin die Idee vor, er fand sie gut, und Price entwarf gemeinsam mit McClure und Gerry Adams erste Pläne für Brandbombenoperationen in London.12 Die Bomben wurden in Nordirland gebaut, von einem Team junger Frauen im Flugzeug nach London geschmuggelt und sollten in Kaufhäusern auf der Oxford Street deponiert werden. Aber in letzter Minute stellte sich heraus, dass aus den Behältern Säure gelaufen war.13 Sie waren unbrauchbar. Price, die schon in London war, blies die Aktion ab, ging zum Themseufer und versenkte behutsam eine defekte Bombe nach der anderen.
Da Brandbomben nicht funktionierten, beschlossen sie, es mit Autobomben zu versuchen.14 Die Planung übernahm die Belfast Brigade, und als sie so weit war, ein Team zu rekrutieren, wurden Volunteers aus verschiedenen Einheiten in einem Call House in den Lower Falls zusammengetrommelt.15 Gerry Adams erläuterte, dass es um einen sehr gefährlichen Einsatz gehe.16 Wer sich dafür melde, dürfe eine Weile nicht nach Hause kommen. Dolours Price saß auf Adams Stuhllehne, während er redete. Die Gruppe war relativ groß, Adams gab aus Sicherheitsgründen nur wenige Details preis und blieb vage, unterstrich aber, dass jeder, der mitmache, darauf gefasst sein müsse, die volle Wucht der Staatsgewalt abzukriegen.17 »Das kann ein Höllenritt werden«, sagte er.18 »Wer lieber nicht mitwill, steht jetzt am besten auf und geht.« Und zwar durch die Hintertür, einzeln alle zehn Minuten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.19
Price fand Adams melodramatisch. Den Schnörkel mit dem Zehn-Minuten-Abstand hatte er, vermutete sie, aus einem Buch über Michael Collins.20 Wie auch immer, einige standen auf und eilten raus. »Ihr müsst mich nicht gleich umrennen, Jungs«, sagte sie trocken.21
Als der kleine Exodus beendet war, blieben ungefähr zehn Volunteers übrig, unter anderem Hugh Feeney, der zwanzigjährige, studierte Brillenträger, Dolours’ Freund und Genosse bei den Unbekannten.22 Er wurde der Quartiermeister der Operation, also verantwortlich für das Geld, und mit einer dicken Rolle Fünf-Pfund-Scheine ausgerüstet. Auch Gerry Kelly war dabei, ein gut aussehender junger Mann aus den Lower Falls, den Price zum ersten Mal sah.23 Kelly hatte wegen Bankraub eingesessen und war seit seiner Flucht aus dem Gefängnis untergetaucht.24 Price fand ihn einen tollen Typen.25 Und natürlich war Marian dabei. Marian war immer dabei.
Sie waren alle sehr jung.26 Im Grunde Kids. Der Älteste der Crew, William Armstrong, ein Fensterputzer mit nach hinten gestriegelten Haaren, war neunundzwanzig. Die Jüngste, Roisin McNearney mit den großen Augen, war achtzehn. Sie war Tippse gewesen, bevor sie sich vor sechs Monaten den Provos angeschlossen hatte.27 Sie wohnte noch bei ihren Eltern.28
Wee Pat, der Chef der Unbekannten, wollte intelligente Leute für die Operation.29 Deshalb übertrug er Dolours Price die Leitung.30 Sie war, wie sie selbst sagte, »Kommandochef von dem ganzen Kram«. Ihr direkt unterstellt waren zwei Leutnants — Hugh Feeney und Marian Price. Niemand der Rekruten hatte Erfahrungen mit Einsätzen hinter den feindlichen Linien, also schickte Wee Pat sie erst mal in die Republik zur Intensivausbildung an Sprengstoff und Zeitschaltern.31 32
In der IRA war Bombenbauen eine riskante Sache und ganz und gar keine exakte Wissenschaft, wie Aunt Bridie bezeugen konnte. Auch Brendan Hughes erzählte gern die Geschichte, wie sein Urgroßvater im Unabhängigkeitskrieg eine Handgranate auf einen Panzerwagen werfen wollte und die vorher detonierte und ihm den Arm abriss.33 Aber in den letzten Jahren hatten die Provos jede Trainingschance genutzt und waren entschieden besser im Bombenbauen geworden. Nicht dass IRA-Volunteers sich nicht mehr selbst in die Luft jagten, Pannen kamen auch weiter vor. Aber solche Pannen funktionierten, wie ein Schriftsteller anmerkte, praktisch als »gruselige Form der ›natürlichen Auslese‹«, bei der inkompetente Bombenbastler eben ausgemerzt wurden.34 Was wiederum die Überlebenden vorsichtiger machte und den Provos allmählich ein paar legendäre Bombenbauer verschaffte. Sie verfassten auch ein Handbuch für angehende Explosivspezialisten, fünfzig Seiten mit Bildern und Anleitungen für improvisierte Sprengfallen aus den verschiedensten Alltagsdingen — Kerzenwachs, Wäscheklammern, Bierdosen für Nagelbomben, Strohhalme als Lunten.35
Autobomben wurden 1972 zum ersten Mal eingesetzt und bewirkten eine entsetzliche Eskalation des Nordirlandkonflikts. Bis dahin waren Sprengstoffmengen immer nur so groß, wie ein paar Paramilitärs transportieren konnten. Aber in einem Auto ließ sich eine Bombe mit einer massiven Ladung verstecken, das Ganze einfach zum Zielort fahren, und dann ging man einfach weg. Autos waren die perfekte Camouflage, im Gegensatz zu Koffern oder Plastiktüten, die in einem vollen Laden abgestellt wurden und womöglich auffielen, denn Autos waren allgegenwärtig.36 »Eine Autobombe war gleichzeitig der effiziente Behälter und das effiziente Transportmittel«, schrieb Seán Mac Stíofáin 1975, »sie verursachte entschieden mehr administrative, industrielle und ökonomische Schäden bei Operationen. Und man brauchte weniger Volunteers, um sie am Zielort zu platzieren.« In den Straßen von Belfast löste allein ein leeres, unbewachtes Auto irgendwo genug Schrecken aus, um Menschen in die Flucht zu treiben und die Behörden auf den Plan zu rufen, egal, ob in dem Auto wirklich eine Bombe war.37
Im Februar wurden in Belfast sechs Autos bei bewaffneten Überfällen gestohlen und in die Republik gefahren.38 Anfang März tauchten sie in Dublin wieder auf, umgespritzt und mit gefälschten Kennzeichen.39 Vier davon gingen am Ende auf die Reise nach England: ein Ford Corsair, ein Hillman Hunter, ein Vauxhall Viva und ebenjener grüne Ford Cortina.40 In jedem Auto steckte steckte ein sorgfältig verborgener Mammut-Sprengsatz, über fünfzig Kilo Sprengpulver in Plastiktüten, dazu je eine Stange Gelignit.41 Die Ladung befand sich jeweils unter dem Rücksitz, eine lange Zündschnur führte bis unter den Beifahrersitz zu einem Kästchen mit dem Zeitzünder, einem handelsüblichen Wecker.
Dolours Price war etwa einen Monat vor dem Anschlag gemeinsam mit einem Teammitglied zum Auskundschaften nach London gereist.42 Martin Brady war muskulös, hatte bauschige Augenbrauen, früher in einem Restaurant im West End gearbeitet und kannte sich gut in der Stadt aus. Die Unbekannten hatten die Ziele selbst ausgesucht und der Führung in Belfast zur Genehmigung vorgeschlagen.43 Die Orte waren mit Bedacht gewählt, wie Gerry Kelly später erklärte, »um bestimmte politische Fragen zu provozieren«.44 An Katastrophenmeldungen aus Nordirland war die britische Öffentlichkeit vielleicht gewöhnt, aber eine Bombenserie mitten in London wäre etwas ganz anderes. Auch das Datum war nicht zufällig gewählt. Am selben Tag sollte Nordirland per Referendum entscheiden, ob es weiter zum Vereinigten Königreich gehören wollte. Die Botschaft, so empfand es Kelly, war, »die kolonialistische Realität zurück nach England zu bringen«.45
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Am 5. März teilte sich die Gruppe auf. Das erste Team unter Hugh Feeney brachte den Cortina und den Viva mit der Fähre Dublin—Liverpool über die Irische See. Das zweite Team unter Marian Price folgte einen Tag später mit dem Corsair und dem Hillman Hunter. Als die Fähre in Liverpool angelegt hatte und die Autos durch den Zoll mussten, wurde der Hunter rausgewunken.46 Offenbar gab es ein Problem mit dem Kennzeichen.47 Martin Brady saß am Steuer, Roisin McNearney auf dem Rücksitz.48 Die Zollbeamten hatten sie anscheinend im Verdacht, ein Auto aus dem Ausland, also der Republik Irland, ohne Einfuhrsteuer ins Vereinigte Königreich zu bringen.49 Während des Gesprächs rutschte Roisin McNearney auf dem Rücksitz herum und wurde immer nervöser.50 Sie sagte, sie müsse dringend auf die Toilette, und stieg aus.
Als sie ein paar Minuten später wiederkam, wurde der Beamte, der Brady ausgefragt hatte, zu einem Lkw gerufen, der einen Stau verursachte.51 Die jungen IRA-Mitglieder rührten sich nicht vom Fleck, sie wussten nicht, was der Zollbeamte machen würde, wenn er zurückkam. Inzwischen hielten sie aber selbst den Verkehr auf, und ein anderer Zollbeamter winkte sie ungeduldig durch. Eigentlich hatten auch die beiden übrigen Autos mit der Fähre nachkommen sollen, also insgesamt sechs Bomben, aber nach dem Schreck beim Zoll meldete das Team nach Irland, dass die beiden letzten Autos nicht losgeschickt werden sollten, weil die Behörden einen Tipp bekommen haben könnten.52
Dolours Price, die Teamchefin, kam nicht mit der Fähre. Sie flog unter falschem Namen, als Una Devlin, von Dublin aus.53 Am Mittwoch, dem 7. März, war die gesamte Gruppe in London eingetroffen, hatte die Autos mit der brisanten Fracht in Parkhäusern untergestellt und in verschiedenen Hotels eingecheckt.54
Der Plan war schlicht. Die Autos sollten früh am nächsten Morgen an vier Stellen in der Innenstadt gefahren werden: zu einem Musterungszentrum der britischen Armee in Whitehall, zum Militärsender British Forces Broadcasting Service (BFBS) in der Dean Stanley Street, zum New Scotland Yard und zum Old Bailey. Dann sollte die telefonische Vorwarnung rausgehen.55 Eingedenk der vielen Toten und Verletzten am Bloody Sunday lautete der strikte Befehl, zivile Opfer zu vermeiden.56 Die Warnanrufe sollten kurz vor 14 Uhr erfolgen, die Explosionen exakt eine Stunde später per Zeitzünder. Price und die anderen wären dann längst wieder in Irland — per Flugzeug am späten Vormittag von Heathrow nach Dublin.
Nachdem alle am Mittwoch ihre Hotels bezogen hatten, erkundeten ein paar Teammitglieder noch einmal die vier Standorte. »Ihr kennt euch nicht«, schärfte Price ihnen ein, »wenn ihr euch auf der Straße begegnet, habt ihr euch nie gesehen.«57 Und, mit Nachdruck: »Alkohol kommt nicht infrage.« Sie trommelte die Gruppe vor Sonnenuntergang im Säulengang der Nationalgalerie am Trafalgar Square zusammen, besprach die letzten Einzelheiten und verteilte die Flugtickets für den Tag danach.58
Den Rest des Abends hatten alle frei. Man würde denken, wer einen konzertierten terroristischen Anschlag auf eine Großstadt vorhat, verbringt die letzten Stunden am Abend davor vermutlich mit bangen Vorbereitungen. Nicht so Price und ihre Landsleute — sie schienen gespenstisch losgelöst von aller Schwerkraft und den möglichen Folgen der Tat, die sie bald begehen würden, vielleicht weil sie so jung waren oder so fast wahnhaft berauscht davon, das Richtige zu tun. Außerdem war das hier London und alles viel größer und freizügiger als bei ihnen zu Hause. London war das Herz des Empires, sicher, aber auch unbestreitbar ein Ort, um sich zu amüsieren. Und so zogen die jungen Terroristen los zum Sightseeing.59 Roisin McNearney fuhr zum Buckingham-Palast. Ein paar der Männer pfiffen auf Price’ Ermahnung und betranken sich, einer war so voll, dass er aus dem Pub getragen werden musste.60
Die kultiviertere Dolours Price ging mit Marian ins Theater. Auch Hugh Feeney kam später nach, er hatte die Autobomben lieber noch ein letztes Mal überprüft. Am Abend vor einem Bombenanschlag ins Theater zu gehen, empfand niemand von ihnen als unpassend. Feeney fand es sogar gut, denn falls morgen irgendetwas schiefginge, würden sie eine ganze Weile kein gutes Theater mehr zu sehen kriegen.61 Zufällig lief im Royal Court Theatre gerade The Freedom of the City, ein neues Stück des irischen Dramatikers Brian Friel.62 Albert Finney führte Regie, die Story war fiktiv, aber hochaktuell, und sie ging Dolours Price vermutlich sehr nahe: Bei einer Demo in Derry flüchten drei Bürgerrechtler vor Tränengas und Gummigeschossen in die Guildhall — just in den Saal, in dem Ian Paisley und Major Bunting ihre Anhänger am Abend vor dem Überfall auf die Demonstranten an der Burntollet Bridge aufgehetzt hatten. Alles kreist um ein Missverständnis. Die friedlichen Protestierer suchen einfach Schutz in der Guildhall, aber die Presse und die britische Armee draußen halten sie für bewaffnete Terroristen, die die Guildhall besetzen wollen. Das Stück war in Teilen inspiriert vom Bloody Sunday, den Brian Friel selbst miterlebt hatte. Es handelte von Hysterisierung, Mythologisierung und Missverständnissen und wie all das aus einer friedlichen Bürgerrechtsbewegung in Nordirland einen gewalttätigen Flächenbrand gemacht hatte.63 Die drei Demonstranten sind am Ende tot, erschossen von britischen Soldaten. Es gibt ein Tribunal, und am Ende werden die Schüsse für rechtens erklärt, auch das ein Echo auf die Vertuschungen nach dem Bloody Sunday.
Heikler Stoff für das Londoner Publikum, das nur spärlich gekommen und auffallend unruhig war.64 Stephen Rea, einer der drei Hauptdarsteller, beschrieb später: Das Stück sei vom Londoner Publikum »mit eisiger Ignoranz« aufgenommen worden.65 Rea stammte selbst aus Belfast und war inzwischen ein aufgehender Stern am Royal Court Theatre, ein umwerfender junger Mann mit sanften Zügen, neugierigen Augen und einer schwarzen Haarmähne, die immer aussah, als hätte er eben noch darauf geschlafen. Rea und Dolours kannten sich aus der Bürgerrechtsbewegung Ende der 1960er, er hatte auf der Queen’s University studiert.66 Als sie zu den Provos ging und er erst in Dublin und Edinburgh, später beim Royal Court Theatre in London zum gefeierten Schauspieler wurde, verloren sie sich aus den Augen. Und jetzt war sie hier, kurz davor, London zu bombardieren, sah diesem verwegenen, intelligenten, faszinierenden jungen Mann zu, und der spielte einen Bürgerrechtler, der irrtümlich für einen IRA-Mann gehalten wird.
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Die Bombenleger ließen sich vor Sonnenaufgang telefonisch wecken. Sie standen auf, zogen sich an und checkten aus. Dann holten sie die Autos und fuhren sie an Ort und Stelle, noch gab es freie Parkplätze.67 Für Autobomber war der Streik bei den Verkehrsbetrieben geradezu ideal: Die Polizei achtete nicht auf Fahrzeuge, die sie normalerweise abschleppte, die Parkverbote waren ausgesetzt. Alle vier Autos konnten am Zielort abgestellt werden: der Hillman vor dem Musterungszentrum, der Corsair vor New Scotland Yard, der Vauxhall vor dem BFBS und der Cortina vor dem Old Bailey.68 Um 7 Uhr 30 waren alle Bomben platziert, die Zeitzünder auf 14 Uhr 50 eingestellt.69 Um kurz nach 10 Uhr saß der größte Teil des Teams im Bus von der Cromwell Street nach Heathrow, zum Abflug um 11 Uhr 20 nach Dublin.70 (Die Price-Schwestern und Feeney waren auf eine etwas spätere Maschine gebucht.)
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Auch die Beamten der Londoner Metropolitan Police waren an diesem Tag früh aufgestanden.71 Um sieben Uhr, genau als die Bombenleger die Autos in Position brachten, wurde die Special Patrol Group in der Polizeiwache Cannon Row in Westminster über einen bevorstehenden IRA-Anschlag informiert.72 Die Beamten erhielten Anweisung, auszuschwärmen und nach verdächtigen Fahrzeugen Ausschau zu halten, und zwar vor allem in der Nähe von staatlichen Gebäuden, den wahrscheinlichen Zielen.73 Der Streik verkomplizierte die Sache, denn ausgerechnet jetzt, wo sie möglichst wenig Verkehr im Londoner Zentrum brauchen konnten, strömten massenhaft Autos nach London herein.74 Am späten Vormittag fiel ein paar uniformierten Polizisten auf Streife um New Scotland Yard herum ein grünen Corsair ohne Steuerplakette auf. Beim genauen Hinsehen stellten sie fest, dass das Nummernschild von 1971 stammte, der Wagen aber Baujahr 1968 war. Sie entdeckten noch etwas Ungewöhnliches: Das Nummernschild hatte vier Bohrlöcher, normal sind aber nur zwei.75 Beim Blick durch die Scheiben bemerkten die Constables ein dünnes weißes Kabel, das sich teilweise unter der Fußmatte verborgen vom Vordersitz nach hinten schlängelte.76
Ein Entschärferteam wurde alarmiert. Die Bombenexperten fanden fast hundert Kilo Sprengstoff unter der Rückbank.77 Laut Schätzung der Ermittler »eine ungeheuer massive Monsterbombe«.78 Der ganze Corsair roch nach Sprengstoff, und die Zeitschaltuhr tickte hörbar in ihrem Kästchen.79 Einer der Entschärfer sah hoch. In allen Gebäuden ringsum standen Leute am Fenster und beobachteten die Arbeiten unten. »Schafft die Vollidioten von den Fenstern weg!«, brüllte er.80 Ein anderer nahm das Kabel und hielt es fest, während sein Kollege es behutsam durchtrennte.81
Nichts explodierte. Sie hatten die Bombe entschärft.82 Anhand des Stundenzeigers auf dem Wecker vermuteten die Ermittler, dass die Detonation etwa um drei Uhr passieren sollte, genauer ließ es sich nicht sagen, denn der Minutenzeiger war entfernt worden.83 84 Sofort waren zwei Dinge klar: Erstens, falls weitere Bomben in der Stadt versteckt waren, mussten sie vor drei Uhr gefunden werden. Und zweitens, die lange Zündschnur legte nahe, dass die Bombenleger das Land noch vor der Explosion verlassen wollten. An allen Fähr- und Flughäfen wurden die Special-Branch-Beamten alarmiert: ENGLAND DICHTMACHEN.85 Alle Ausgänge sperren. Alle Iren, die aussehen, als ob sie wegwollen, vernehmen.
Gefragt, wie die Polizei es geschafft hatte, den Bombenlegern zuvorzukommen, erklärten die britischen Behörden später, es sei einfach ein Wahnsinnsglück gewesen.86 In der Presse wurde allerdings spekuliert, die Londoner Polizei sei vorab informiert gewesen, dass ein Anschlag bevorstand und es nicht nur um eine Bombe ging.87 Die Price-Schwestern waren zeitlebens überzeugt, dass die Operation von einem Informanten verraten worden war.88 Ebenso Hugh Feeney, der später erklärte: »Wir sind verpfiffen worden.«89
Sie hatten recht. Jahrzehnte nach dem Bombeneinsatz gab ein pensionierter Beamter der Special Branch zu, vierzehn Stunden vor dem Zündzeitpunkt einen Tipp bekommen zu haben, und zwar von einem hochrangigen Mitglied der Provisionals.90 Er hatte vorab erfahren, dass nicht sechs, sondern vier Bomben hochgehen sollten und dass zum Team ein junger Provo namens Gerry Kelly und »zwei Schwestern namens Price« gehörten.
Aber als die Polizei das Londoner Zentrum nach den anderen drei Bomben durchkämmte, war es ein einziger verstopfter Riesenparkplatz. Die Beamten suchten fieberhaft nach verdächtigen Fahrzeugen, hatten aber nicht mal eine ungefähre Ahnung, wo sie standen, und fanden auch keins.91 Die Bomben konnten buchstäblich überall sein. Kurz vor zwei Uhr ging der Warnanruf mit der Beschreibung der Autos und den Positionen bei der Times ein. Und selbst danach sorgten polizeiinterne Kommunikationsstörungen dafür, dass die Beamten nur mit Verzögerung an die drei anderen Standorte gelangten. Times-Reporter Huckerby war mehr als zwanzig Minuten vor der Polizei an dem Cortina, und weitere kostbare Minuten vergingen, bis die Bombenentschärfer am Old Bailey eintrafen und die Constables anfingen, die Gebäude ringsum zu evakuieren.92
Im Old Bailey wurden an diesem Tag mehrere Strafsachen verhandelt: In einem Saal stand ein Drogenprozess kurz vor dem Abschluss, in einem anderem sprach der Richter gerade zu den Geschworenen in einem Mordprozess.93 Plötzlich stürmte jemand herein und sagte, alle müssten raus — vor dem Gebäude werde gleich eine Bombe hochgehen.94 Das George, ein Pub genau gegenüber, war voller Leute, die ihr Nachmittagsbier nahmen, als jemand hereinplatzte und schrie, draußen sei eine Bombe. Ein paar Gäste gingen einfach weg von der Tür und drängelten sich ins Hinterzimmer.95 Andere sahen hinaus in den heiteren sonnigen Tag, fanden, das könne nur ein Fehlalarm sein, und rührten sich nicht vom Fleck.96 Schwere Bombenangriffe hatte London seit dem deutschen Blitz vor dreißig Jahren nicht mehr erlebt. Niemand schien sich so etwas vorstellen zu können. Ein paar Gaffer drückten sich die Nasen am Fenster platt und sahen den Entschärfern zu, die versuchten, die Bombe unschädlich zu machen.97 Erfolglos. Und vorn im Wagen tickte der Wecker. Drei Uhr rückte näher und näher, die Polizei hatte die Umgebung noch immer nicht vollständig geräumt, und plötzlich rollte ein Schulbus heran, gut vierzig Meter von dem Cortina entfernt, mit neunundvierzig Kindern auf Schulausflug zur St. Paul’s Cathedral.98 99 Sie stiegen gerade aus, während der Zeiger in Richtung drei zuckte.100
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Als die BBC meldete, dass eine Bombe entdeckt und entschärft worden war, saßen die meisten Bombenleger im Bus nach Heathrow. Sie hatten kein Radio gehört, sie kamen am Flughafen an und ahnten nicht, dass nach ihnen gefahndet wurde.101 Nach allem, was sie wussten, lief die Operation nach Plan, gleich würden sie unbemerkt zurück nach Irland fliegen. Sie gingen zum Gate 4 im Terminal 1 und zeigten die Tickets vor: British European Airways nach Dublin, Abflug 11 Uhr 20.102 Ein paar saßen schon auf ihren Plätzen, als Polizisten ins Flugzeug kamen und alle Insassen zum Aussteigen aufforderten.103
Dolours, Marian und Hugh Feeney waren auf die Air-Lingus-Maschine um 12 Uhr 30 gebucht.104 Sie sollten erst in Heathrow eintreffen, wenn der Rest des Teams schon in der Luft wäre. Aber als sie ins Terminal kamen, warteten dort Beamte der Special Branch.105 »Fliegen Sie nach Dublin?«, fragte einer. »Würden Sie bitte mitkommen?«106
Sie wurden festgenommen und zur Vernehmung in einen Warteraum gebracht. Für so etwas hatte niemand von ihnen irgendeine halbwegs plausible Story parat, dem Plan nach hätte das ganze Team außer Landes sein sollen, bevor irgendeine Bombe entdeckt würde.107 Ein paar der Volunteers behaupteten, sie seien auf Arbeitssuche in London gewesen.108 Andere, sie seien in der Belgrave Road gewesen und hätten sich betrunken (was immerhin ein paar Körnchen Wahrheit enthielt).109 Alle gaben falsche Namen an — Dolours blieb bei Una Devlin — und stritten ab, sich zu kennen.110 Auf Fragen nach den Bomben reagierten sie mit mürrischem Schweigen. (Die Polizei erfuhr erst später, dass einer aus dem Team, der elfte Bombenleger, fehlte.111 Er war entwischt, bevor die anderen auf dem Flughafen festgenommen wurden, und in London untergetaucht. Er wurde weder je identifiziert noch gar geschnappt.)
»Ich habe nicht vor, Ihnen irgendetwas zu sagen«, teilte Marian Price einem höheren Beamten bei der Vernehmung mit. »Sie haben nicht das Recht, mich hier festzuhalten.«112 Sie machte dicht und verweigerte jede Aussage. Inzwischen war es nach zwei Uhr, die Polizisten wussten, dass ihnen die Zeit davonlief. Sie drängten Marian zu sagen, wo die anderen Bomben waren, aber Marian schwieg. Sie trug eine Kette und schob sich während der Vernehmung immer wieder das Medaillon in den Mund und kaute ängstlich darauf herum. Plötzlich kam der Chief Inspector auf die Idee, dass in dem Medaillon Gift sein könnte, eine Zyankalikapsel zum Beispiel.113 Er riss ihr die Kette ab, aber es war nur ein Kruzifix drin. Er wurde immer gereizter, nannte sie eine »böse kleine Irre« und drohte, sie werde eine ganze Weile keine Sonne mehr sehen.114
Aber Marian Price schwieg. Alle Bombenleger benahmen sich roboterhaft, fast wie in Trance.115 Die Detectives überlegten, ob sie vielleicht darauf trainiert waren, Verhören standzuhalten. Sie fixierten den Blick auf irgendetwas, starrten einfach wie hypnotisiert darauf und sagten kein Wort.116 Dann, um kurz vor drei, nahm Marian plötzlich das Handgelenk hoch und sah demonstrativ auf die Armbanduhr.117
Mit unterdrücktem Zorn fragte der Chief Inspector: »Darf ich dem entnehmen, dass die Zeit für die anderen Bomben soeben abgelaufen ist?«
Marian Price lächelte nur.
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In Whitehall schlenderten die Menschen im schönen Wetter von der Mittagspause zurück, als endlich der Hillman Hunter vor dem Musterungszentrum entdeckt wurde. Die Polizisten stürmten los und evakuierten die umstehenden Gebäude. Nur noch fünf Minuten bis zur Detonation.118 Ein Beamter des Royal Army Ordnance Corps schlug eine Scheibe ein, stieg in den Wagen und wollte sich an die Entschärfung machen. Aber die Zeit war zu kurz. Er stieg wieder aus, angelte das Zündkabel zwischen Bombe und Wecker mit einem Haken an einer langen Schnur, brachte sich hinter einer Hausecke in Deckung und fing an zu ziehen. Der Widerstand war erheblich, er bat den Sergeant neben sich um Hilfe. Just als sie gemeinsam zogen, rückte der Zeiger des Weckers auf die eingestellte Zeit.119
Der Hillman wurde von einer dreißig Meter hoch aufschießenden Feuerwand zerrissen und flog auseinander.120 Es gab einen dumpfen Rums und ein Nachbeben, das die Menschen in der Umgebung vom Bürgersteig fegte.121 Im Umkreis von vierhundert Metern barsten Büro- und Ladenfenster.122 Die Wucht der Explosion riss Polizisten die Helme vom Kopf, winzige Glas- und Metallsplitter schossen in alle Richtungen.123
Explosion einer der Londoner Bomben
Über der Straße stieg eine pilzförmige Rußwolke hoch, zwischen den Gebäuden waberte beißender Rauch.124 Eine Gashauptleitung riss, spuckte noch mehr Rauch aus und geriet in Brand.125 Feuerwehrleute zogen ihre Löschschläuche durch das Schlachtfeld. Menschen taumelten benommen herum, übersät mit Schnittwunden.126 Dutzende Autos lagen ausgebrannt und umgekippt da wie zerknülltes Papier.127
Der Explosionsknall hallte im gesamten Londoner Zentrum wider. Die Polizei hatte gerade noch geschafft, die dritte Bombe zu finden und zu entschärfen, im Vauxhall Viva vor dem Sender des BFBS auf der Dean Stanley Street.128 Aber als das Auto vor dem Old Bailey endlich identifiziert werden konnte, war es zu spät. Ein Polizist lief zu dem Schulbus und rief den gerade ausgestiegenen Kindern zu, sie sollten um ihr Leben rennen.129 Sie liefen schreiend und brüllend los und um die nächste Ecke.130
Ein Polizeifotograf wurde über die Straße geschleudert, als er Aufnahmen vom Cortina machen wollte.131 Die Detonation war gewaltig. Sie riss die Fassade vom George Pub weg, der Schankraum lag offen da wie eine Puppenstube.132 Ein Polizist, der gerade Geschworene aus dem Old Bailey evakuierte, flog sechs Meter durch die Luft.133 Ein anderer wurde mitsamt seinem Fahrrad gegen eine Wand geschleudert, der Explosionsdruck riss ihm die Uniform weg.134 Martin Huckerby, der Times-Journalist, kam ins St. Bartholomew’s Hospital, mit Schnittwunden im Gesicht und an den Händen.135 Menschen torkelten mit blutverschmierten Gesichtern durch den Rauch und versuchten wegzukommen oder anderen zu helfen.136 Aber es war kaum etwas zu sehen, alles rings um die Explosion herum war von einer dichten heißen Staubwolke verschluckt.137 Die Schulkinder hatten sich in Sicherheit bringen können, aber überall auf den Bürgersteigen lagen Verletzte.138 Und eine dicke Schicht aus Glasscherben knirschte bei jedem Schritt wie Sand am Strand.139
In Nordirland mochten derartige Szenen inzwischen Alltag sein, für London bedeuteten sie einen tiefen Einschnitt.140 Wer alt genug dafür war, erinnerte sich sofort an den Blitz. Die beiden wirklich hochgegangenen Bomben verletzten fast 250 Menschen, die Rettungswagen rasten hin und her, um sie zu versorgen.141 Zu allem Unglück streikten in dieser Woche nicht nur die Verkehrsbetriebe, sondern auch die nicht ärztlichen Mitarbeiter der Bezirkskrankenhäuser. Aber letztere verließen sofort die Streikposten, als sich die Notaufnahmen mit blutenden Patienten füllten, und halfen mit.142 Auch Frederick Milton,der achtundfünfzigjährige Hausmeister im Hillgate House neben dem Old Bailey, war blutüberströmt, wollte aber nicht ins Krankenhaus, sondern bestand darauf, anderen Verletzten zu helfen.143 Ein paar Stunden später brach er mit einem Herzinfarkt zusammen und starb im Krankenhaus.144
Laut der anschließenden Obduktion hatte der Infarkt schon vor der Explosion eingesetzt, es gab also keine medizinische Begründung für eine Mordanklage.145 Dolours Price schob die Schuld für die Opfer den britischen Behörden zu, sie hätten nach den Warnanrufen zu langsam reagiert, um die Bomben zu orten und zu entschärfen und die Bevölkerung zu warnen.146 Andere im Bomberteam sahen es auch so.147 Das war eindeutig eine bequeme Ausrede und moralisch gesehen ausgesprochen unredlich. De facto hatte Price allerdings nicht ganz unrecht.148 Die Polizei selbst räumte im Nachgang »menschliches Versagen« ein, die Meldung über die Bombe am Old Bailey war im Lagezentrum verstümmelt worden, und das hatte die Reaktion erheblich verzögert.
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Ein britischer Staatsanwalt spekulierte später, der Anschlag habe Menschen töten sollen und die IRA habe die Telefonwarnung nicht zufällig erst abgesetzt, nachdem die Bande im Flughafen festgenommen worden war. Seiner Meinung nach waren die Warnanrufe nur aus schlichtem Eigennutz erfolgt, als Versuch in letzter Minute, das erwartbare Strafmaß zu verringern, denn da habe die IRA bereits von der Festnahme ihrer Genossen gewusst.149 Doch wie immer herzlos und inkompetent die Bombenleger sein mochten, es ist eher unwahrscheinlich, dass der Zweck ihres London-Trips ein Massenmord war. »Wenn es darum ging, in London Menschen zu töten, also in London Menschen zu töten, Zivilisten zu töten, das wäre ganz einfach gewesen«, sagte Brendan Hughes später. Die Londoner Operation sollte ein symbolträchtiger, im Idealfall unblutiger Angriff sein, wie der Bloody Friday. Aber massive Sprengsätze lassen keinen Raum für glückliche Fügungen, der Plan war aus dem Ruder gelaufen, mit verheerenden Folgen. Für Brendan Hughes waren die menschlichen Verluste nicht das Wichtigste. Ihn trieb vor allem um, dass er die Bombenleger nicht in England »begraben« — also vor Ort, in und um London herum, hatte untertauchen lassen, um sie, sobald die Hysterie abklingen würde, einzeln oder zu zweit nach Hause zu holen.150 Die IRA hatte sie so schnell wie möglich rausholen wollen, und dieser Fehler sollte bedeutsame Folgen haben.
Das Bomberteam wurde vom Flughafen in eine nahe Polizeiwache gebracht. Dort wurde allen die Kleidung abgenommen, zur forensischen Untersuchung auf Sprengstoffrückstände.151 Dolours Price wurde nackt fotografiert.152 Alle bekamen Gefängniskleidung, aber nicht alle nahmen sie an. Die Price-Schwestern und ein paar andere lehnten sie ab.153 Aus Prinzip: Republikaner betrachten sich nicht als Kriminelle, sondern als gefangen genommene Soldaten einer rechtmäßigen Armee — als politische Häftlinge. Und die ziehen nun mal keine Gefängnisklamotten für gewöhnliche Kriminelle an. Dolours und Marian schlangen sich derbe Gefängnisdecken um. Hugh Feeney wies sogar die Decke zurück und saß splitternackt in seiner Zelle. Die Gefangenen wurden streng getrennt, aber einmal liefen sich Dolours und Marian in einem Verhörraum über den Weg, und Dolours zischte ihrer Schwester zu: »Sag kein Wort.«154