In den ersten Wochen nach dem Verschwinden ihrer Mutter hatten sich die McConville-Kinder aneinander festgehalten und versucht, in ihrem Zuhause zu bleiben. Sie mussten doch da sein, wenn Jean irgendwann zurückkam. Aber schließlich hatte die Fürsorge eingegriffen, zwei Autos in die Divis Flats geschickt und die Kinder in Obhut genommen.1 Helen McConville hatte den jüngeren Geschwistern in die Autos geholfen und versprochen, sie seien nur so lange weg, »bis Mami wiederkommt«.2 Die Kinder verteilten sich auf den Sitzen, und Helen sah hoch zu den Nachbarn, die auf den Betongängen zusammenstanden und schweigend zuguckten. »Scheiß auf euch alle«, murmelte sie. Dann fuhren sie los.
Anne McConville, die Älteste, war weiter im Krankenhaus.3 Robert saß weiter im Knast, Archie war alt genug, um für sich selbst zu sorgen, und Agnes zog zu Granny McConville. Helen, Michael, Tucker, Susan, Billy und Jim wurden in die Nazareth Lounge gebracht, ein imposantes vierstöckiges Waisenhaus aus rotem Backstein am Ende einer langen kurvenreichen Auffahrt in South Belfast. Es entpuppte sich als Elendsort.4 Eine wahrhaft elende Umgebung. Viele der Kinder waren seit dem Säuglingsalter in staatlichem Gewahrsam und wirkten wie betäubt und abgestumpft gegen das Heimleben.5 Die McConville-Kinder hatten ein richtiges Zuhause gehabt. Sie waren traumatisiert vom Verschwinden ihrer Mutter und vom Tod ihres Vaters und hatten monatelang ein wildes Leben gelebt. Das Waisenhaus gehörte einem Orden strenger Nonnen, deren Sadismus legendär war.6 Ein ehemaliger Insasse bezeichnete die Anstalt als »so was wie bei Dickens«, einen beklemmenden öden Ort, an dem Prügel und harte Strafen an der Tagesordnung sind.
In dieser Zeit wurde Michael McConville zum Meisterausbrecher. Von dem Moment an, als er die Wohnung im St. Jude’s Walk verlassen musste, schmiedete er Pläne, aus der Nazareth Lounge zu türmen und nach West Belfast zurückzulaufen.7 Er war störrisch und straßengestählt — ein Kind der Troubles —, und er war zornig. Einmal, als er mit der Fürsorge zu tun hatte und jemand dort andeutete, seine Mutter habe die Kinder »im Stich gelassen«, brüllte er zurück: »Alles Lüge!«8
Als Dolours Price im März 1973 in London Bomben zündete, standen Michael und Tucker in Belfast wegen Ladendiebstahls vor Gericht. Das entschied, dass sie die Nazareth Lounge und Belfast überhaupt verlassen mussten und ins De La Salle Boys’ Home beim Dorf Kircubbin im County Down eingewiesen wurden.9 Die Fahrt war kurz, gut dreißig Kilometer, aber Michael kamen sie vor wie über hundert.10 Die Einrichtung umfasste ein in tiefgrüne Landschaft eingebettetes, umgebautes viktorianisches Herrenhaus und ein paar neuere Häuschen, in denen die Kinder untergebracht waren. Wenn man sein Leben zwischen den Belfaster Backstein- und Betonmauern verbracht hatte, fühlte sich so ein über hundert Hektar großes Anwesen weit und wild und offen an. Zum Heim gehörten eine Schule, ein Schwimmbecken, Tennisplätze und ein Fußballfeld.11 Es gab sogar einen Billardtisch.12
Laut einem ehemaligen Heimkind war Kircubbin »der reine Albtraum«.13 Eine staatliche Untersuchung deckte später auf, dass dort eine »Kultur körperlicher Gewalt« herrschte und Mönche wie Laienmitarbeiter unter dem kleinsten Vorwand zu Gewalt griffen. Kinder wurden mit Fäusten traktiert, mit Gürteln geschlagen oder bekamen einen dünnen Holzstab über die Fingerknöchel gezogen, und zwar mit solcher Wucht, dass es sich anfühlte, als würden einem die Fingerspitzen abgetrennt.14
Michael hatte Mumm und Grips, obwohl er erst elf war. Tucker war neun. In einigen älteren Kindern hatte die Missbrauchskultur schon tiefe Wurzeln geschlagen.15 Sie schikanierten die beiden McConvilles erbarmungslos. Und weil die christlichen Brüder, die das Waisenhaus betrieben, Kleidung für ihre Schützlinge immer en gros beschafften, liefen die Kinder in Sachen herum, die ihnen nicht passten — in Hemden mit viel zu kurzen Ärmeln, in voluminösen Männerhosen, die nur mit Gürteln hielten, in Gassenkinderklamotten, was erst recht den Eindruck vermittelte, das Heim sei ein Purgatorium wie aus dem Bilderbuch für Belfasts Abschaum.16 Die Kinder mussten im Heim auch arbeiten. Und manchmal wurden sie an Bauern in der Umgebung vermietet, als Leiharbeiter bei der Kartoffelernte.17
Abends, wenn alle im abgedunkelten Raum vor dem Fernseher saßen, winkten Mönche in langen Kutten bestimmte Kinder herbei und setzten sie sich auf den Schoß.18 Sexueller Missbrauch war allgegenwärtig.19 Michael ist selbst nie belästigt worden, aber er konnte, unter der Decke versteckt, sehen, wie schemenhafte Männer mit Taschenlampen nachts in den Schlafsaal kamen und schlafende Jungs aus dem Bett rissen.20
Michael und Tucker hauten ab.21 Sie empfanden es als ihre Pflicht, in Belfast zu sein, falls ihre Mutter wieder auftauchte. Aber sie wurden jedes Mal geschnappt und zurückgebracht und im Heim sofort verprügelt. Sie rissen trotzdem wieder aus, bis ihnen das Personal die Schuhe wegnahm — barfuß kämen sie nur langsam voran, selbst wenn sie es vom Heim und bis zur Landstraße schafften und nach Belfast trampen konnten.22
Möglich, dass die Behörden damals einfach keinen Schimmer hatten, welches ausbeuterische Regime in Kircubbin herrschte, vielleicht hatten sie doch eine vage Ahnung, die sie aber nicht davon abhielt, weiter Kinder dort hinzuschicken. Auch Billy und Jim wurden aus der Nazareth Lodge nach Kircubbin verlegt.23 Während der Autofahrt, entlang dem Ufer des Strangford Lough, saßen die Zwillinge auf dem Rücksitz und ahnten Schlimmes. Sie waren sieben Jahre alt und damit die Jüngsten in Kircubbin, im Grunde wurden sie den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Beide wurden von den älteren Kindern körperlich misshandelt, Billy von den Erwachsenen auch sexuell missbraucht. An irgendjemandem vom Personal konnten sie sich nicht wenden, es gab so viele Mitarbeiter, die Kinder quälten, dass das schweigend toleriert wurde. Ein früherer Insasse erklärte, die christlichen Brüder seien »eine verschworene Gemeinschaft« gewesen.24 Manche der McConville-Kinder waren so fürs Leben gezeichnet von dem, was sie in den katholischen Einrichtungen in Nordirland erlebt hatten, dass sie Angst vor Priestern überhaupt entwickelten. Noch als Erwachsene gerieten sie beim Anblick von Kuttenträgern in Panik. (Die De La Salle Brothers haben später zugegeben, dass sexueller Missbrauch in Kircubbin seinerzeit weitverbreitet war.25 Auch die Sisters of Nazareth räumten routinemäßige körperliche Misshandlung in der Nazareth Lodge ein.)
Helen McConville war zu alt, um gegen ihren Willen in Obhut genommen zu werden, aber noch nicht alt genug, die Vormundschaft über ihre Geschwister zu bekommen, also ging sie ihrer eigenen Wege und wohnte bei Archie oder bei Freunden.26 Sie jobbte in einer Firma für Leichenhemden und kellnerte.27 Sie hatte noch in der Nazareth Lodge Seamus McKendry kennengelernt. Er war in ihrem Alter und damals Lehrling in der Schreinerei des Waisenhauses. Nach der ersten kurzen Begegnung hatten sie sich aus den Augen verloren, liefen sich aber zwei Jahre später wieder über den Weg, als Helen kellnerte, und — verliebten sich. Als sie achtzehn war, heirateten sie.28
Eine Zeit lang konnte anscheinend kein Heim Michael McConville im Zaum halten. Nach dem letzten Fluchtversuch wurde er erneut verlegt, diesmal in eine »Ausbildungs«anstalt in der Nähe der Kleinstadt Newtownards.29 Die Lisnevin School war erst vor Kurzem gegen den Protest von Anwohnern als »sichere« Wohneinrichtung für Jungen eröffnet worden.30 Der Begriff »Schule« war reine Schönfärberei: Lisnevin war eine Jugendarrestanstalt für Jungen, die zu roh oder zu sturköpfig für Kircubbin und ähnliche Orte waren.31 Jetzt wohnte Michael zusammen mit anderen Serienausbrechern und einer Ansammlung von aufsässigen Jugendlichen, die wegen Einbruch, Körperverletzung und paramilitärischer Umtriebe in Gewahrsam waren. Das Hauptgebäude war ein umgebautes Herrenhaus inmitten eines einstmals prächtigen Landsitzes. Jetzt befanden sich »Isolationsräume« darin — Zellen ohne Mobiliar mit vergitterten Fenstern, Einzelhaft für missratene Kinder. Um das Grundstück herum lief ein hoher elektrischer Zaun mit einer Sirene, die losschrillte, sobald jemand abzuhauen versuchte.32
Lisnevin hatte etwas Gulagartiges, aber Michael gefiel es hier. Er witzelte später trocken, Lisvenin sei das beste Zuhause gewesen, das er je gehabt hatte.33 Der Zaun, sagten die Ausbilder gern, sollte Leute nicht ein-, sondern aussperren, und vielleicht schuf Lisnevin genau durch diese Abschottung gegen die Tragödien und den Irrsinn der Troubles genau den Raum, den Opfer wie Michael brauchten, um zu sich zu kommen und wieder gesund zu werden. Die Anstalt war nicht konfessionsgebunden, es gab auch regelmäßig Scharmützel zwischen katholischen und protestantischen Kids.34 Aber Michael hielt sich aus allem raus. Er lernte eine Nonne kennen, die ihm wohlgesinnt war und auf ihn aufpasste. Sister Frances freundete sich auch mit seinen Geschwistern an und schickte ihnen noch Jahre später, obwohl sie längst in Amerika lebte, immer Weihnachtskarten mit einem gefalteten Dollar drin.35 Es war eine kleine Geste, aber den mutterlosen McConvilles bedeutete sie die Welt.
Michael durfte übers Wochenende raus, eine Art Freigang wie im Gefängnis, und fuhr dann immer zu Archie oder Helen nach Belfast. Darüber, was mit ihrer Mutter passiert war, sprachen sie dabei nie.36 Es war zu schmerzhaft. Aber das familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl ließ langsam nach. Immer öfter schlugen sie sich allein durch, jeder für sich auf einem gnadenlosen Terrain. Michael verließ Lisnevin mit sechzehn und machte sich auf die Suche nach einem Job und einem Ort zum Leben — nach einem Leben überhaupt. Er hatte fast ein Drittel seines Lebens in Anstalten verbracht. Aber so war es nun mal: Mit sechzehn schickten sie einen raus. Sie kümmerten sich kaum darum, einen auf die abrupte Befreiung vorzubereiten. Niemand brachte einem bei, wie man eine Wohnung mietet oder einen Job findet oder Eier kocht. Sie machten einfach die Tür auf.
*
Nachdem seine Tarnung aufgeflogen war, kam Brendan Hughes wieder nach Long Kesh, und Gerry Adams saß immer noch dort ein. Er hatte zwei Ausbruchsversuche gemacht.37 Aber er war taktisch nicht so versiert wie Hughes, er war erwischt worden und hatte Haftverlängerung bekommen. Er hatte sich in Long Kesh eingelebt. Verglichen mit dem Leben draußen — ständig auf der Flucht, jede Nacht in einem anderen Bett, bei jedem Türklopfen Angst, immer in der Ungewissheit, auf der Straße erkannt und auf der Stelle erschossen zu werden — waren die berechenbaren Routinen des Gefängnislebens geradezu entspannend.38 Die Häftlinge wohnten in Nissenhütten, die Drahtzäune drum herum wurden »Käfige« genannt und waren nummeriert. Hughes und Adams teilten sich Käfig 11.39 Die beiden Revolutionäre hatten sich schon vor der Haft nahegestanden, das intime Zusammenleben auf engem Raum machte ihre Bindung noch enger.40 Die Hütte war zugig und spartanisch, der kalte Wind fegte durch das ganze Lager. Im Winter zogen sie sich Socken über die Hände, um sich warm zu halten.41
Sie bildeten sich in endlosen Gesprächen weiter. Adams hatte immer eine akademische Ader gehabt, hier spornte er alle um sich herum an, ihren Verstand zu schärfen. Die Gefangenen organisierten Vorträge und Diskussionsrunden.42 Sie trafen sich am »Draht« — an den Zäunen zwischen den Parzellen — und diskutierten über Politik, Geschichte und die neuesten Nachrichten vom Krieg draußen. Ein jugendlich frischer, eigenwilliger IRA-Mann organisierte Kulturseminare. Er schrieb Gedichte und wurde bald offizieller Pressesprecher der republikanischen Gefangenen. Er hieß Bobby Sands. Long Kesh, bemerkte Adams später, fühlte sich ein bisschen an wie »unser Elfenbeinturm hinter Stacheldraht«.43 Bei Gesprächen war Adams witzig, seine bohrende Intelligenz war mitreißend. Aber bei aller Geselligkeit — gewisse Seiten seiner Persönlichkeit behielt er für sich. Hughes definierte sich inzwischen nicht mehr nur als nicht religiös, sondern als antireligiös. Adams dagegen war im Stillen zutiefst katholisch. Hughes las abends Reden von Fidel Castro, Adams betete den Rosenkranz.44
Mitte der 1970er-Jahre erkannte Adams ein Dilemma. Als sich die Provisionals 1969 formiert und angefangen hatten, den Kampf direkt ins unionistische Establishment zu tragen, war man von der strategischen These ausgegangen, mit einem wütenden finalen Schlag die Briten ins Meer treiben zu können. Darauf beruhte sowohl das rasante Tempo der Operationen in den Anfangsjahren als auch die hohe Moral, die die Rekrutierung vorantrieb und junge Männer wachrüttelte. Inzwischen ging der Konflikt ins sechste Jahr, und die Dinge schienen nicht mehr ganz so einfach.45 Nach all den Jahren der Gewalt, die oft genau die Bürger mit voller Wucht traf, die die IRA zu repräsentieren behauptete, ließ die öffentliche Sympathie für die Provos nach. Gleichzeitig schienen sich die Briten auf einen unbegrenzt langen Konflikt einzurichten. Long Kesh bekam zum Beispiel eine Reihe neuer Anlagen, wie Adams und Hughes sehen konnten, wenn sie sich mit ihren Untergebenen zu Gesprächen am Zaun trafen: Die sogenannten H-Blocks würden genug Platz für noch viel mehr Paramilitärs bieten.
Adams Vater Gerry sen., auch er ein IRA-Mann, war während der 1940er-Jahre bei einer Kampagne dabei gewesen, die exakt zur langen republikanischen Geschichte des noblen Scheiterns passte. Als Gerry jun. aufwuchs, hockten immer Veteranen aus früheren Kämpfen im Felons Club. Sein Vater hatte den Verein mitgegründet, hier tranken Männer wie Albert Price und erzählten Geschichten vom Krieg und sinnierten, was alles hätte sein können. Es war fast, als ob »ihnen Niederlagen besser ständen als Siege«, formulierte ein Historiker, »es gab so ein Gefühl, dass der irische Republikanismus erst durch Unterdrückung und eine damit einhergehende Exklusivität der Isolation gedeiht.«46 In den 1970er-Jahren erklärten die Provos in jedem Januar gebetsmühlenartig, dies sei das Jahr, in dem sie die Briten ein für alle Mal verjagen würden. Leute aus Adams’ Generation, die den Fall von Saigon mit angesehen hatten, hielten den jähen Sturz eines Regimes für ohne Weiteres machbar.47 Aber nach ein paar Jahren und Strömen von vergossenem Blut klangen die Januarerklärungen eher wie Wahnvorstellungen. Das Bild vom ewigen republikanischen Scheitern hatte eindeutig etwas von Untergangsromantik und die archetypische Vergeblichkeit etwas Poetisches. Aber Gerry Adams war kein Romantiker.
Diesmal, erklärte er seinen Leuten, muss der Kampf zu etwas führen. Diese Generation irischer Republikaner wird den Stab nicht einfach an die nächste weiterreichen, sie muss den Wandel in der eigenen Lebenszeit erzwingen.48 Trotzdem argumentierte er auch diesmal, dass es naiv wäre, unmittelbare Erfolge zu erwarten. Die republikanische Bewegung solle sich vielmehr auf etwas einstellen, das später als »der lange Krieg« bekannt wurde.49 Den Leuten nicht länger weismachen, der Sieg sei in einem Jahr zu haben. Lieber die Ressourcen gut aufstellen und für einen Kampf planen, der sehr viel länger dauern könnte.
Das war keine leichte Ansage. Die Fußtruppen der Provos hatten sich von Loyalisten schlagen, von der Armee erschießen und von der Polizei foltern lassen müssen. Sie hatten ihre Familie verlassen und waren untergetaucht, und jetzt saßen sie in Long Kesh, gemeinsam mit Adams und Hughes. Die Botschaft: »Wenn ihr jetzt noch ein bisschen härter kämpft, ist bald alles vorbei«, hätten sie sofort geschluckt. Etwas ganz anderes war der Aufruf: »Gewöhnt euch schon mal dran, dieser Kampf ist nicht mit unserer nächsten großen Offensive erledigt. Er könnte Jahre dauern. Sogar Jahrzehnte.«
Adams änderte auch subtil die Sprache, in der er den jungen IRA- Männern am Zaun erklärte, was Siegen eigentlich bedeutete.50 Es war wichtig, diesen langen Krieg zu führen, aber ebenso wichtig war zu begreifen, dass er sehr wahrscheinlich nicht allein mit einem militärischen Triumph beendet werde, sondern durch alle möglichen politischen Abmachungen. Der bewaffnete Kampf ist nur Mittel zum Zweck, sagte er. Nicht der Zweck selbst.
»Ihr seid Politiker«, sagte er.
»Sind wir doch gar nicht. Wir sind die Armee«, entgegneten sie.
»Nein, ihr müsst hier drin in Long Kesh euer Bewusstsein entwickeln«, beharrte Adams. »Politik ist wichtig.«
Hier drin genoss Adams Respekt und Loyalität, aber er wollte seine Botschaft auch an die kämpfenden Volunteers in Belfast und Derry bringen. Deshalb schrieb er 1975 eine Artikelserie für die Republican News, das Propagandablatt der Bewegung.51 Er schrieb nicht als Gerry Adams, denn Mitglied der IRA zu sein war illegal, sondern unter dem Pseudonym »Brownie«. War ein Text fertig, wurde er nach draußen geschmuggelt. Geheime Dokumente — »Kassiber« — gingen regelmäßig hinaus und hinein. Freunde oder Ehefrauen bekamen Memos und Briefe in winziger Handschrift auf Zigarettenpapier zugesteckt.52 Auf die Weise stand die IRA-Kommandostruktur in Long Kesh fast durchgängig in Kontakt mit dem Pendant draußen.
Herausgeber der Republican News war Danny Morrison, ein Agitator mit Babygesicht.53 Manche Brownie-Kolumnen waren heiter und lebten von Adams’ trockenem Witz. Andere waren gefühlig, die Sentimentalität klang allerdings eher kalkuliert als echt. Oft sollten sie die Menschen draußen vor allem aufklären, unter welchen Bedingungen die Gefangenen lebten. Adams nutzte die Kolumnen aber auch zur Klärung seiner zukünftigen Kriegsphilosophie.54 Er gab die Entwürfe vor der Veröffentlichung oft Brendan Hughes zum Gegenlesen. Aber Hughes hatte nie einen Hang zum Analytischen gehabt. Er musste manchen Text dreimal lesen, um zu begreifen, worauf Adams hinauswollte.
Adams kam 1977 frei. An seinem letzten Tag trottete er mit Hughes im Käfig herum und redete über Strategie.55 Er war zu der Überzeugung gelangt, dass Sinn Féin, das politische Pendant zur IRA, mehr »im Tandem« mit den bewaffneten Kräften operieren sollte. Er fand auch, dass die Provos umstrukturiert werden müssten. Die IRA hatte immer den hierarchischen Aufbau der britischen Armee nachgeahmt. Adams war überzeugt, dass sich die Provos neu erfinden und die Zellenstruktur mancher lateinamerikanischer Paramilitärs übernehmen sollten.56 Dadurch wären sie besser geschützt: Falls einer ihrer bewaffneten Kämpfer bei einem Verhör umgedreht wurde, kannte er nur die Verbindungsleute seiner Zelle, aber nicht die Kommandoebene. Adams schlug eine umfassende Reorganisation vor. Sie war die Blaupause für eine Struktur, mit der die IRA den langen Krieg bestehen könnte. An jenem letzten Tag in Long Kesh umarmte er Hughes, bevor er eine braune Papiertüte mit seinen Habseligkeiten nahm und zum Tor ging.57 Hughes habe den angenehmeren Job von beiden, witzelte er, er dürfe weiter nur den Laden in Long Kesh unter Kontrolle halten.58 Er selbst sei jetzt zwar ein freier Mann, aber er habe die viel beängstigendere Aufgabe, die IRA neu zu erfinden.
*
In Wirklichkeit war Hughes’ Job alles andere als leicht. Die Internierungspraxis wurde 1975 offiziell beendet.59 Von da an sperrte man Paramilitärs nicht mehr auf unbestimmte Zeit als politische Gefangene weg, sondern behandelte sie wie gewöhnliche Kriminelle.60 Das klang nach purer Semantik, nach einer schlichten Frage der Etikettierung, aber es zielte auf den Kern republikanischer Identität. Die IRA-Volunteers als Kriminelle zu bezeichnen, heißt, die Grundlage, auf der sie überhaupt zu den Waffen gegriffen hatte, zu delegitimieren. Auch wenn sich die Regierung in London selbst trotz Bomben und Blutvergießen stur weigerte, die Troubles als Krieg zu bezeichnen — für die IRA waren Hughes und Genossen Soldaten und hatten bei der Festnahme wie Kriegsgefangene behandelt zu werden. Die Internierungspraxis war problematisch gewesen, man konnte ohne Grund verhaftet und ohne Prozess jahrelang weggesperrt werden. Aber Internierten war es grundsätzlich erlaubt, hinter Gittern die eigene Kleidung zu tragen und freien Umgang mit anderen Paramilitärs zu pflegen. Nach dem Ende der Internierung saß jeder wegen paramilitärischer Aktivitäten Verurteilte in einer der Einzelzellen des neu gebauten H-Blocks von Long Kesh. Und jeder bekam eine Gefängnisuniform gestellt, egal, ob IRA-Volunteer oder gewöhnlicher Dieb — die Uniform war dieselbe.61
Im Herbst 1976 traten die republikanischen Häftlinge eine Revolte los, verweigerten die Gefängniskleidung und begannen den sogenannten Deckenprotest, das heißt, sie wickelten sich nackt in Decken, so wie Dolours und Marian Price nach ihrer Festnahme in London.62 Sie sangen auch ein Protestliedchen:
Häftlingsfetzen trag ich nicht,
Still Zeit absitzen tu ich nicht,
Bloß damit Britannien
Irlands Kampf abtun kann
Als achthundert Jahre Verbrechen.63
Sie verlangten einen »Sonderstatus«, der sie praktisch als Kriegsgefangene einstufte.64 Er wurde verweigert. Die Beziehungen zwischen Häftlingen und Wachpersonal in Long Kesh verschlechterten sich, und es begann eine Eskalationsspirale gegenseitiger Zermürbung.65 Die Protestierer verweigerten die Kleidung, kamen aber anfangs noch aus ihren Zellen, um zu duschen und auf die Toilette zu gehen. Die von ihrer Renitenz genervten Wärter verprügelten sie manchmal auf dem Weg und gaben ihnen keine Handtücher zum Abtrocknen und Sich-Bedecken. Folglich weigerten sich die Protestierer, ihre Zellen zu verlassen.66 Die Wärter mussten Zelle für Zelle Nachttöpfe einsammeln und entleeren. Dann gingen die Häftlinge dazu über, die Töpfe umzukippen, und die Pisse lief unter den Zellentüren durch auf den Korridor. Aus dem Deckenprotest war erst ein »Nichtwasch-Protest« und dann ein »Dreckprotest« geworden.67 Jetzt schwappte Urin in Mengen durch das Gefängnis und musste von den Wärtern beseitigt werden. Blieb noch das Problem, was mit der Scheiße passieren sollte. Hughes, der Kommandeur der Gefangenen, löste es mit dem Vorschlag: An die Wände schmieren.68
Hughes und seine Männer waren nackt und verdreckt, hatten wilde Bärte und verfilzte lange Mähnen, und jetzt bemalten sie auch noch die Gefängniswände mit den eigenen Exkrementen und machten daraus Van-Gogh-Monde oder irre Muster.69 Der ganze Ort bekam einen Hauch von Irrenhaus. Als auch noch Madenbefall auftrat und ernsthaft Krankheiten auszubrechen drohten, platzte jeweils ein Trupp screws in eine besudelte Zelle, holte den dürren Häftling raus und spritzte ihn mit Schläuchen ab, ein anderer machte sich gleichzeitig mit Wasser und Desinfektionsmitteln an den dreckverkrusteten Raum. Aber auch die saubere Zelle brachte nicht viel.70 Ein einziger Stoffwechselzyklus, und der Insasse hatte die Mittel, sie wieder zu versauen. Ein Priester, der das Gefängnis inspizierte, verglich die Männer mit »Leuten, die in den Slums von Kalkutta in der Kanalisation leben«.
Auf den ersten Blick wirkte die ganze Quälerei grotesk komisch — wie ein avantgardistisches Experiment des absurden Theaters —, aber dahinter steckte etwas Altbekanntes: das nächste politische Hazardspiel. Was die Gefangenen forderten, war relativ schlicht. Sie wollten keine Knastuniform tragen müssen, sich frei mit anderen Häftlingen austauschen und Post bekommen dürfen. Aber der Gegner schien mit jeder Eskalationsstufe nur noch härter und entschlossener zu werden. Wer würde als Erster weichen?
*
Adams hielt, auch als er nicht mehr im Gefängnis saß, engen Kontakt über Kassiber zu Hughes.71 Er strukturierte die Provos um, verlegte das Gravitationszentrum weg von Dublin und schuf ein Northern Command.72 Und er vertrat immer deutlicher seine Ansicht, dass der lange Krieg nur zu gewinnen war, wenn er eine politische Dimension bekam. »Wir können auf militärischen Siegen der IRA keine Republik aufbauen«, erklärte er 1980 bei einer Veranstaltung.73 »Wir müssen, genau wie die Imperialisten, erkennen, dass Sieg allein mit militärischen Mitteln unmöglich ist.«
Es war ein Plädoyer für eine parallel zum bewaffneten Kampf laufende politische Bewegung, aber keineswegs eine Absage an die Gewalt.74 In der Donegal Bay, County Sligo, explodierte im August 1979 eine Bombe auf einem Fischerboot.75 Es gehörte Lord Louis Mountbatten, dem letzten Vizekönig von Indien und Cousin der Queen. Die Bombe war ferngesteuert, zerfetzte das Boot in streichholzgroße Splitter und tötete ihn, zwei Mitglieder seiner Familie und einen Jungen aus Enniskillen.
Im selben Jahr zog Margaret Thatcher als erste Premierministerin in die Downing Street Nr. 10. Die Chefin der Konservativen galt als grimmig entschlossen. Sie war in den East Midlands aufgewachsen, die Nazis hatten im Zweiten Weltkrieg ihre Heimatstadt Grantham bombardiert. Ihr engster Nordirland-Berater war Airey Neave, ein Falke, der schon ihren Wahlkampf gemanagt hatte.76 Neave war in deutscher Gefangenschaft gewesen und aus dem berüchtigten Kriegsgefangenlager Schloss Colditz geflohen. Thatcher hielt, wohl auch unter dem Eindruck ihrer Gespräche mit Neave, Nordirland für eine Art Sudetenland, den überwiegend von Deutschen bewohnten Teil der Tschechoslowakei, den Hitler am Vorabend des Krieges annektiert hatte. Aber selbst wenn die Katholiken in Nordirland, so wie die Sudetendeutschen, Opfer eines geografischen Zufalls waren — nach Thatchers Ansicht gab ihnen das nicht das Recht, sich abzuspalten und einem Nachbarland anzuschließen. Bei den Briefings über die haarfeinen demografischen Faktoren, die die Troubles schürten und zementierten, pflegte sie zu murmeln: »Also, ganz wie im Sudetenland.«77
Thatcher, die sich in der Irlandfrage ohnehin gern als Hardliner gab, sah sich durch ein Ereignis kurz vor ihrem Amtsantritt bestätigt. Als Airey Neave am 30. März 1979 aus dem Parkhaus im House of Commons fuhr, explodierte eine Bombe unter dem Fahrersitz und tötete ihn.78 Aber den Sprengsatz hatten nicht die Provos gelegt, sondern eine andere republikanische Gruppe, die Irish National Army, die sich auch dazu bekannte. Thatcher war erschüttert, als sie davon erfuhr, und erklärte, mit Mühe ihre legendäre Ruhe bewahrend, Neave sei »ein Krieger für die Freiheit, mutig, standhaft und aufrichtig« gewesen.79 Dieser Mord, keine zwei Monate bevor sie Premierministerin wurde, war vermutlich entscheidend für ihre kompromisslose Ablehnung des irischen Republikanismus in jeder Form.
Als Thatcher ihr Amt antrat, waren mehrere Hundert Männer in Long Kesh im Dreckstreik.80 Sie bewiesen außerordentliche Willenskraft. »Man verstieß ja gegen die ganze eigene Sozialisation, mit der man aufgewachsen war«, erinnerte sich einer.81 »Gegen alles, was man über minimale Hygiene und Benehmen gelernt hatte.« Die Provos verfolgten und töteten Justizbeamte nach Feierabend draußen, als hätten die screws nicht im Knast schon genug Spannungen.82 Die Briten lenkten trotzdem nicht ein. Für Nordirlandminister Roy Mason, der 1976 mit der Aufhebung der Internierung auch den Sonderstatus abgeschafft hatte, waren die IRA-Häftlinge »Schläger und Gangster«.83 Thatcher pflegte dieselbe Tonart: »So etwas wie politische Morde, politische Bomben oder politische Gewalt gibt es nicht«, beharrte sie.84 »Wir werden da keine Kompromisse machen. Es wird keinen politischen Sonderstatus geben.« Ihre knackige Formel wurde schnell berühmt: »Ein Verbrechen ist ein Verbrechen ist ein Verbrechen.«85
Brendan Hughes reagierte im Herbst 1980 mit einer weiteren Eskalation.86 Er kündigte einen Hungerstreik an und suchte Freiwillige. Die Kampfmoral war ungebrochen, über hundert Gefangene meldeten sich. Sieben wurden zu einem Team zusammengestellt, angeführt von Hughes: Er streikte mit, er war immer stolz darauf, von Untergebenen nichts zu verlangen, wozu er nicht selbst bereit war.87 In der letzten Oktoberwoche stellten die Männer das Essen ein. Hughes blieb wochenlang in seiner Zelle und wurde immer schwächer und zerbrechlicher, er sah mit seinen eingefallenen Wangen, dem schwarzen Zottelbart und den langen Haaren aus wie ein altertümlicher Wahrsager. Der Gefängnisarzt David Ross, der ihm freundlich gesinnt war, kam jeden Morgen mit einer Flasche frischem Quellwasser und sagte, das sei besser als das Leitungswasser im Gefängnis.88 Er setzte sich zu Hughes auf die Bettkante und erzählte ihm vom Angeln und von den Bergen und den Flüssen und Bächen.
Brendan Hughes hatte den Ruf eines Taktikers ohnegleichen, aber ganz am Anfang des Hungerstreiks beging er einen entscheidenden taktischen Fehler. Da alle sieben Männer gleichzeitig zu hungern anfingen, musste irgendwann der erste an den Rand des Todes geraten, damit wären die sechs anderen zu der Entscheidung gezwungen, den Streik abzublasen und ihn zu retten oder weiter zu streiken und ihn sterben zu lassen.89 Einer der Jüngeren war der sechsundzwanzigjährige Sean McKenna aus Newry.90 Hughes hatte ihn nicht dabeihaben wollen, aber McKenna hatte darauf bestanden. Er wurde sehr schnell krank, kam auf die Krankenstation und saß im Rollstuhl. Je länger der Streik dauerte, desto mehr bekam McKenna es mit der Angst zu tun.91 Einmal sagte er zu Hughes: »Dark, lass mich nicht sterben.« Hughes versprach es ihm.
Brendan Hughes im Hungerstreik
Kurz vor Weihnachten fiel er mehrmals ins Koma.92 Hughes sah, dass ihn Pfleger eilig auf der Trage durch den Krankenflügel schoben. Er sah auch zwei Priester mit Dr. Ross zusammenstehen.93 Wenn er jetzt nicht dazwischenging, würde der Junge sterben, und er hätte wieder sein Wort gebrochen, genau wie damals bei Seamus Wright und Kevin McKee. Andererseits, wenn er dazwischenging, wäre der Hungerstreik zu Ende — die Streikenden hätten geblinzelt und ihren Trumpf aus der Hand gegeben. Er konnte die schwärenden Leichen auf der Krankenstation förmlich riechen.94 Er nahm wahr, wie sein eigener, sich selbst verzehrender Körper roch. Schließlich rief er: »Gebt ihm was zu essen!«95 Damit war der Streik zu Ende.
Auf Anweisung des Arztes machten die Pfleger Rühreier.96 Auch Hughes aß nach dreiundfünfzig Fastentagen wieder, erholte sich langsam und nahm wieder zu. Aber er schämte sich zutiefst, dass er den Streik verpfuscht hatte.97 Die Gefangenen beschlossen fast auf der Stelle einen zweiten Streik. Diesmal sollte es eine Art Staffellauf werden, das heißt, einer fing an, der nächste folgte eine Woche später, dann der dritte eine Woche nach ihm.98 So musste es keine Kollektiventscheidung geben — jeder entschied allein für sich über Leben und Tod. Die künftig Streikenden wählten auch einen neuen Teamführer, denn Hughes war noch nicht wieder gesund. Der neue würde als erster das Essen einstellen. Es war der junge Volunteer, der das Kulturprogramm organisiert hatte — Bobby Sands.