Thomas Valliday war Häftling in Long Kesh und hatte einen Job.1 Er durfte mit einem Müllwagen durch das ganze Lager fahren und Abfälle einsammeln und aufladen. Das Leben im Gefängnis schrumpft zusammen auf die alltäglichen, immer gleichen Routinen, und sein Job war keine Ausnahme: die Tour abfahren, den Dreck einsammeln und auf den Wagen werfen. Manchmal fand er neben dem üblichen Müll eine verdreckte oder kaputte alte Matratze. Die Häftlinge stellten alles vor ihre »Käfige«. Sie lebten in Nissenhütten, Halbröhren hinter Stacheldrahtzäunen. Eines Samstagmorgens im Dezember 1973 hielt er mit dem Müllwagen an einem Käfig, sah eine zusammengerollte Matratze und wollte sie mitnehmen. Sie war erheblich schwerer als üblich.2 Er umschlang sie mit beiden Armen und hievte sie auf die Ladefläche. Und er ließ sich nicht anmerken, dass die scheinbar normale Matratze so viel wog wie ein kleiner Mann, denn er wusste, wer darin steckte wie ein Würstchen im Hotdog: Brendan Hughes.3

Hughes hatte der Polizei schon bei seiner Festnahme versprochen, aus dem Gefängnis zu fliehen, und das war kein Witz, sondern feste Absicht. Er kam im Sommer 1972 nach Long Kesh und brütete keine sechsunddreißig Stunden später mit ein paar Genossen über die besten Fluchtwege.4 Gerry Adams fand, Hughes solle als Erster fliehen, noch vor ihm selbst, denn in der aktuellen Kampfphase kam es auf Operationen an, und der Kopf für Operationen war Hughes.5 Aber bisher hatten erst zwei Insassen einen Ausbruch geschafft, Long Kesh war mit Stacheldraht umzäunt und von Soldaten umstellt, und bei beiden war es kein echter »Ausbruch« gewesen. Der erste war Dolours Price’ Kindheitsfreund Francie McGuigan, einer der im Geheimlager der Armee gefolterten »Hooded Men«. McGuigan hatte sich eines Februartags 1972 geliehene schwarze Gewänder übergeworfen, unter eine Besucherdelegation von Priestern gemischt und war einfach mit ihnen aus dem Tor spaziert.6 Achtzehn Monate später war John Francis Green die Flucht mit demselben Trick gelungen. (Sein Bruder, ein echter Priester, hatte ihn besucht und die Kleider mit ihm getauscht.)7

Es war also wohl davon auszugehen, dass alle Kirchenmänner beim Verlassen von Long Kesh genau unter die Lupe genommen würden, Hughes brauchte eine andere Methode. Irgendjemand kam auf die Idee, unter einem Müllwagen aus dem Lager zu fahren.8 Ein Anklang an die Odyssee von Homer, wo sich Odysseus und seine Männer an die Bäuche der Schafe klammern und so der Höhle des Zyklopen entkommen.9 Die Häftlinge fabrizierten eine Art Geschirr, mit dem Hughes sich unter den Wagen hängen konnte. Er klammerte sich testweise unter das obere Etagenbett. Aber er war noch geschwächt von den Prügeln während der Verhöre, niemand wusste, ob er die Kraft hatte, sich bis hinter den Außenzaun an dem Müllwagen festzuhalten.10 Schließlich wurde der Plan fallen gelassen. Für Hughes war es eine Enttäuschung, die sich aber bald als Riesenglück erwies: Mark Graham, ein anderer Gefangener, versuchte ein paar Monate später die Flucht auf die Weise.11 Als der Wagen über eine Rampe fuhr, brach ihm die Wirbelsäule, er war lebenslänglich gelähmt.

Ende Oktober hatten die Provos ihren bislang kühnsten Ausbruch hingelegt. Im Mountjoy-Gefängnis in Dublin, wo der IRA-Chef Seamus Twomey einsaß, war plötzlich ein gekidnappter Hubschrauber am Himmel aufgetaucht und hatte gerade so lange im Innenhof aufgesetzt, dass Twomey und ein paar Genossen an Bord springen konnten.12 Das Beispiel machte Hughes und den Mitgefangenen wieder Mut, aber klar war auch, dass die Sicherheitsmaßnahmen verschärft würden. Die Provos wussten, dass der Müllwagen zweimal täglich seine Runden drehte und danach aus dem Lager raus und zur Müllkippe fuhr.13 Sie hatten auch erfahren, dass die Wärter, bevor sie den Müllwagen passieren ließen, mit Spießen in jeden Sack bohrten, damit sich niemand darin verstecken konnte. Aber die IRA hatte in Long Kesh auch ihr eigenes Spitzelnetz aufgezogen, und laut ihren Informanten sparten sich die Wärter das Bohren in letzter Zeit oft.14

Am fraglichen Tag krabbelte Hughes in eine alte Matratze, ließ sich einwickeln und von Thomas Valliday auf den Müllwagen bugsieren.15 Valliday drehte weiter seine Runde durchs Lager, hielt regelmäßig an, und allmählich verschwand Hughes unter Müllsäcken. Jetzt musste er nur noch warten. Nur, die billige Matratze hatte eine Sägemehlfüllung, das faserige, juckende, luftabschnürende Zeug war überall. Hughes hatte eine Apfelsine dabei, die er bei Durst und Zuckermangel auslutschen konnte. Er klemmte sie sich in den Mund, aber jetzt drangen ihm die Sägespäne in die Nase und machten das Atmen schwer.16 Der Müllwagen klapperte gemächlich das ganze Lager ab.17 Dann hielt er plötzlich, und Hughes hörte Valliday flüstern.18 Sie dürften noch nicht aus dem Lager. Er müsse noch mehr Müll sammeln. Er riet Hughes herauszukommen und sich zurück in seinen Käfig zu schleichen. Um vier Uhr war Appell.19 Wenn Hughes da fehlte, würden die Wachen das ganze Gelände abriegeln und Alarm auslösen.

Hughes rührte sich nicht. Valliday war weg, aber er war gut versteckt, und irgendwann musste der Müllwagen ja rausfahren. Er konnte zwar nicht sehen, was um ihn herum vorging, aber jetzt hörte er den unverkennbaren Akzent britischer Soldaten. Der Wagen stand auf dem Teil des Geländes mit den Soldatenunterkünften.20 Valliday hatte ihn nicht durch die Pforten zur Freiheit gebracht, sondern direkt in den gefährlichsten Bereich des Lagers. Er hatte Sägemehl in den Augen,sie waren so gereizt, dass er sie beide nicht aufbekam.21 Er lag nur still da und hoffte, dass ihn niemand entdeckte.22

Nach einer halben Ewigkeit setzte sich der Wagen wieder in Bewegung und fuhr in Richtung Ausgang. Hughes wusste, was jetzt kam: Der Wagen musste über zwei Rampen, dann würde er nach rechts abbiegen und aus Long Kesh hinausfahren. Aber kurz vor den Rampen hielt er wieder an. Hughes rührte sich nicht. Plötzlich fuhr ein Riesenspieß durch den Müll, gleich links neben ihm.23

Sein Geheimdienst hatte offenbar versagt. Er lag da wie versteinert. Dann bohrte sich ein Spieß in die Müllsäcke rechts von ihm. Er war drauf und dran, einfach aufzustehen und loszuschreien, sich einfach zu ergeben, denn weiter still dazuliegen wäre Selbstmord. Noch ein Stich, und er wäre tot. Er malte sich aus, wie der Spieß ihn durchbohrte.24 Was für eine lächerliche Art zu sterben, harpuniert auf der Ladefläche eines Müllwagens, mit Sägemehl paniert und einer Apfelsine im Mund. Er hatte zwei kleine Kinder in Belfast.25 Das hier war Wahnsinn. Er war drauf und dran, sich den Männern über ihm zu erkennen zu geben, da fuhr der Lkw mit einem Rumpeln wieder an.26 Passierte die Sicherheitsrampe. Passierte auch die zweite. Dann endlich konnte Hughes spüren, dass er nach rechts bog, und wusste, sie waren draußen.

Jetzt war der Müllwagen auf offener Straße, und Hughes zog ein kleines Taschenmesser hervor, um sich aus der Matratze herauszuschneiden. Aber es versagte den Dienst, die Klinge verbog sich. Er kämpfte sich mit Händen und Füßen aus der Matratze und trat ein paar Müllsäcke auf die Straße. Er bekam Angst, dass der Fahrer es im Rückspiegel gesehen hatte, aber der Wagen fuhr weiter.

Irgendwo am Ende der Hillsborough Road gab es erst eine scharfe Rechts- und danach eine scharfe Linkskurve. Hughes kannte die Stelle und fand sie optimal für einen unbemerkten Absprung. Er machte einen Satz, genau zwischen den beiden Kurven. Er sah, dass der Müllwagen wieder beschleunigte, und war noch unsicher, ob der Fahrer etwas mitbekommen hatte. Aber er fuhr weiter Richtung Müllkippe.

Dreckverkrustet und mit einem zugeschwollenen Auge stand Hughes an der Straße. Gerry Adams hatte ein Auto organisiert, das ihn aufsammeln sollte, aber der Müllwagen war viel zu lange in Long Kesh herumgekurvt und Hughes offenbar zu spät zum Rendezvous gekommen, es war kein Wagen da. Und das hier war auch keine Stadt, in der man wie die Glorreichen Sieben nach der Flucht von der Maidstone einfach in den nächsten Pub gehen und darauf zählen konnte, dass einem die Gäste Kleider zum Umziehen und einen Fluchtwagen spendieren. Im Gegenteil, er stand auf loyalistischem Territorium. Hier war nicht nur Feindesland, er war auch längst nicht weit genug weg von Long Kesh. Wenn sie erst mal entdeckt hatten, dass er beim Appell fehlte, würde die ganze Umgebung von Soldaten wimmeln. Er musste in die Republik. In Nordirland war er jetzt der meistgesuchte Mann, und viel Zeit hatte er nicht.

*

Als die Bombe am Old Bailey hochging, saß Michael Mansfield in der Bibliothek im obersten Stock.27 Durch die Straßen unten hallte ein donnernder Knall, er saß oben im Glasscherbenregen.28 Mansfield war zweiunddreißig, ein ehrgeiziger, leicht exaltierter englischer Anwalt mit wuscheligen Haaren und sonorer Stimme.29 Er hatte erst vor Kurzem seinen ersten großen juristischen Triumph im Old Bailey eingefahren, beim Prozess gegen die sogenannte Angry Brigade, ein anarchistisches britisches Eigengewächs, dass die Weltrevolution mit Bomben in den Häusern konservativer Minister zu befeuern trachtete.30 Mansfields Klientin, die junge Angela Weir, wurde freigesprochen. Die Anklage gegen sie beruhte auf handschriftlichen Beweisen, Mansfield brachte die Glaubwürdigkeit der gerichtlichen Gutachter durch eigene Untersuchungen gründlich ins Wanken. Er hatte sich als Student politisch radikalisiert, ihn reizten alle Fälle, in denen komplizierte Fragen verhandelt wurden, zum Beispiel über das Wesen von autoritärer Macht und Widerstand.31 Vom Honorar aus dem Angry-Brigade-Prozess hatte er sich einen Sportwagen gekauft — einen kleinen gebrauchten Triumph 2000.32

Wegen des Verkehrsstreiks war er morgens damit zur Arbeit gefahren. Er war spät dran gewesen und besorgt, keinen Parkplatz zu finden, aber dann hatte er gesehen, dass man überall parken durfte, und auf einen Platz direkt vor dem Haupteingang des Old Bailey gehofft. Und Glück gehabt: Es gab noch eine Lücke, nicht weit von einem grünen Ford Cortina.33

Mansfield war bei der Explosion nicht schwer verletzt worden, aber sie hatte seinen Triumph total auseinandergerissen.34 Bald darauf bekam der die Anfrage, ausgerechnet die Leute zu verteidigen, die sein Auto in die Luft gejagt hatten, die beiden jungen irischen Bombenlegerinnen Dolours und Marian Price. Risikofreudige Strafverteidiger übernehmen traditionell gern berüchtigte Fälle, nicht zuletzt, weil sie sich damit exponieren und ihr juristisches Profil schärfen können. Aber die Bombenanschläge der IRA wurden als so demütigend für London empfunden, dass viele angesehene Anwälte aus Prinzip kein Mandat übernahmen.35

Mansfield schon. Er war sehr neugierig auf die Schwestern und auf Anhieb fasziniert von ihrer Schönheit und ihrer Hingabe an die Sache.36 Sie saßen, die Knie hochgezogen und umklammert, auf Plastikstühlen und erzählten, wie schlecht Katholiken in Nordirland behandelt wurden, berichteten ihm von den Internierungen, vom Bloody Sunday. Sie schilderten, wie sie auf der Burntollet Bridge vom loyalistischen Mob überfallen worden waren.37 Mansfield war nicht viel älter als sie. Er war politisch radikal und stolz darauf, übersetzte seine Einstellungen aber bewusst in die gänzlich unrevolutionäre Sphäre des Rechts. Er fand es faszinierend, dass sich die Price-Schwestern für ein anderes Leben entschieden hatten, für ein wahrhaftes Leben »am Abgrund«.38

*

Dolours und Marian Price sowie die acht anderen Festgenommenen wurden angeklagt wegen Verschwörung zur Herbeiführung einer »Explosion, die dem Wesen nach wahrscheinlich Leben gefährdet«.39 Eigentlich war das Old Bailey genau der passende Ort für einen solchen Prozess. Aber das Gebäude wurde noch instand gesetzt, und die Regierung wünschte ein schnelles Verfahren.40 Außerdem könnte es als Verfahrensfehler ausgelegt werden, die Verhandlungen in dem Gericht zu führen, dessen Zerstörung die Angeklagten angestrebt haben sollten. Deshalb wurde der Prozess ins Winchester Castle verlegt und im Herbst 1973 im dortigen Rittersaal eröffnet, einem imposanten Raum aus dem dreizehnten Jahrhundert mit mittelalterlicher Steinverkleidung, Marmorsäulen und Bleiglasfenstern. Genau in diesem Saal war 1603 Sir Walter Raleigh wegen der Beteiligung am Sturz von König James I. des Hochverrats schuldig gesprochen worden.41 An einer Stirnwand hing eine riesengroße Rosette aus Eichenholz, eine Replik des Tisches von König Artus’ Tafelrunde, in der Mitte die Tudor-Rose mit grünen Strahlen.42

Auf dem Weg zum Winchester Castle sangen Dolours, Marian und die anderen Angeklagten immer Rebellenlieder.43 Sie wurden an jedem Verhandlungstag morgens im Gefangenentransporter hergebracht und von einem Konvoi aus Motorrädern und Polizeifahrzeugen eskortiert.44 Die Bombenanschläge hatten enorm viel Hysterie erzeugt, die Verhandlungen waren geprägt von einem regelrechten Sicherheitstheater.45 Zum Schutz vor Autobomben war in der gesamten Umgebung tagsüber das Parken verboten. Auf den umliegenden Dächern bezogen Präzisionsschützen Posten.46 (Was wohl vernünftig war: Wie sich später herausstellte, gab es Pläne der Republikaner, gegenüber dem Gefängnis, in dem die Häftlinge einsaßen, ein Haus zu kaufen, einen Tunnel unter der Straße bis zum Zellenblock zu graben und sie rauszuholen.47 Sie wurden fallen gelassen, weil sich die Hausbesitzerin die Sache noch einmal überlegen wollte, aus sentimentalen Gründen.) Immer wenn der Gefangenentransporter an den schwer bewaffneten Wachen vorbei auf das Gelände fuhr, zeigten Dolours und Marian den Zuschauern draußen das Victory-Zeichen.48

Der Prozess war ein aufsehenerregendes Mammutereignis. Vanessa Redgrave,49 berühmt aus dem Film Blow Up, bot Kaution an und stellte ihr Haus in West Hampstead zur Verfügung, falls jemand der Angeklagten eine Unterkunft brauchte. (Niemand von den Bombenlegern kam in den Genuss einer Haftverschonung und ihres großzügigen Angebots.) Die englische Öffentlichkeit und die Presse waren vor allem auf Dolours und Marian fixiert.50 Sie wurden als »Terrorschwestern« tituliert und als brandgefährlich geschildert. Die Times erklärte Dolours mit ihrer »Begeisterung für das Konzept einer gewaltsamen Revolution und ihrer Sympathie für die Ziele von Che Guevara, den Black Panthers und der palästinensischen Guerilla« zum Paradigma für politischen Radikalismus und zügellose Gegenkultur.51 Sie war die dominante der beiden Schwestern, hieß es weiter, aber »hinter Marians sanftem Timbre und der scheinbaren Unschuld steckt eine bestens mit Guerillakriegskunst vertraute 19-Jährige«, die so schnell mit einem Gewehr bei der Hand sei, dass sie den Spitznamen »ArmaLite-Witwe« verdient hatte.52 Der Daily Mirror entdeckte einen verstörenden Trend: »Die Legende, Frauen seien passive, friedliebende Geschöpfe und möchten am liebsten zu Hause bleiben und auf die Kinder aufpassen, ist mit einem Donnerhall aus Bomben und Kugeln endgültig geplatzt.« Das Boulevardblatt sah die Price-Schwestern in direkter Linie zu Leila Khaled, der palästinensischen Flugzeugentführerin, und diagnostizierte die Gewalttätigkeit solcher Frauen als eine gefährliche Nebenwirkung des Feminismus — »eine tödliche Befreiung«.53

Sir Peter Rawlinson, ein charmanter Generalstaatsanwalt mit einer wohltönenden Stimme, den die Zeitungen als den »Laurence Olivier des Gerichtssaals« beschrieben, eröffnete den Prozess im September mit der Bemerkung, dass Autobomben in Nordirland zum Alltag gehörten und nur für London etwas Neues seien.54 »Wer eine Autobombe legt, spaziert sicher von dannen«, erklärte er. »Wenn sie hochgeht, ist er meilenweit entfernt und gesund und munter.55 Es ist eine sehr feige Tat.« Dann schilderte er die furchtbaren Details jenes Tages und stellte Dolours Price als Anführerin der Gruppe heraus: »Das Mädchen spielt eine Hauptrolle in der ganzen Operation.«56

Polizeifotos von Dolours und Marian Price. Dolours wirkt glamourös und selbstbewusst, Marian überzeugt und hart.Polizeifotos von Dolours und Marian Price. Dolours wirkt glamourös und selbstbewusst, Marian überzeugt und hart.

Polizeifotos von Dolours und Marian Price

Die Schwestern blieben trotzig. Bis auf den neunzehnjährigen William McLarnon, der sich gleich am ersten Tag für schuldig erklärte, beteuerten alle ihre Unschuld.57 Dolours behauptete, sie sei erst am Vortag mit ihrer Schwester und dem gemeinsamen Freund Hugh Feeney zum Kurzurlaub nach London geflogen. Sie habe das Pseudonym Una Devlin nur benutzt, weil sie als Tochter eines bekannten Republikaners immer von der Polizei schikaniert werde und ihr die falsche Namensangabe praktisch zur zweiten Natur geworden sei.58 Die Schwestern gaben sich frech und unbekümmert, sogar frohgemut im Gerichtssaal. Als die Anklage ein Foto von Michael Mansfields zerbombtem Triumph zeigte, kicherten sie.59 (Mansfield fand das nicht so komisch und erinnerte sie daran, dass er hätte drinsitzen können.)

Der Prozess dauerte zehn Wochen, die Angeklagten machten die meiste Zeit einfach dicht. Aber es gab eine Menge Indizienbeweise, die sie mit der Tat in Verbindung brachten. Rawlinsons Plädoyer dauerte zwölf Stunden und zog sich über mehrere Tage.60 Er fasste den Ablauf der Ereignisse zusammen, die in die Bombenanschläge gemündet hatten, und erläuterte, was jedem einzelnen Angeklagten vorgeworfen wurde. Dolours hatte bei ihrer Festnahme in Heathrow eine schwarze Segeltuchtasche bei sich gehabt.61 Die Polizei fand außer dem Programmheft für das Brian-Friel-Stück und »enorm viel Make-Up« zwei Schraubendreher und einen Spiralblock.62 Ein paar Seiten darin waren vollgekritzelt, auf einer standen theologische Gedanken zur Jungfrau Maria, auf einer anderen eine Liste von Lebensmitteln samt Kalorienwert.63 Die Ermittler stellten fest, dass ein paar Seiten herausgerissen waren. Die leeren Restseiten wurden forensisch untersucht, und die Geschworenen erfuhren, was sich da wie von Geisterhand eingekerbt hatte: die Skizze einer Zeitschaltuhr für eine Bombe.64

Das war eine schwierige Wendung für die Verteidigung. Die Gutachten der Handschriftenexperten hatte Mansfield noch erfolgreich widerlegt, die Beweiskraft des Notizblocks konnte er nicht anfechten. Und noch während er mit dem Belastungsmaterial rang, tauchte ein viel bedrohlicheres Problem auf: Von den Angeklagten hatte jemand beschlossen zu kooperieren.

*

Roisin McNearney, die Belfaster Stenotypistin und Jüngste im Team, hatte bei der ersten polizeilichen Vernehmung ein paar Stunden nach den Explosionen dieselbe Geschichte wie die anderen Bombenleger erzählt und beharrlich behauptet, sie sei kein IRA-Mitglied. »Ich weiß gar nicht, was Sie meinen«, hatte sie gesagt, »ich mache hier nur Urlaub.«65

Bei den Verhören danach hatte die Fassade kleine Risse bekommen. »Ich glaube an ein vereintes Irland«, hatte sie ausgesagt, »aber ich glaube nicht an Gewalt.« Die Ermittler hatten sie weiter bearbeitet, und schließlich war sie herausgeplatzt: »Ich kann Ihnen nicht alles sagen, sonst kriege ich eine Kugel in den Kopf.«

Sie sei erst vor sechs Monaten zur IRA gegangen, gestand sie.66 Jemand sei auf sie zugekommen, als sie eines Abends im Pub patriotische Lieder mitsang, und habe gefragt, ob sie bereit sei, etwas für Irland zu tun. Sie schilderte ihre Rolle bei der Bombenoperation, beharrte aber darauf, sie sei nur ein kleines Licht ganz am Rand der Bande.67 Vor Gericht erklärte sie sich trotz des Geständnisses gegenüber der Polizei und ihrer Kooperation für unschuldig. Sie hatte nach dem Anschlag detailliert ausgesagt, aber die übrigen Angeklagten merkten erst beim Prozess, dass sie sie verraten hatte.68

Ein Freispruch wurde immer unwahrscheinlicher, aber die Stimmung auf der Anklagebank trübte das kaum. Dolours und Marian saßen während des Prozesses lächelnd am Rand der Bank und winkten ihren Sympathisanten im Zuschauerraum zu. Sie winkten und zwinkerten auch ihrem alten Freund Eamonn McCann zu, dem Aktivisten aus Derry, den sie vom Burntollet-Marsch kannten. Er saß mit ihren Eltern auf der Zuschauergalerie. Albert und Chrissie Price waren zum Prozess nach London geflogen, und McCann staunte über die kerzengerade, stolze Haltung der älteren Prices.69 Er fand ihre grimme Contenance beeindruckend, denn bestimmt litten sie sehr beim Anblick ihrer Töchter, denen die Todesstrafe drohte.

Im Gericht durften die Angeklagten eigene Kleidung tragen, und Dolours trug immer etwas Auffälliges — Hänge- und Trägerkleidchen, Pullis.70 Sie hatte schon immer einen Sinn für Auftritte, und der Prozess war unverkennbar ihre Bühne geworden.71 Auch ihre roten Haare, die zur Zeit der Bombenanschläge raspelkurz gewesen waren, wurden wieder länger.

Meistens schien sie den ganzen Prozess auf die leichte Schulter zu nehmen, aber sie konnte auch hitzige Ausbrüche hinlegen. Als Staatsanwalt Rawlinson sie fragte, ob sie hinter »den Zielen und Prinzipien« der IRA stehe, erwiderte Dolours, das könne sein, »vorausgesetzt, Sir Peter interpretiert ›Ziele und Prinzipien‹ so wie ich.« Als er sie bat, genauer zu erklären, was denn solche Ziele seien, konterte sie, ihrer Ansicht nach sei für die IRA »das langfristige Ziel die Wiedervereinigung Irlands mit voller bürgerlicher und religiöser Freiheit für alle«.72

Auf die Zwischenfrage von Richter Sebag Shaw, ob sie glaube, dass Gewalt diesem Ziel förderlich sei, erklärte sie: »Das habe ich nicht gesagt.« Sie habe über Ziele gesprochen, nicht über die Mittel, die dafür möglicherweise legitim seien. In dem Stil duellierte sie sich mit Richter und Staatsanwalt, ohne Ehrfurcht vor deren perückenbewehrter Feierlichkeit, ohne Scheu vor der erhabenen Umgebung oder der Phalanx aus Sicherheitsleuten oder der Schwere der Beschuldigung. Sie und die anderen fielen Richter Shaw immer öfter laut ins Wort, verspotteten die moralische Autorität des Gerichts, verhöhnten Zeugen und schwelgten in ihrer Verachtung für die ganze Veranstaltung.73

*

Am Tag der Urteilsverkündung im November 1972 erschien Dolours Price im grünen Pulli und mit rosa Schleife im Haar.74 Die Sicherheitsvorkehrungen waren strikt, wer ins Gebäude wollte, wurde am Eingang durchsucht.75 Fünfzehn Polizisten geleiteten die Angeklagten zu ihren Plätzen und setzten sich hinter sie.76 Michael Mansfield kam es vor, als seien die vielen Sicherheitsleute nur dazu da, »eine Atmosphäre von Schuld« zu schaffen.77 Den ganzen Prozess hindurch hatte hinter Richter Shaw unsichtbar ein Personenschützer gesessen, jetzt saß er deutlich sichtbar neben ihm auf der Richterbank.78 Es hatte mehrere Bombendrohungen in Kaufhäusern in der Umgebung gegeben, und die Zuschauergalerie des improvisierten Gerichtssaals war voller renitenter Iren, die zur Unterstützung der Angeklagten gekommen waren.79 Als die ausschließlich männlichen Geschworenen zur Urteilsverkündung eintraten, kamen vier Reihen Kriminalpolizisten in Zivil in den Saal und setzten sich hinter sie.80 Kurz bevor es losging, verriegelten die Wachen als endgültige Sicherheitsmaßnahme alle Gebäudezugänge.

Vor den Urteilssprüchen gegen die Price-Schwestern und die übrigen Angeklagten verkündete Richter Shaw den Freispruch für Roisin McNearney.81 Er wandte sich direkt an die zierliche junge Frau mit den nachgezogenen Augenbrauen, dem weißen Schal und der rosa Bluse: Er hoffe, dass sie gelernt habe, »nicht wieder bei mörderischen Unternehmungen herumzupfuschen«. Und bezogen auf ihre Entscheidung, ihre Genossen zu verraten: »Welche Gefahren Ihnen drohen, wenn Sie dieses Gericht verlassen, weiß ich nicht.«82 Während McNearney aus dem Saal geführt wurde, summten die übrigen Angeklagten unisono eine unheimliche Melodie.83 Es war der Trauermarsch aus Händels Oratorium Saul, der zum Standardrepertoire bei Beerdigungen gehört. Hugh Feeney kramte eine Münze aus der Tasche, warf sie auf McNearney und rief: »Hier, dein Blutgeld!«84 Sie lief schluchzend aus dem Gerichtssaal.85

Die übrigen Angeklagten wurden verurteilt. Danach verkündete Shaw die Höchststrafe: lebenslänglich für alle — was für fünf der Angeklagten in der Praxis zwanzig Jahre bedeutete. Für Dolours, Marian und Hugh Feeney verlängerte er das Strafmaß auf dreißig Jahre, wegen ihrer Führungsrolle. Dolours sagte laut: »Das ist ein Todesurteil.«86

Shaw schien vor der harten Strafe selbst zurückzuschrecken und kündigte an, auch den Price-Schwestern und Feeney zwanzig Jahre zu geben.87 Daraufhin machten die Angeklagten ihrem Unmut Luft.88 Shaw war verwirrt und rief zur Ruhe. »Nein!«, erwiderten beide Schwestern.

Und jetzt fingen die Angeklagten, die während des ganzen Verfahrens kein Wort über ihre Zugehörigkeit zur IRA verloren hatten, alle auf einmal an zu reden und hielten schrille politische Reden unter dem lauten Beifall von Verwandten und Freunden auf der Zuschauertribüne. »Ich stehe hier vor Ihnen als Volunteer der IRA!«, verkündete Marian Price.89 »Ich betrachte mich als Kriegsgefangene!«

»Hoch die Provisionals!«, riefen die Zuschauer.90 »Keine Kapitulation!«

»Sie dürfen die Anklagebank nicht als politische Arena verstehen«, brüllte Richter Shaw.91 »Dies ist ein Gericht!« Aber nachdem das Urteil gesprochen war, hörte niemand mehr zu.

»Der Sieg ist zum Greifen nah für die irische Nation!«, deklamierte Hugh Feeney.92 »Sie wird sich nicht beugen!«

*

Roisin McNearney wurde rasch von einem Pulk bewaffneter Wachen hinausbugsiert.93 Sie bekam eine neue Identität: einen neuen Namen, neue Papiere und die Auflage, nie mehr nach Nordirland zurückzukehren.94 Ihre Habseligkeiten wurden aus ihrem Zuhause in Andersonstown geholt, in einem Depot gelagert und sollten ihr nachgeschickt werden, sobald sie ihr neues Leben beginnen würde. »Dass sich da keiner täuscht«, erklärte einer der Provisionalchefs in Belfast, »es gibt nirgends ein Versteck für sie.«95 Aber die Provos haben sie nie erwischt. Roisin McNearney verschwand aus dem Gericht, wurde jemand anders und ward nie wieder gesehen.

Dolours und Marian Price verkündeten, bevor sie aus dem Winchester Castle abgeführt wurden: Sie würden in den Hungerstreik treten.96 Sie würden so lange die Nahrung verweigern, bis sie als politische Häftlinge anerkannt und nach Nordirland ausgeliefert würden und ihre Strafe dort verbüßen könnten.97 Beide wurden nach Brixton gebracht, in ein reines Männergefängnis. Man hielt sie für so gefährlich, dass die Unterbringung dort ausnahmsweise gerechtfertigt war. In einem Brief aus dem Gefängnis an ihre Mutter Chrissie schrieb Dolours, entweder gebe die britische Regierung der Forderung der Schwestern nach und schicke sie zum Verbüßen der Strafe nach Hause oder sie würden verhungern und ihre Leichen zum Begräbnis nach Belfast geschickt: »So oder so, zu Neujahr sind wir wieder in Nordirland.«98